Seitenwechsel Praxissemester – jetzt noch prekärer!

Praktikum in Zeiten von Corona

Ein Wecker, eine Maske, Geldscheine mit der Überschrift: Ungeschützt, Unbezahlt, Prekär
Pia Meier und Sophia Ziese

Wir sind eine Gruppe Studierender der Sozialen Arbeit an der ASH und haben uns auf Grund von eigenen Erfahrungen und Erzählungen anderer Studierender Gedanken zu den Schwierigkeiten, Missständen und Herausforderungen des Praxissemesters gemacht. Mit diesem Artikel wollen wir unsere Gedanken und Überlegungen öffentlich machen, um so auf die aktuellen Belastungen der Studierenden im Praxissemester aufmerksam zu machen und eine in den Hintergrund geratene Debatte wieder anzustoßen.

Bereits vor der Pandemie gab es für Studierende schwerwiegende Herausforderungen ihr Praxissemester umzusetzen. Vor allem die Finanzierung ist und war schwierig. Die Praxissemester werden in den meisten Einrichtungen wenig bis gar nicht bezahlt und das, obwohl die Studierenden häufig Vollzeit und mit viel Engagement und Wissen verantwortungsvoll die Einrichtungen unterstützen. Dabei erhalten die Hoschulpraktikant_innen trotz ihrer Fachkenntnisse oftmals eine geringere Vergütung als FSJler_innen oder Bundesfreiwillige, die in derselben Einrichtung tätig sind.

 

"(...) Aber auch ohne Corona ist es für Studierende eine unzumutbare Belastung, das Praktikum mit einem Nebenjob zu finanzieren. Gerade weil es ein systemrelevanter Beruf ist, sollte auch dementsprechend bezahlt und wertgeschätzt werden. " (Thomas, 5.Sem. Soziale Arbeit, ASH Berlin)

 

Viele Studierende arbeiten Vollzeit in einem unbezahlten Praktikum ohne jeglichen Urlaubsanspruch und müssen sich die Frage der Finanzierung ihres Lebensunterhalts stellen. Ein Großteil der Studierenden bezieht weder BAfög noch ein Stipendium oder andere finanzielle Hilfen und ist somit auf einen Nebenjob angewiesen. Nach einer empirischen Studie des Netzwerk Prekäres Praktikum gehen 67 Prozent der Studierenden an Berliner Hochschulen für Sozialwesen einer Erwerbstätigkeit nach und trotzdem liegen 74,3 Prozent der Studierenden mit ihrem Einkommen unter dem Existenzminimum[1].

 

"Vor allem bezogen auf das Praxissemester ist es wirklich sehr schwierig sich finanziell über Wasser zu halten. Es würde in meinem Fall beispielsweise bedeuten, dass ich meine aktuellen Stunden reduzieren müsste, was finanziell gar nicht für mich zu machen wäre.“ (Franziska, 5.Sem. Soziale Arbeit, ASH)

 

Einer Erwerbstätigkeit kann jedoch, während des Vollzeits-Praktikums, nur noch in eingeschränktem Umfang oder gar nicht mehr nachgegangen werden, wodurch wiederum die Einnahmen zur Sicherung des Lebensunterhalts sinken und der „Workload“ der Studierenden ins Unermessliche steigt. Hierbei darf nicht vergessen werden, dass eine Vielzahl von Studierenden noch zusätzliche unbezahlte Care-Arbeit leistet. Außerdem entsteht der Konflikt, dass Studierende ihre Praktikumsstelle nicht mehr nur nach den eigenen Interessen auswählen, sondern nach vorhandener und höchstmöglicher Vergütung des Praktikums.

Durch die Corona-Pandemie haben sich die Herausforderungen jedoch um einiges verschlimmert. Dies betrifft zum einen die Vorbereitung des Praktikums als auch die eigentliche Praxisphase. Während der Pandemie einen Praktikumsplatz zu finden und ein Praktikum zu beginnen, stellt für Studierende eine sehr schwierige, riskante und auch oftmals zusätzlich belastende Angelegenheit dar.

