Was brauchen jugendliche Geflüchtete heute, damit es ihnen gut geht?
Es ist schwierig da konkret zu werden. Wir von Jugendliche ohne Grenzen und beim BBZ (Beratungszentrum und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und Migrant*innen) setzen uns für Vieles ein: Es geht um Fluchtursachen, Fluchtwege und die Aufnahme bis hin zu Jugendhilfe, Beschulung, Wohnsituation und Familiennachzug. Wenn ich sagen würde, ab heute brauchen wir die Abschaffung der segregierten Beschulung, dann wäre das ungerecht gegenüber den anderen Forderungen, wie die Wohnsituation oder das Jugendliche z.B. immer noch nicht ihre Familie nachholen können, obwohl das ein Kinderrecht in der Kinderrechtskonvention ist und für ihre Entwicklung und auch für ihre Schulbildung absolut notwendig ist. Das heißt nicht, dass sich Entscheidungsträger_innen zurücklehnen und sagen können: Das braucht alles viel Zeit. Im Gegenteil: die Zeit drängt, denn irgendwann ist die Jugend vorbei. Ich habe z.B. Jugendliche in der Beratung, die wechseln fast jeden Monat ihre WG weil sie nur befristete Verträge kriegen. Die kommen gar nicht zum Lernen. Das wirkt alles ineinander.
Wie kann sich die Gesellschaft daran beteiligen?
Wir brauchen viel mehr Solidarität unter den Menschen. Gleichzeitig ist Solidarität auch ein komischer Begriff der inflationär benutzt wird. In der Regel solidarisieren sich Menschen nur mit Menschen, die ihnen sympathisch sind und darauf will ich als geflüchtete Person oder als Person of Color nicht angewiesen sein. Auch wenn ich dir nicht sympathisch bin, solltest du dich dafür einsetzen, dass Menschen zu ihren Rechten kommen und z.B. eine Wohnung kriegen. Die Gesellschaft muss sich grundsätzlich fragen, wie sie mit Geflüchteten umgeht.
Die Initiative Jugendliche ohne Grenzen leistet viel politische Überzeugungsarbeit. Wie sieht die konkret aus?
Wir führen Politiker_innengespräche, sind auf Demos und Kundgebungen, veranstalten Straßentheater, bieten in Schulen Projekttage zum Thema Flucht an etc. Jährlich veranstalten wir parallel zur Innenministerkonferenz eine Konferenz für und von jugendlichen Geflüchteten. Wir wollen die Aufmerksamkeit und die Medien auf uns zu ziehen und zeigen: Schaut her, ihr trefft euch und entscheidet über unsere Zukunft und wir sind gar nicht mit am Tisch! Ihr wart noch kein einziges Mal in einer Unterkunft, ihr hattet noch nie Angst vor der Abschiebung, ihr seid nie stinkend in die Schule gegangen, weil die Waschräume im Lager kaputt sind. Und ihr entscheidet über uns!? Wir fahren da jedes Jahr mit einem politischen Bewusstsein und einer politischen Haltung hin, dass wir Subjekte mit Rechten sind. Wir sind nicht darauf angewiesen, dass uns irgend ein_e Politiker_in ein Geschenk mit ein bisschen Bleiberecht gibt, sondern es ist unser Recht. Unser Motto ist „Wir wollen nicht ein Stück vom Kuchen, sondern die ganze Bäckerei!“ Das steht uns zu! Und dafür schulden wir niemandem Dankbarkeit. Mit diesem Bewusstsein und mit sehr viel Witz und Humor machen wir jährlich diese Konferenzen.
Wo auch der Abschiebeminister des Jahres gewählt wird.
Genau, das kommt gut an bei den Medien: Jugendliche Geflüchtete sind nicht mehr diese traurigen Wesen irgendwo am Arsch der Welt mitten im Wald, sondern sie sind frech, sie sind fordernd, sie sind da und setzen Entscheidungsträger_innen unter Druck. Sie schreiben Pressemitteilungen, rufen Pro Asyl an, klären weltweit darüber auf, wie die Deutsche Asylpolitik wirklich aussieht. Arabische, englische und französischsprachigen Medien berichten darüber.
