Flüchtlingslager Moria, eine vorhergesagte Tragödie

Herausforderungen auch für die Soziale Arbeit

Im verbrannten Lager trägt ein Geflüchteter einen Koffer auf dem Rücken
Giorgos Moutafis / Refugee Support Aegean

Endlich ist geschehen, wovor mehrere politische und soziale Organisationen seit Monaten, seit Jahren warnten. Es ist endlich geschehen, Moria ist in Flammen aufgegangen, vom größten Flüchtlingslager Europas ist praktisch nichts mehr übrig geblieben.

Über das Drama und die Verzweiflung Tausender Flüchtlinge wurde schon lange vor dieser Tragödie über verschiedene Kanäle berichtet, die Corona Pandemie hat dieses Elend zugespitzt.
Die schon existierenden Hotspots, die im Winter 2016 auf den Inseln Lesbos, Leros, Chios, Samos und Kos gebaut worden sind und wo die Registrierungen stattfinden sollten, sind nach dem Türkei-Deal vom März 2016 zu Gefängnissen unter freiem Himmel geworden.
Die beschämenden Bedingungen, unter denen die Menschen dort leben müssen, sind das Ergebnis einer EU-Flüchtlingspolitik, die eine Festung Europa errichtet und die Flüchtlingsfrage der Verantwortung  der EU-"Peripherie" überlassen haben.

"Die Diskussion um die Festung Europa und die Konsequenzen der Migration und Flüchtlingspolitik stellt einen zentralen Aspekt der europäischen Krise dar und prägt das rechte Narrativ der letzten Jahre."

In dieser Weise bleibt die Frage des Sozialen die Sache der Nationalstaaten und es scheint, als sei die Stärkung der Agentur Frontex und damit die Aufrüstung der Grenzsicherung der einzige transnationale Lösungsansatz, um der Flüchtlingsfrage zu begegnen, lediglich begleitet von einem fragwürdigen Deal mit der Türkei. Dieser Deal erweist sich zunehmend als politisches Instrument der türkischen Außenpolitik zu Lasten der Geflüchteten. Nicht nur die prekären Verhältnisse für Geflüchtete in der Türkei, sondern auch die Abschiebungen u.a. in die Kriegsregion Idlib riefen scharfe Kritik hervor.
Die Diskussion um die Festung Europa und die Konsequenzen der Migration und Flüchtlingspolitik stellt einen zentralen Aspekt der europäischen Krise dar und prägt das rechte Narrativ der letzten Jahre.
Sehr passend brachte Étienne Balibar (2015) in einem Gastbeitrag in der Wochenzeitung „Die Zeit“ die Entwicklung auf den Punkt: „Was sich in Wirklichkeit gerade in Europa herausbildet, ist eine transnationale Front der Ablehnung von Flüchtlingen, in der die offen rassistischen Gruppen nur die Spitze des Eisbergs darstellen.“

Die Rolle der Sozialen Arbeit: Wir brauchen eine aktive und solidarische transnationale Perspektive.

