alice online: Herr Katar, Sie sind in der Türkei geboren, wo haben Sie die erste Zeit Ihres Lebens verbracht?
Fehmi Katar: Ich bin 1985 in Nord-Kurdistan, in der im Südosten der Türkei liegenden Stadt Sirnak geboren und habe bis zu meinem 18. Lebensjahr dort gewohnt. Danach habe ich wegen meines Studiums der Finanzmathematik bis 2010 in Istanbul gelebt. Seit ca. 7 Jahren lebe ich nun in Berlin, wo ich als Sozialarbeiter und Journalist arbeite.
alice online: Sie sind aus der Türkei geflohen. Warum?
Fehmi Katar: Der Hintergrund ist eigentlich nur, dass ich als Kurde darauf bestanden habe, dass ich Kurde bin, nicht mehr. Ich komme wie gesagt aus Sirnak. Für Menschen, die die türkischen Probleme kennen, ist Sirnak bekannt. Zwischen 2016 und 2017 wurde Sirnak durch Bombardierungen des türkischen Staates prozentual mehr zerstört als Aleppo. Der Stadtteil, in dem ich aufgewachsen bin, einschließlich das Haus meiner Eltern, wurde komplett zerstört. Von 1980 bis Ende der 90er-Jahre wurden in Nord-Kurdistan hunderte Dörfer vom türkischen Staat dem Erdboden gleichgemacht und die Bevölkerung wurde in die Städte und in die großen türkischen Metropolen verdrängt. Tausende Menschen wurden von den paramilitärischen Gruppen des Staates ermordet. Ich kenne persönlich keine über 40-jährigen Personen in meinem Verwandtenkreis, die nicht mindestens einmal inhaftiert und gefoltert wurden. Trotz all dieser Geschehnisse, als Betroffener und Zeuge dieser grausamen Folter- und Vernichtungskultur des Staates, wird man gezwungen, unpolitisch zu sein und nicht zu reagieren. Das ist in etwa so, wie in einem See zu leben, aber nicht schwimmen zu dürfen – das ist gegen die Natur des Lebens. Und wer leben will und nicht emotional tot sein will, der wird dafür bestraft. Aus diesem Grund musste ich zwischen Gefängnis und Exil entscheiden, also bin ich hier.
alice online: Wo arbeiten Sie zurzeit?
Fehmi Katar: Ich arbeite, finanziert als Sozialarbeiter, bei dem kurdischen Verein Yekmal e.V. (Verein der Eltern aus Kurdistan) und freiwillig als Journalist bei der kurdischen Zeitung Yeni Özgür Politika. Als Sozialarbeiter arbeite ich in drei unterschiedlichen Thematiken: Als Berater zu Asyl und Asylverfahren, in den Hilfen zur Erziehung und mit einer kleinen Gruppe von geflüchteten Vätern. Als Journalist berichte ich über unterschiedliche Themen, hauptsächlich über Themen der Sozialarbeit wie Gentrifizierung, Rassismus, Flucht und Widerstand.
alice online: In welcher Form beraten Sie die Geflüchteten?
Fehmi Katar: Unsere Beratung heißt "Von Geflüchteten für Geflüchtete". Der Gedanke dahinter ist, einen Rahmen zu schaffen, eine Art von "Safe Place", wo Geflüchtete sich sicher fühlen und offen über ihre Bedürfnisse und Angelegenheiten reden können. Soziale Arbeit ist für mich eine politische Arbeit. Die Flucht ist eine Folge der Weltordnung bzw. der neoliberalen, rassistischen und kolonialistischen Politik. Daher ist es für mich selbstverständlich, parteiisch zu beraten. In der Beratung geht es um die Interessen der Ratsuchenden. Wenn ein Ratsuchender mit Abschiebung bedroht ist und zu uns kommt, werden wir ihm nicht erklären, warum er abgeschoben werden soll, sondern wir werden zusammen mit ihm versuchen herauszufinden, wie er sich gegen die Abschiebebedrohung wehren kann.
Wir beraten auf Kurdisch, Türkisch, Arabisch, Englisch und Deutsch und bei Bedarf begleiten wir die Geflüchteten auch, wenn sie sich nicht trauen, allein zu Behörden zu gehen.
alice online: Wofür engagieren Sie sich?
Fehmi Katar: Mein Hauptengagement zurzeit ist meine freiwillige Tätigkeit bei Yeni Özgür Politika. YÖP ist die einzige gedruckte, nicht deutschsprachige, linke Tageszeitung in Deutschland. Sie wurde von kurdischen Journalist_innen, die ins Exil fliehen mussten, gegründet. Ich berichte über aktuelle Realpolitik, wie auch sozialpolitische Probleme und kulturelle Veranstaltungen wie die Berlinale oder das Cannes Film Festival.
Wegen meines Berufs und weil ich es politisch sehr wichtig finde, bin ich vor allem für Angelegenheiten der Geflüchteten engagiert. Meine Engagements und meine Arbeit passen sehr gut zueinander. Ich kann durch meine Arbeit im Feld der Sozialarbeit die sozialpolitischen Probleme vor Ort beobachten und sie durch meine journalistische Tätigkeit in die Öffentlichkeit tragen.
alice online: Sie haben die Podiumsdiskussion auf dem Symposium für Informationsfreiheit an der ASH Berlin moderiert. Wie kam es zu der Zusammenarbeit?
Fehmi Katar: Ich habe an dem Seminar "Internationale Sozialarbeit" von Andrea Plöger teilgenommen, weil mich die Thematik interessiert. In einem anderen Seminar habe ich Prof. Ulrike Hemberger kennengelernt. Die beiden waren die Organisatorinnen des Symposiums für Informationsfreiheit. Andrea Plöger hat mir angeboten, eine Sitzung zu moderieren und ich habe sofort Ja gesagt, da ich mit dem Thema viel zu tun habe und ich dazu beitragen wollte, Menschen für die aktuelle Situation in der Türkei zu sensibilisieren.
alice online: Zum Schluss: Wie hat Ihnen das Studium an der ASH Berlin gefallen?
Fehmi Katar: Ich finde vor allem, es ist ein Privileg an der ASH Berlin zu studieren. Die Studierenden nehmen aktiv an der Gestaltung der Hochschule teil und in den Seminaren wird offen diskutiert. Neben der kritischen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen sozialpolitischen Themen haben mir zwei Aspekte meines Studiums an der ASH Berlin besonders gefallen: Erstens gibt es große Bemühungen, in Diskussionen die Selbstdarstellung der Subjekte, über die diskutiert wird, zu ermöglichen. Das Zweite ist – obwohl immer noch darüber diskutiert wird, was Soziale Arbeit ist und was nicht –, dass die Tatsache, dass Sozialarbeit eine politische Arbeit ist, nicht infrage gestellt wird.
Seitenwechsel "Sozialarbeit ist eine politische Arbeit"
Interview mit Alumnus Fehmi Katar, der an der ASH Berlin Soziale Arbeit studiert hat. Heute arbeitet er als Sozialarbeiter beim kurdischen Verein Yekmal e.V. und als Journalist für die kurdische Zeitung Yeni Özgür Politika.