Filmanalyse „Systemsprenger“ oder: Wie Hilfen besser gelingen können!

Gedanken zum Spielfilm „Systemsprenger“

Ein Kind sitzt auf dem Beifahrersitz und streckt in Richtung Fahrer_in die Zunge raus
Die neunjährige Benni treibt ihre Mitmenschen zur Verzweiflung. Dabei will sie nur eines: wieder zurück nach Hause! ©Yunus Roy Imer/Port au Prince Pictures

Der nachfolgende Text entstand auf Anregung meiner Kollegin Prof. Dr. Michaela Köttig und nach einem intensiven gemeinsamen wechselseitigen Austausch.

Mitte September 2019 kam der Spielfilm „Systemsprenger“ der Regisseurin Nora Fingscheidt in die Kinos. Vor dem Kinostart wurde er bundesweit in Einzelvorführungen bereits Fachkräften, vor allem der Sozialen Arbeit und Pädagogik, gezeigt und mit Podiumsdiskussionen zum Thema flankiert. Die Reaktionen der Fachkräfte auf den Film waren enorm. Es wurde unter anderem benannt, dass der Film sehr emotional und aufwühlend sei. Dies einerseits, weil er einen Fall zeige, bei denen die Angebote und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nicht greifen. Und andererseits, weil er ein Kind zeigt, dessen Hilfebedürftigkeit und auch Not gesehen wird, welches aber eben das System „sprengt“. Hinzu kommen der fachliche Anspruch und das Bemühen, jedem jungen Menschen und auch dessen Familie helfen zu wollen. Ein Dilemma war zu sehen, welches Fachkräfte nachhaltig beschäftigte. Teilweise wurde auch Unverständnis darüber geäußert, warum an bestimmten Stellen im Film fachlich nicht anders gehandelt wurde. Es müsse und könne doch auch besser gehen. Von mancher Seite wurde eingeräumt, dass der Film auch Idealbedingungen der Hilfepraxis zeige. Dies beispielsweise in der durchgängigen Verfügbarkeit und Zugewandtheit der zuständigen Fachkraft des Jugendamtes sowie der problemlosen Finanzierung der Hilfe-Maßnahmen. Die Rahmen- und Strukturbedingungen in der Praxis seien weitaus schlechter. Vor allem aber die Szene, in der die Jugendamtsmitarbeiterin resigniert und weinend zusammensackt, wurde als stark emotional empfunden und bewegte auch gestandene Fachkräfte.[1]

Nüchtern betrachtet verwundern diese Reaktionen im Grunde nicht. Das Anliegen des Films besteht ja gerade darin, am Beispiel eines neunjährigen Mädchens Verständnis für junge Menschen zu erzeugen, die in ihrem bisherigen Leben bereits viel Schlimmes und großes Leid erfahren mussten, in ihren Familien nicht leben können, in innerer und äußerer Not sind, die Wohneinrichtungen mehrfach wechseln und nirgendwo einen Ort finden, an dem sie zur Ruhe kommen und dauerhaft Aufwachsen können. Und zur Botschaft des Films gehört auch, dass Fachkräfte der Sozialen Arbeit und Pädagogik im Kontakt mit diesen Kindern immer wieder an ihre Grenzen geraten – fachlich und emotional. Und somit wird in diesem Spielfilm auch das Scheitern von sozialpädagogischen und psychiatrischen Maßnahmen dargestellt. Und auch weil ein Kind – und kein_e Jugendliche_r - im Mittelpunkt des Geschehens steht, welches Sicherheit und Schutz benötigt, dem Menschen helfen wollen, welches immer wieder Erwachsene trifft, die dies probieren und eben nicht schaffen, spricht der Film Emotionen an. Er hinterlässt die Zuschauer_innen mit seinem offenen Ende in der jeweils eigenen Phantasie, der dann endlos nachgegangen werden kann. Nicht umsonst erhielt der Film bereits mehrere bedeutende nationale Preise und wurde für den internationalen Oscar vorgeschlagen. Er ist filmerisch hervorragend gemacht, ebenso wie die Leistungen der Schauspieler_innen herausragend sind, vor allem die von Helena Zengel, welche das neunjährige Mädchen Benni spielt.