Welche Grundsätze liegen Ihrer Arbeit zugrunde?
Unsere politische Idee ist: Wir wollen kein Bleiberecht für gut integrierte, besonders kluge, für zukünftige Pflegekräfte. Sondern wir wollen ein Bleiberecht für jeden Menschen und danach reden wir darüber, ob die Leute in die Schule gehen oder eine Ausbildung machen. Das ist ein ganz anderes politisches Bewusstsein. Wir gehen dafür in die Parlamente, machen Lobbyarbeit. Wir haben inzwischen viel erreicht. Mit dem Bundesverdienstkreuz haben wir jetzt das Go vom Bundespräsidenten weiter zu machen. Vielleicht sollte sich Horst Seehofer auch für das Bleiberecht einsetzen. Der wollte uns jahrelang abschieben und hat keine Ehrung dafür bekommen.
Unser Motto ist „Wir wollen nicht ein Stück vom Kuchen, sondern die ganze Bäckerei!“
Was erwarten Sie von der neuen Ampelkoalition?
Da kommt jetzt einiges auf uns zu. Die neue Regierung will ein Bleiberecht für Menschen ermöglichen, die seit vier Jahren mit Familie bzw. 6 Jahren ohne in einer Duldung leben – wenn sie einen Beruf haben und integrationsbereit sind. Rückführungen sollen aber auch schneller durchsetzbar werden. Die neue Bundesregierung wird nichts daran ändern, dass die Außengrenzen weiter so menschenrechtsverletzend sind. Sie werden Frontex nicht abschaffen, sie werden keine Fluchtursachen bekämpfen und die imperialistische Politik nicht abschaffen. Ich erwarte nicht Friede, Freude Eierkuchen. Ich erwarte, dass unser Kampf und unser Einsatz genauso gefragt sein werden wie in den letzten Jahren. Ich bin gespannt, worauf sie sich konkret einigen werden, aber sie können sich auf jeden Fall darauf vorbereiten, dass wir sie weiterhin begleiten und ihnen auf die Nerven gehen werden.
Sie haben schon einiges erreicht, zB. das junge Geflüchtete mit Duldung unabhängig von ihrem Herkunftsland eine aufenthaltsrechtliche Perspektive erhalten. Was war noch wichtig?
Die Frage ist: Wo wären wir heute, wenn sich Jugendliche ohne Grenzen, das BBZ, Flüchtlingsräte, Pro Asyl, Einzelpersonen, Schulen und engagierte Lehrkräfte nicht eingesetzt hätten. Heute können z.B. Geduldete aufgrund des Pre-Study Programms an der ASH Berlin studieren. Das ist nicht selbstverständlich. Dass Themen wie Flucht und Migration in der Sozialen Arbeit und im Studium so eine große Rolle spielen ist auch ein Verdienst von jahrzehntelanger Arbeit von Menschen die sich dafür eingesetzt haben. Das motiviert uns, weil wir sehen: Das was wir machen trägt Früchte, das inspiriert Menschen.
„Ich bin nicht alleine und ich bin nicht Schuld."
Haben Sie Vorbilder die Sie motivieren?