Zum einen haben viele Einrichtungen coronabedingt fehlende Kapazitäten und müssen zeitweise sogar schließen, wodurch weniger Praktikaplätze angeboten werden können. Die lange Suche nach einer passenden Praxisstelle führt oft zu einem verzögerten Beginn. Außerdem kommt es vor, dass Studierende das Praktikum coronabedingt pausieren oder frühzeitig beenden, z.B. aufgrund von Coronafällen und/oder einer belastenden Arbeitsatmosphäre. 

Wurde ein Praktikumsplatz erfolgreich gefunden, stellt die Anerkennung der Praxiseinrichtung durch die Hochschule und die Unterzeichnung des Praktikumsvertrags eine weitere Hürde dar. Hier kommt es sowohl von Seiten der Arbeitgeber_innen als auch von Seiten des Praxisamtes der ASH Berlin zu verspäteten Bearbeitungen, oft aufgrund von Personalmangel und Überarbeitung. Einige Studierende starten dann ohne gültigen Praktikumsvertrag in ihr Praktikum mit der Unsicherheit, dass dieses eventuell gar nicht anerkannt wird.

Darüber hinaus setzen sich die Praktikant_innen einem zusätzlichen gesundheitlichen Risiko aus, indem sie während des Praktikums in Kontakt mit anderen Personen treten und dadurch sowohl sich selbst, als auch die Einrichtung zusätzlich gefährden, mit dem Corona-Virus infiziert zu werden. In der Praxisstelle begegnen einem oft auch andere Ansichten oder Haltungen bezüglich des Umgangs mit der Corona-Pandemie. Nicht selten werden die beschlossenen Maßnahmen bzw. Schutzkonzepte in Frage gestellt oder sogar abgelehnt. Viele Studierende berichten uns, dass sie sich ungeschützt fühlen, weil ihre Kolleg_innen keine Maske tragen, obwohl diese vor Ort zur Verfügung stehen. In einem uns bekannten Fall wurde von der Chefin der Einrichtung die Existenz und die Auswirkungen des Corona Virus angezweifelt und von einer Testung im Krankheitsfall sogar abgeraten.

 

"(...) Ich kann so viel sagen, dass ich mich selber nicht sicher fühle (obwohl ich keine Risikopatientin bin) und es auch kein Hygienekonzept gibt (habe nachgefragt)." (Hannah, 5.Sem. Soziale Arbeit)

 

Die Praktikumsphase war aufgrund der fehlenden Vergütung schon immer eine prekäre Phase, die sich nun durch Corona noch einmal mehr verschärft hat. Die in diesem Artikel genannten Missstände zeigen, dass großer Handlungsbedarf besteht und es neuer individueller Unterstützungsangebote für Studierende bedarf.

 

"Ich wünsche mir, dass die ASH für Studierende, die Risikopatient_innen sind, in Zeiten von Corona Alternativen zur Verfügung stellt." (Sophia, 5.Sem.Soziale Arbeit)

 

Damit Studierende in Zukunft weniger Belastungen ausgesetzt sind und sich mit der nötigen Zeit und Ruhe ihren Verstehens- und Lernprozessen hingeben können, wünschen wir uns einen öffentlichen Diskurs an der ASH Berlin. Dazu wäre es wichtig, sich als Studierende zu organisieren, zu politisieren und auf die Missstände aufmerksam zu machen, um zum Beispiel gemeinsam für eine gesetzlich verankerte Bezahlung der Praktika und für eine bessere Erreichbarkeit der ASH Berlin zu kämpfen.

Genau an diesen Punkten arbeitet bereits das Netzwerk Prekäres Praktikum und versucht sich bundesweit für Verbesserung der Praktikumsbedingungen einzusetzen.

Was denkt ihr über das Praktikum zu Zeiten von Corona? Welche Erfahrungen habt ihr gemacht? Schickt uns gerne eure Berichte an: sophia.ziese@inventati.org

 


[1]  Netzwerk Prekäres Praktikum (Okt. 2014): Eine empirische Studie über die sozioökonomische Lebenssituation Studierender unter: https://praktikum.junger-dbsh.de/wp-content/uploads/2020/06/forschungsergebnisse_npp_-14-10-14.pdf (Stand: 14.02.21)