Nun sind „aussichtslose Fälle“, also Fälle, die im Hilfesystem scheitern und an denen das Hilfesystem scheitert, seit jeher ein Teil der Kinder- und Jugendhilfe. Diese umfassen in etwa 10% der jungen Menschen in den Hilfen zur Erziehung. Diese jungen Menschen sowie deren Hilfeverläufe bewegen Fachkräfte seit Jahrzehnten in der Praxis, auch emotional. Und tatsächlich erleben Fachkräfte in diesem Zusammenhang auch ihre eigenen, persönlichen Grenzen.
Was leistet dieser Film nun, indem er das Thema „Systemsprenger“ eindrücklich einer breiten nationalen und internationalen Öffentlichkeit präsentiert? Zunächst kann festgestellt werden, dass mit der filmischen Inszenierung ein Bild gezeigt wird, welches die Menschen im Jahr 2019 bereit waren, zu dieser Problematik in sich aufzunehmen. Es werden damit eine aktuelle gesellschaftliche Perspektive und ein vorhandener Diskurs zum Thema abgebildet. Von dieser Seite aus betrachtet, ist die Aussage des Films beruhigend. Denn es wird im Film, anders als in aufgeheizten Medienberichten und häufig auch der Fachpraxis, nicht nach Schuldigen für diese erschütternde Geschichte und deren Verlauf gesucht. Die Schuld liegt weder einseitig beim Kind, noch bei der Mutter oder im Hilfesystem. Und überhaupt wird die Schuldfrage im Film gar nicht gestellt. Die Regisseurin vermag es, die Perspektive aller Beteiligten im Spiel zu behalten. Auch gelingt es, die beständigen Versuche aller Erwachsenen, um Wege zu finden, damit Benni einen Ort zum Leben findet, deutlich zu machen. Die Tragik der Handlung besteht genau darin, dass eben jenes Bemühen nicht ausreicht.

So führt beispielsweise das aggressive Handeln von Benni immer wieder zum Ausschluss aus der jeweiligen Wohneinrichtung/dem Heim. In den dargestellten Szenen wird angedeutet, dass gerade jenes für andere Menschen bedrohliche Handeln des Kindes auf eine frühkindliche Traumatisierung zurückgeführt werden kann. Bei Re-Traumatisierungen wird es als aktives Handlungsmuster reproduziert. Fatalerweise erlebt das Kind Benni aber gerade in diesen Situationen der Re-Traumatisierung keine Unterstützung durch professionelle Fachkräfte. Statt einer emotionalen, sicheren und haltenden Zuwendung zum Kind erfolgt ein standardisiertes, auf die Einhaltung von Regeln und Normen ausgerichtetes Handeln. Und schließlich die institutionelle Entscheidung der Wohneinrichtung/des Heims über den Ausschluss bzw. Rauswurf. Dieses Muster wiederholt sich permanent. Es enthält die ‚Bestrafung‘ eines Kindes durch den Entzug existentieller Lebensgrundlagen aufgrund einer sozialen und psychischen Auffälligkeit. Allerdings war genau diese Auffälligkeit Anlass der professionellen Unterstützung und durch diese wird die Hilfe weiter begründet. Aber sie wird durch keine_n der beteiligten Akteure bewältigt. Das, was das Kind also am meisten zu brauchen scheint, nämlich einen bedingungslosen, emotional-haltenden Lebensort mit fürsorgenden erwachsenen Menschen sowie die Befriedigung basaler Grundbedürfnisse wie Essen, Schlafen, Körperkontakt, erfährt Benni im Hilfesystem nicht. Und auch in der hoffnungsvollen Sequenz mit dem Einzelfallhelfer Micha, der Benni zumindest manchmal in den Arm nimmt und tröstet, bleibt das Kind einsam und ohne haltende Verbindung. Und so stellt sich nur eine Person im Film die Schuldfrage, nämlich Benni selbst. Sie sagt, dass sie wegen ihrer Ausbrüche nicht zu ihrer Mutter kann bzw. erst wieder zurück kann, wenn sie diese nicht mehr hat. Da wird also in der Gesamtheit betrachtet der Erfolg der Hilfe zu deren Voraussetzung. Das ist bitter und begründet eine Endlosschleife. Diese Darstellung ist der Regisseurin durchgängig gelungen. Es wird die Ausweglosigkeit der Situation deutlich. Darüber hinaus wird den Zuschauer_innen auch veranschaulicht, dass Benni selbst die Logik des Hilfesystems verstanden hat. Die daraus entstehende Aufgabe ist für sie unlösbar.

