Wie kann es gelingen, Pflegepersonal und Auszubildende unter Diversity-Gesichtspunkten für eine immer vielfältigere Klientel in Kliniken, ambulanten und (teil)stationären Pflegebereichen zu gewinnen? Wie können Ausbildung und Berufsalltag im Pflegebereich diversitätssensibel gestaltet werden?
Diese Fragen standen im Mittelpunkt der Online-Fachtagung am 23.09.2020, die von der Evangelischen Akademie zu Berlin und den Mitgliedern des Netzwerkes Vielfalt, Arbeit, Bildung in der Pflege für Menschen mit Migrationserfahrung (VABP), durchgeführt wurde.
Mit Gudrun Piechotta-Henze, Professorin für Pflegewissenschaft und Mitglied im VABP, war auch die Alice Salomon Hochschule Berlin auf dieser Tagung vertreten. Das Thema Vielfalt bzw. Gleichstellung und Diversity / Chancengerechte Hochschule ist im Leitbild der ASH Berlin ausdrücklich festgehalten.
Für den gesamten pflegerischen Bereich ist es dringend geboten, Diversity quasi als Folie über die Versorgug sowie über Personalgewinnung und Mitarbeiter_innenbindung zu legen. Die komplexen Auswirkungen des Personalmangels in der Covid-19 Pandemie zeigen deutlicher als je zuvor: Es fehlt nicht an Intensivbetten, sondern an Personal.
Auf der Fachtagung berichteten zunächst Sandra Altmeppen und Thomas Johnson (wissenschaftliche Mitarbeitende der EHB und des Forschungsprojektes Curriculare Arbeit der Pflegeschulen im Land Berlin – CurAP) darüber, dass die neuen Rahmenpläne der generalistischen Pflegeausbildung durchaus eine Vielzahl an diversitätssensiblen Lehr-Lern-Arrangements ermöglichen, hierzu zählen Biografiearbeit, Lebensweltorientierung, Reflexion der eigenen Perspektivgebundenheit und narrative Kultur. Anhand von Fallbeispielen in der LGBTIQ*-sensiblen Pflege wurde hervorgehoben, wie wichtig der diversitätsorientierte Blick für die biografische Arbeit ist.
Rainer Centmayer, Projektkoordination eLearning Plattform Vielfalt Pflege in der Berufsfachschule Paulo Freire, richtete in seinem Kurzvortrag den Blick auf die kürzeren Ausbildungsmöglichkeiten in der Pflege. Die Dauer dieser Ausbildungen liegt je nach Bundesland zwischen sechs Wochen und zwei Jahren. Als „bunten Gemüsegarten“ bezeichnete Centmayer diese Ausbildungslandschaft auch deshalb, weil sich die Länder bislang nicht auf einheitliche Ausbildungsinhalte verständigen konnten. Nachteilig daran sei vor allem die schlechte Anschlussfähigkeit an weitere Ausbildungsmöglichkeiten, etwa an die dreijährige Pflegeausbildung. Ein Gewinn seien die Arbeitsgruppen, die Kommunikation über gelebte Diversität in der Ausbildungspraxis fördern. So berichtete eine Teilnehmende, dass sie die einzige Lehrende an einer Pflegeschule sei, die Deutsch nicht als Muttersprache habe. Damit nehme sie eine wichtige Vorbildfunktion für die Auszubildenden ein. Sie plädierte dafür, den transkulturellen Austausch in der Ausbildung in den Vordergrund zu rücken.
"Diversity-Management ist kein Sprint, sondern ein Marathon."
Einen Blick über den Tellerrand hinaus lieferten Sünne Espert und Stefanie Rettmer aus dem Personalmanagement der Berliner Wasserbetriebe, die ein Vorzeigebeispiel für diversitätssensible Ausbildungsstrukturen sind. Sie bezeichnen die praktizierte Diversität als durchaus anstregend, aber sehr gewinnbringend für Betrieb und Mitarbeiter_innen. Die Perspektiven auf die Stadt und die betrieblichen Aufgaben erführen mit der Vielfalt des Personals eine wichtige Weiterentwicklung. So nehme beispielsweise ein_e Mitarbeiter_in, der oder die auf einen Rollstuhl angewiesen ist, innerstädtische Mobilität ganz anders wahr als ein Mensch, der problemlos gehen kann. Immer wieder, so machten Espert und Rettmer deutlich, gehe es im Rahmen von Diversity-Konzepten um einen Perspektivwechsel, um das Hineinversetzen in Menschen mit unterschiedlichsten Bedürfnissen und Bedarfen. Bei den Wasserbetrieben sei dafür eigens ein Diversity-Tag mit Schichtwechsel eingeführt worden, bei dem Führungskräfte für einen Tag in einen anderen Arbeitsbereich, etwa in die Altenpflege, wechseln. Insgesamt, betonte Stefanie Rettmer, sei Diversity-Management kein Sprint, sondern ein Marathon. Dieser lange Lauf verlange zwar Ausdauer, aber er steigere schließlich immer die gegenseitige Wertschätzung im Betrieb und eröffne neue Möglichkeiten für Chancenvielfalt und -gerechtigkeit. Nachwuchskräfte könnten erfolgreicher rekrutiert werden, außerdem werde es ihnen leichter gemacht, ihre Potentiale und Stärken zu erkennen. Ziel sei es, dass (fast) alle entdecken: „Vielfalt ist unsere Stärke!“
Die Mitarbeiter_innen der Berliner Wasserwerke empfehlen, dass auch in der Pflege mehr Augenmerk auf Vielfalt und die damit verbundenen Chancen für das pflegende Personal und die zu pflegenden Menschen gelegt wird. Die Anwesenden aus dem Pflegebereich wünschten sich eine bessere Bezahlung sowie eine Willkommenskultur, schnellere Anerkennungen von Qualifikationen bei Mitarbeitenden aus dem Ausland und mehr (pflegewissenschaftliche) Forschung.
Fortgesetzt und vertieft werden soll die Diskussion über Vielfalt in der Pflege auf einer Veranstaltung am 11. Mai 2021. Dann werden Praktiker_innen erfolgversprechende Ausbildungsstrategien in der Pflege vorstellen. Zudem sollen – mit Multiplikator_innen in der Pflege und mit Bezug auf die Rahmenpläne der generalistischen Pflegeausbildung – konkrete Gestaltungsmöglichkeiten für eine vielfaltorientierte Ausbildung weiterentwickelt werden.