Ich bin in einem sehr politisierten Haushalt aufgewachsen. Themen wie Unterdrückung und Solidarität spielten in meiner auch religiösen Erziehung eine große Rolle. Aber auch, dass ich bestimmte Sachen nicht einfach hinnehmen muss, sondern das sie veränderbar sind und menschengemacht. Trotzdem habe ich mich in Deutschland zunächst selbst schuldig gefühlt für die Rassismuserfahrungen . Ich dachte: Es ist deren Land und wenn sie mich so scheiße behandeln ist es deren Recht. Denn ich war ja nur geduldet, hatte den „falschen“ Namen, eine „falsche“ Hautfarbe und wir waren geflüchtet.. Bis ich irgendwann – und das ist auch die Brücke zur Sozialen Arbeit – Sozialarbeitende kennengelernt habe im BBZ. Der Leiter des BBZ Walid Chahrour, meiner heutiger Kollege, brachte mich damals mit anderen geflüchteten Jugendlichen in Kontakt. Mit Hilfe von ihm und anderen Sozialarbeitenden habe ich damals in einem langen, schmerzhaften und glücklichen Empowermentprozess verstanden: Ich bin nicht alleine und ich bin nicht Schuld. Wenn sich Leute rassistisch verhalten, dann ist es deren Problem und nicht meins. Und ich habe Rechte, die mir zu stehen und für die ich mich einsetzen kann. Es ist nicht Natur oder Gott gegeben, dass ich in einer miserablen Lage lebe, sondern das kann verändert werden. Und dafür brauchen wir Bündnisse, Netzwerke und Menschen die solidarisch sind, die Ressourcen haben und sie zur Verfügung stellen. Das hat mein Denken, mein Handeln, meine Motivation und meine Politisierung sehr geprägt und das versuche ich heute in meiner Arbeit als Sozialarbeiter mitzugeben.
Wie gefällt Ihnen das Studium an der ASH Berlin?
Ich studiere sehr gerne an der ASH, unter anderem auch, weil ich mir meine Schwerpunkte selber legen kann. Durch die Modulaufteilung ist es unmöglich das Studium abzuschließen, ohne sich mit Rassismus auseinanderzusetzen. Das finde ich in unserer postmigrantischen Gesellschaft absolut wichtig. Ich fände es aber gut, wenn Lehre und Forschung mit Gruppen wie Jugendliche ohne Grenzen und anderen, die soziale Kämpfe führen, gute und ehrliche Kooperation eingehen würden. Nicht im Sinne von, die Lehre findet uns spannend, forscht die Gruppe aus und produziert daraus Lehre. Das raubt uns nur Zeit und Kraft. Beide Seiten sollten davon profitieren. Und ich würde mir wünschen, dass Ressourcen und Wissen, das die Studierenden mitbringen, von Seiten der Hochschule mehr anerkannt und angerechnet werden.
Was konnten Sie aus dem Studium für die Arbeit nutzen?
Ich konnte ganz viel nutzen. Mit Prof. Dr. Iman Attia haben wir mit anderen Studis, viele Selbstorganisationen und Jugendliche ohne Grenzen eine Ausstellung („SCHULE ZIEHT GRENZEN - WIR ZIEHEN NICHT MIT!") gemacht zum Thema Bildung und Diskriminierung und Kontinuitäten von Rassismen in Schulen seit dem 15. Jahrhundert bis heute. Meine Wahrnehmung war schon immer gewesen, dass der Ort Schule, der so wichtig ist, starke diskriminierende Strukturen reproduziert. Dazu haben wir ein Jahr lang geforscht, sind in Archive gegangen. Dieses Wissen bringe ich heute in meinen Aktivismus rein. Ich kann weitergeben, das heute nur so ein Kampf geführt werden kann, weil es Kontinuitäten im Widerstand gab und auch ein bestimmtes Verständnis von Solidarität, von Powersharing, von Empowerment gibt.
Zur Person:
Mohammed Jouni kam mit 12 Jahren alleine aus dem Libanon nach Deutschland. Nach 10 Jahren in der Krankenpflege und zwei Semestern Medizin studierte er den Bachelor Soziale Arbeit an der ASH Berlin, den er demnächst abschließen wird. 2005 gründete er mit anderen geflüchteten Jugendlichen die Selbstorganisation Jugendliche ohne Grenzen, deren aktives Mitglied er noch ist und arbeitet in Teilzeit als Sozialarbeiter im BBZ, Beratungszentrum und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und Migrant*innen. Er ist Trainer für Empowerment und Antirassismus und im Vorstand des Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V.