Nun ist auch aus der Fachliteratur bekannt, dass das Stellen und Verfolgen der Schuldfrage eine Sackgasse für die Verbesserung sozialer Situationen und die Lösung von Konflikten ist. Es eröffnet auch keine sozialpädagogischen Handlungsmöglichkeiten. Diese basieren unter anderem darauf, dass die Kinder Neues lernen und destruktives Handeln verändern können. Lernen ist aber nur möglich, wenn das Innere des Kindes sich gegenüber der Außenwelt öffnen kann. Dazu braucht es einen basalen Kontakt zu Menschen und einen einigermaßen sicheren sozialen Ort. Diese vorsichtigen Kontaktbemühungen, gerade emotional belasteter Kinder, sind anfangs weit davon entfernt, Vertrauen in die Umwelt bzw. in Personen zu haben. Es sind ganz zarte Fäden, die schnell zerreißen können. Vorwürfe und Schuldzuschreibungen setzen junge Menschen unter Druck. Dadurch verschließen sie im wahrsten Sinne des Wortes ihr Inneres, gerade dann, wenn sie sich in diesen vorsichtig tastenden Kontaktbemühungen befinden. Sie sind dann für andere Menschen nicht mehr erreichbar. Dies häufig für längere Zeit.

Im Hinblick auf den öffentlichen gesellschaftlichen Diskurs leistet der Film einen großartigen Beitrag. Er zeigt, wie ein Kind groß wird, welches mit (Re-)Traumatisierungen und beständigen Verstößen bzw. Weg-Stößen von anderen Menschen leben muss. Dies ist Bestandteil des Alltags dieses Kindes. Diese Erfahrung wird zu einem Teil der eigenen Biografie. Sie wird in eigenes Handeln des Kindes als Reaktion darauf umgesetzt. Es gibt für das Kind keine Therapie, die es wieder gut macht. Es gibt auch keine andere Heilung oder gar Reparatur. Das Kind ist gefordert, damit und mit den dahinter liegenden Erfahrungen zu leben. Und ist auf diese Weise sehr allein. Und wächst damit auf. Es ist anzunehmen, dass es etlichen Menschen, ob Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen, ähnlich geht wie Benni im Film. Sie haben ein solches Leben zu bewältigen. Sie brauchen dafür kein Bedauern und keine Wundermittel. Sie brauchen eine Welt, in der diese Lebensleistung wahrgenommen, anerkannt und gewürdigt wird. Dies wäre schon eine entscheidende Hilfe.

Und der Film macht auch deutlich, dass ‚Kinder keine Systeme sprengen‘! Diese Metapher trifft auf das Geschehen im Grunde nicht zu. Menschen können ohne technische Hilfsmittel keine Systeme sprengen – schon gar nicht Kinder. Systeme funktionieren ohne menschliche Intention. Systemtheoretisch betrachtet haben sie eine funktionale Eigenlogik. Sie bestehen unbeirrt weiter. Dies auch wenn Kinder dort emotional und kognitiv nicht ankommen und auch, wenn Kinder und Fachkräfte aneinander scheitern. Aus systemtheoretischer Perspektive ist das im Film dargestellte stringent und logisch. Systeme agieren selbstreferentiell. Die damit verbundenen Logiken u.a. von Inklusion und Exklusion sind bei Niklas Luhmann nachlesbar, der sich ja ausführlich mit funktionalen Systemen beschäftigt hat. Das bedeutet auch: Systeme allein können Menschen nicht helfen! Systeme können lediglich funktional bereit stehen, um Leistungen zu erbringen. Von daher braucht es, um Kindern wie Benni tatsächlich zu helfen, noch eine andere Denkrichtung als die der „Systemsprenger“.

Tatsächlich gibt es ja ausreichendes sozialpädagogisches Fachwissen darüber, wie Kindern (und Jugendlichen) wie Benni geholfen werden kann. Dieses Wissen wurde seit ca. einhundert Jahren beständig erweitert und fortentwickelt. Es ist inzwischen auch empirisch gut erforscht, nur (leider) nicht durchgängiger Bestandteil von (Hilfe-)Systemen. Obwohl es deutschlandweit Fachkräfte gibt, die sich klug und reflektiert mit jungen Menschen wie Benni auf einen gemeinsamen Weg machen. Und dabei nicht resignieren, weil sie aus Sackgassen immer wieder herausfinden.

