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Interview mit der Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt Märkisch-Oderland

Peps Gutsche und Elène Misbach sind aktiv im AK gegen Rechte Gewalt an der ASH Berlin und haben im Interview mit Gianna Faust über die Arbeit der Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt Märkisch-Oderland und der Veranstaltungsreihe anlässlich der zehnjährigen Selbstenttarnung des rechten Terrornetzwerks „Nationalsozialistischer Untergrund“ Anfang November gesprochen.

 

Peps Gutsche: Hallo Gianna, kannst du die Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt Märkisch-Oderland kurz vorstellen? Was macht ihr?

Gianna Faust: Die ehrenamtliche Beratungsstelle Opfer rechter Gewalt Märkisch-Oderland ist eine AG des AJP 1260 e.V. in Strausberg. Früher gab es in vielen Brandenburger Städten Beratungsstellen wie unsere, die selbstorganisiert und solidarisch auf der Seite Betroffener rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt standen und Beratung bieten. Neben Betroffenen beraten wir auch generell Menschen, die sich zum Thema (extreme) Rechte im Landkreis informieren möchten, und unterstützen dabei, Fälle - wenn gewollt - öffentlich zu machen. Dabei arbeiten wir eng mit der Opferperspektive e.V. und dem MBT Mobilen Beratungsteam gegen Rechtsextremismus zusammen.

Wir haben im Mai diesen Jahres aufgrund eines Angriffs und rechter Schmierereien zwischen Neuenhagen und Strausberg beispielsweise einfach einen Fachtag für (Jugend-)Sozialarbeiter_innen organisiert, zu dem kamen über 40 Personen. Zusätzlich sammeln wir Vorfälle und veröffentlichen diese mit Hintergrundtexten in einer jährlichen Chronik. Hierbei sind wir neben Zeitungsartikeln, Pressemeldungen der Polizei und Kleinen Anfragen im Landtag auch auf Meldungen von Bürger_innen und Aktiven angewiesen. Wir organisieren außerdem Gedenkkundgebungen für die Todesopfer rechter Gewalt in der Region, häufig zusammen mit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschist_innen (VVN-BdA) Märkisch-Oderland. Dieses Jahr haben wir an Phan Văn Toàn und Hans-Georg Jakobson gedacht.                                                                                                                                         

 

Elène Misbach: Anfang November organisiert ihr eine Veranstaltungsreihe anlässlich der zehnjährigen Selbstenttarnung des rechten Terrornetzwerks „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU). Wie ist es zu der Veranstaltungsreihe gekommen?

Gianna Faust: Unser Trägerverein ist in den Neunziger Jahren gegründet worden, um einen politischen, sozialen und kulturellen Raum für alternative Jugendliche zu bieten. Die sogenannten „Baseballschlägerjahre“ haben den Alltag von BIPoCs, Migrant_innen, Jüd_innen, alternative Jugendliche, arme und queere Menschen gewaltvoll geprägt. Die Selbstenttarnung des NSU 2011 war ein Schock für viele. Das Neonazis unbemerkt Menschen ermorden und Sprengstoffanschläge verüben konnten, und die Polizei aus rassistischen Gründen die Verbliebenen der Opfer verdächtigt und der Staat eher V-Männer als Menschen mit Rassismuserfahrungen schützt, war ein Schock. Das hat nicht-weißen Menschen gezeigt, dass sie in Deutschland nicht sicher leben können. Die rechten Terroranschläge 2016 in München, 2019 in Halle und 2020 in Hanau haben dies nochmal verstärkt. Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und die Polizistin Michèle Kiesewetter wurden durch den NSU getötet. Hüseyin Dayıcık, Selçuk Kılıç, Sabina Sulaj, Armela Segashi, Giuliano Josef Kollmann, Can Leyla, Sevda Dağ, Janos Roberto Rafael, Dijamant Zabërgja, Jana L., Kevin S., Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Fatih Saraçoğlu und Gabriele R. wurden von Männern ermordet, die online und offline in ihren rassistischen, antisemitischen und antifeministischen Vorstellungen bestärkt wurden.