Eine Antwort auf diese Entwicklung sind Aktionen wie die Seenotrettungen, die von selbstorganisierten Initiativen durchgeführt werden sowie die immense Solidarität in vielen Orten Europas zur Unterstützung der Geflüchteten und Migrant_innen, die konsequent die Politik der Abschottung in Frage stellen und das andere Gesicht Europas repräsentieren. Netzwerke wie die „Solidarity Cities“ oder die „Seebrücke“ sind aus diesen Initiativen hervorgegangen. Sie verkörpern eine transnationale Kooperation „von unten“, die sich als Teil der Zivilgesellschaft versteht. Diese transnationalen Strukturen artikulieren Forderungen an die politisch Verantwortlichen auf den nationalen Ebenen wie auch gegenüber den Institutionen der EU. Diese Forderungen orientieren auf einen finanziellen Lastenausgleich sowie eine adäquate Verteilung von Geflüchteten. Unter anderem geht es um die Einrichtung eines Asylsolidaritäts- oder Integrationsfonds aus Mitteln der EU, der den finanziellen Spielraum in den Kommunen stärken soll und somit auch die Handlungsmöglichkeiten in der Sozialen Arbeit erweitern würde. Die Soziale Arbeit und ihre Akteure sollten sich als Teil dieser Prozesse „von unten“ begreifen oder auch aktiv in solchen Initiativen und Debatten teilnehmen, wie Maria do Mar Castro Varela (2018: 19) schreibt: „Die Soziale Arbeit muss diese Herausforderung annehmen und einen ethischen Aktivismus beflügeln, der sich Regierungsdenken verweigert und stattdessen dekonstruktiv die eigene Disziplin, ihr Wissen und ihre Praxen zur Disposition stellt.“ Grundlage einer solchen Haltung ist es, die Soziale Arbeit als politisch umkämpftes Feld zu begreifen wie Uwe Hirschfeld (2012: 168) schreibt: „Die Soziale Arbeit ist in diesem Verständnis als ein hegemonialer Kampfplatz der verschiedenen Klassen und Klassenfraktionen, aber auch dazu quer liegender politisch-ideologischer Gruppierungen zu sehen […].“ Eine Auseinandersetzung mit der Rolle der Sozialen Arbeit und ihrer Widersprüche müsste grundsätzlicher geführt werden, u.a. um neoliberale Konzepte zu erkennen und in Frage stellen zu können. Dies scheint in der komplexen gesellschaftlichen und politischen Landschaft wichtiger denn je. Die Notwendigkeit, das kapitalistische System zu hinterfragen und offensive Kämpfe für eine andere Art der Sozialen Arbeit zu führen, wie in den 70er und 80er Jahren, scheint in Vergessenheit geraten zu sein.

"Eine transnationale Perspektive kann nur auf der Grundlage von gleichberechtigten Partner_innen beruhen, wozu ein Bewusstsein der eigenen Geschichte gehört."

Zu fragen wäre außerdem, welche Rolle die Soziale Arbeit bei der Betreuung von Geflüchteten zu spielen hat und welche Kompetenzen dazu vermittelt werden müssen. Welche Erfahrungen machen Geflüchtete, die nach Deutschland kommen? Welche transnationalen Perspektiven muss die Sozialarbeit im Kontext von Migration und Flucht berücksichtigen?

Eine transnationale Perspektive kann nur auf der Grundlage von gleichberechtigten Partner_innen beruhen, wozu ein Bewusstsein der eigenen Geschichte gehört. Nausikaa Schirilla (2018: 206) schreibt dazu: „Praxis- und forschungsorientierte Ansätze in einer transnationalen Perspektive der Sozialen Arbeit müssen aber auch das koloniale Erbe, westliche Überlegenheitsansprüche und aktuelle Machtverhältnisse mit reflektieren, ansonsten verbleiben sie in der herrschenden Ordnung, und Transnationalität stellt nur ein schickes globalisiertes Attribut ohne kritisches Potential dar.“

 Paula Maether studiert studiert im Master Praxisforschung in Sozialer Arbeit und Pädagogik.

 

Quellen:
Balibar, Étienne (2019): Stunde der Wahrheit, [online] https://www.zeit.de/2015/41/asypolitik-europa-fluechtlinge-angela-merkel/komplettansicht [15.09.2020]
Balibar, Étienne (2003): Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen, Hamburg: Hamburger Edition.
Castro Varela, María do Mar (2018): ‚Das Leiden der Anderen betrachten‘. Flucht, Solidarität und Postkoloniale Soziale Arbeit, in: Bröse, Johanna, Stefan Faas und Barbara Stauber (Hrsg.): Flucht - Herausforderungen für Soziale Arbeit, Wiesbaden: Springer Verlag, S. 4-20.
Hirschfeld, Uwe (2012): Gramscis Beitrag zur politischen Bildung Sozialer Arbeit, in: Eichenger, Ulrike und Klaus Weber (Hrsg.): Soziale Arbeit, Hamburg: Argument Verlag, S. 159-189
Schirilla, Nausikaa (2018): Transnationale Perspektiven auf Soziale Arbeit, in: Blank, Beate, Süleyman Gögercin, Karin E. Sauer und Barbara Schramkowski (Hrsg.): Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft, Wiesbaden: Springer Verlag, S. 199-208.