Kinder benötigen soziale Beziehungen/soziale Kontakte zu anderen Menschen sowie soziale Orte. Diese müssen für die kindliche Entwicklung nicht perfekt, aber ausreichend gut sein. Sie müssen dem Kind gleichermaßen Schutz geben und Autonomieentwicklung ermöglichen. Und natürlich basale Grundbedürfnisse befriedigen. Kinder benötigen Zeit für ihre Entwicklung und Zeit, um zu lernen. Gerade, wenn sie traumatische Erfahrungen gemacht haben, benötigen sie sichere Orte, die für sie zur Verfügung stehen, bedingungslose Zuwendung von anderen Menschen und schrittweise Heilung. Kinder müssen die Chance erhalten, ihre eigene Lebens- und Familiengeschichte zu verstehen und sich selbst zu verstehen.
Mit Kindern muss geredet werden, aber vor allem muss ihnen zugehört werden. Damit Kinder verstehen können, was ihnen passiert ist, was geschieht und was sie handelnd beeinflussen können. Nicht-Wissen erzeugt diffuse Angst und schließlich auch aggressives Handeln. Wissen dagegen eröffnet Handlungsmächtigkeit. Kinder müssen informiert werden, gerade dann, wenn das Hilfesystem Handlungen an ihnen plant bzw. über ihr weiteres Leben entscheidet. Auch wenn Kinder an diesen Entscheidungen nicht direkt beteiligt werden (können), bspw. wenn sich leibliche Eltern gegen ein Zusammenleben entscheiden, müssen die Kinder in für sie nachvollziehbarer Weise darüber informiert werden. Und Kinder brauchen Menschen, die sie bei Abschieden, in Trauerphasen und bei Übergängen begleiten. Das ist alles aus der Fachliteratur bekannt.

Diese hier skizzierten Bedingungen braucht jedes Kind, nicht nur ein Kind, wie Benni. Etliche Kinder im Hilfesystem müssen diesen häufig entsagen und werden nicht zu „Systemsprengern“. Diese Leistung der jungen Menschen soll an dieser Stelle ausdrücklich gewürdigt werden.

Hilfeinstitutionen der Sozialen Arbeit und Pädagogik sind gefordert, sich als Organisationen zu verstehen, die zwar systemisch Handeln, aber nicht ausschließlich Systemlogiken unterliegen. Dies bedeutet, die Rahmenbedingungen zu analysieren und Veränderungspotentiale, die durch Menschen gestaltbar sind, auszumachen. Mit systemisch Handeln ist gemeint, dass diese nicht kausal beeinflussbar sind, ebenso wenig wie das menschliche Handeln selbst. Es kann aber als Mensch, insbesondere als professionelle Fachkraft, Verantwortung übernommen werden. Diese Verantwortung umfasst vor allem das eigene und institutionelle Handeln an, mit und gegenüber Kindern. Die Frage, ob Professionalität Menschlichkeit ausschließt oder beinhaltet, können nur die Fachkräfte beantworten. Aus Sicht der Kinder ist die Antwort klar: Ohne Menschlichkeit und menschliche Begegnung können sie in Hilfesystemen nur sehr schwer überleben! Eindrücklich wurde das im Film in der Szene gezeigt, als Benni abends im Bett liegt und sinngemäß sagt: „Erzieherin, gib mir deine Hand!“ Die menschliche Hand der ‚Erzieherin ohne Namen‘ benötigte Benni zum Einschlafen vor dem bevorstehenden Übergang in ein anderes Kinderheim am nächsten Tag. Und auch eine andere Szene war diesbezüglich erhellend: Als die Jugendamtsmitarbeiterin zusammensackt und weint, ist es Benni, die sich zu ihr setzt und sie liebevoll tröstet. Eine Handlung, die Benni selbst im ganzen Film nicht erfährt.

Mit Blick auf vorhandenes Fachwissen in Praxis und Forschung ist eine bessere sozialpädagogische Fachlichkeit als im Film gezeigt möglich, wenn:

  • ein biografisches Fallverstehen und damit ein Nachvollziehen der Handlungsmuster des Kindes als Ansatz für Lernen und Veränderungsprozesse dient;

  • Biografiearbeit mit dem Kind zum Selbstverstehen der eigenen Geschichte, der eigenen Handlungen und der Akzeptanz der eigenen Lebenssituation sich durch den Hilfeprozess zieht;

  • eine umfassende Beteiligung des Kindes, auch unter Gewährleistung der Rechte des Kindes (Stichwort: Kinderrechte) erfolgt;

  • Institutionen/Organisationen sich flexibel in der Gestaltung von Hilfesettings zeigen, um sichere soziale Orte und für den Einzelfall geeignete Maßnahmen für das Aufwachsens von Kindern zu gewährleisten;

  • Fachkräfte Beziehung und Nähe zum Kind herstellen;

  • Krisen und Eskalationen von Fachkräften und Kindern bewältigt werden können und daraus immer wieder Anfänge für gemeinsame Lernprozesse möglich werden;

  • Fachkräfte ihr eigenes Handeln fortwährend reflektieren, um sich u.a. nicht in die Dynamik des Falls zu verstricken;

  • und auch Verantwortung für die Aufrechterhaltung von Menschlichkeit und Menschenwürde durchgängig übernehmen.