Die Taten des NSU und der Täter von München, Halle und Hanau; die Umstände, die mit dazu geführt haben, dass Neonazis unbemerkt Menschen ermorden können, dürfen nicht vergessen werden. Uns ist es wichtig, den Opfern rechter Gewalt zu gedenken, ob in Märkisch-Oderland, Brandenburg oder darüber hinaus. Deswegen beginnen wir unsere Veranstaltungsreihe mit dem Film „Spuren – die Opfer des NSU“, um die Perspektive der Betroffenen in den Mittelpunkt zu rücken, und nicht nur über die Täter zu sprechen. Der Vortrag zum NSU-Komplex und akzeptierender Jugendarbeit von Lucia Bruns (wissenschaftliche Mitarbeiterin an der ASH Berlin)  bietet einen kritischen Blick auf die Soziale Arbeit und fragt, welche Bedingungen den NSU ermöglichten. In den 90er Jahren ist dabei rechte Infrastruktur in Jugendclubs entstanden, welches auch darüber hinaus rechte Netzwerke wie den NSU ermöglicht hat. Im Rahmen des FLINTA*-Tresens (Frauen,Lesben, inter, nicht-binäre, trans* und agender Personen) wird es außerdem eine Veranstaltung zu medialen (Selbst-)Darstellung rechter Frauen geben. Gerade der NSU-Prozess hat gezeigt, wie oft rechte Frauen doppelt unsichtbar gemacht werden: Das sexistische Stereotyp der „friedfertigen Frau“ lässt zu, dass rechte Frauen nicht als Täterinnen gesehen werden, und häufig wird auch ihre Position in rechten Organisationen nicht wahrgenommen – sie werden als Mitläuferinnen gesehen.

 

Peps Gutsche: Wo seht ihr die Rolle der Sozialen Arbeit in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und Ideologien der Ungleichwertigkeit?

Gianna Faust: Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession ist unserer Meinung nach unvereinbar mit rechter Ideologie. Und doch sehen wir wie bei der akzeptierenden Jugendarbeit, dass Sozialarbeiter_innen staatliche Aufgaben übernehmen, mit denen sich rechtem Gedankengut nicht entgegengestellt, sondern dieses toleriert und damit normalisiert wird. Auch Sozialarbeiter_innen selbst sind nicht vor autoritären oder ungleichwertigkeitsbejahenden Positionen gefeit. Hier bracht es Reflektionsräume und Weiterbildungsangebote. Soziale Arbeit gegen rechts bedeutet für uns, auf der Seite der Betroffenen zu stehen und ihre Perspektive zu stärken. Wir sind verankert in antirassistischen und antifaschistischen Bewegungen und sehen auch hier die Notwendigkeit, immer wieder die eigenen weißen Flecken in der Wahrnehmung zu hinterfragen. Wir sehen es als gemeinsame Aufgabe an, für gesellschaftliche Solidarität und antirassistische Perspektiven einzustehen und freuen uns, wenn Menschen sich zusammentun, um gemeinsam etwas zu verändern.

 

Kontakt:
Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt (BOrG)
c/o Horte
Peter-Göring-Straße 25
15344 Strausberg
Mail: ag-borg@ avoid-unrequested-mailshorte-srb.de

 

Gianna Faust ist Mitarbeiterin im Frauen*büro der ASH Berlin und engagiert sich ehrenamtlich in der Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt Märkisch-Oderland

Peps Gutsche ist wissenschaftliche_r Mitarbeiter_in an der ASH Berlin und Koordinator_in des Projekts „Aufbau eines Berater_innennetzwerkes zum Abbau geschlechtsbezogener Diskriminierung und Gewalt“

Elène Misbach ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Referentin für Transfer, Kooperationen & Third Mission an der ASH Berlin

Lucia Bruns ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der ASH Berlin im IFAF-Forschungsprojekt „JUPORE – Jugendarbeit, Polizei und rechte Jugendliche in den 1990er Jahren“