Es gilt, auf der Basis einer fundierten fachlichen Qualifikation, die eigene professionelle Aufgabe und Rolle zu kennen und diese in der Arbeit mit Menschen vor allem zwischenmenschlich zu gestalten.

Im Film „Systemsprenger“, der ein Spielfilm und kein Dokumentarfilm ist, wird im Grunde die Geschichte eines Kindes erzählt, welchem basale Grundbedürfnisse nach Nähe, bedingungsloser Zuwendung und Liebe verwehrt werden, welches mit traumatischen Erfahrungen und deshalb auch Re-Traumatisierungen leben muss und nirgendwo einen Ort zum Leben und Aufwachsen findet. Dabei wird das Kind als ein aktiv handelnder Mensch gezeigt, welches selbst beständig Lösungsversuche zur Verbesserung der eigenen Lebenssituation unternimmt. Benni gibt im Grunde nicht auf und verfällt auch nicht in (kindliche) Depressionen. Sie versucht stattdessen immer wieder aktiv einen Kontakt zu anderen Menschen und zur Außenwelt herzustellen. Ihr Ziel, bei der Mutter leben zu können, erhält sie trotz wiederholter Zurückweisung aufrecht. Die Tragik im Film besteht auch darin, dass nicht gezeigt wird, dass diese Bemühungen des Kindes zur Verbesserung der eigenen Lebenssituation wahr- und ernstgenommen werden. Sie bleiben im Grunde ohne Resonanz für Benni. Es wird keine erwachsene helfende Person gezeigt, die in Ruhe mit Benni über ihr bisheriges Leben, ihre reale Lebenssituation, ihre Wünsche und die Möglichkeiten und Grenzen der Realisierung eben dieser redet. Benni selbst wird in den Hilfeprozess nicht einbezogen. Es wird über sie gesprochen und an ihr gehandelt. Es wird ihr nicht die Chance gegeben, selbst zu verstehen, was passiert und mit ihr gemeinsam reale Lebensperspektiven zu entwickeln. Diesbezüglich sind das fachliche Wissen und die Rechtslage weitaus weiter entwickelt als dies im Film zu sehen ist. Unter anderem ist Beteiligung von Kindern in Hilfeprozessen im SGB VIII gesetzlich geregelt. Dabei unterscheidet der Gesetzgeber beispielsweise nicht in Kinder, die schwieriger oder weniger schwierig oder überhaupt nicht schwierig sind. Beteiligung ist keine ‚Auszeichnung‘. Beteiligungsrechte gelten für jedes Kind! Es ist aber tatsächlich ein Phänomen der Praxis Sozialer Arbeit und Pädagogik, dass nicht allen Menschen ihre Rechte auf Beteiligung sowie weitere Bürger_innenrechte zu gestanden werden. Insbesondere Menschen, die sich in belastenden Lebenslagen, in Krisensituationen oder in schwierigen psychischen und sozialen Situationen befinden, sind davon betroffen. Diese Erfahrungen treffen im Übrigen für Erwachsene in solchen Lebenslagen genauso zu wie für Kinder. Damit werden die Menschen jedoch zu ‚Empfänger_innen‘ von Hilfen, die andere Personen, vornehmlich Fachkräfte, an ihnen ‚ausführen‘. Sie geraten in den Status eines ‚Objektes‘. Hilfe kann jedoch nur gelingen, wenn die Menschen, denen geholfen werden soll, diese als sinnvoll erachten und erfahren können. Ein wesentlicher Anteil besteht deshalb im Mit-Handeln oder im Gemeinsam-Handeln. Und dieser Prozess beginnt wiederrum mit der Realisierung der Rechte auf Beteiligung bei jedem Kind. Dass Kindern, die als schwierig gelten, möglicherweise diese und andere Rechte abgesprochen werden, wäre allerdings Stoff für einen weiteren Film.

Regina Rätz, Dr. phil., Professorin für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe an der Alice Salomon Hochschule Berlin


[1] Eigene Zusammenstellung aus verschiedenen Gesprächen und Diskussionen mit Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe.

Der Artikel erschien bereits im DGSA Blog Soziale Arbeit.