Zu Beginn des Gesundheits- und Pflegemanagement-Studienganges an der Alice Salomon Hochschule Berlin sind die Studierenden, die allesamt eine Pflegeausbildung absolviert haben, verpflichtet, das Modul „Berufsbezogene Reflexion“ zu belegen. Hierfür müssen sie unter anderem ein Portfolio verfassen, das die Beschreibung der positiven und negativen Erfahrungen in ihrem Ausbildungs- und Berufsalltag verlangt.
Die Negativerfahrungen sind oftmals alarmierend, stehen sie doch im krassen Gegensatz zum Grundgesetz. Semester für Semester beschreiben die ausgebildeten Gesundheits- und Krankenpfleger/-innen, Altenpfleger/-innen, Heilerziehungspfleger/-innen, dass sie erleben mussten, wie Menschen unsensibel bis würdelos aus ihren Betten gerissen, entkleidet und geduscht worden sind, wie über Menschen mit Demenz gespottet worden ist. Immer wieder wird beschrieben, wie ein zu geringer Personalschlüssel in Krankenhäusern, Altenheimen oder im ambulanten Pflegebereich dazu führt, dass die Zeit nicht für erklärende und anteilnehmende Gespräche, mitfühlende Gesten und angemessene Unterstützungen beim Essen und Trinken reicht. Wiederkehrend wird von hohen Belastungen bei der Pflege schwerstkranker und sterbender Menschen und im Umgang mit deren Angehörigen berichtet. Vielfach wird über die knappen Personal- und Zeitressourcen geklagt, die keine professionelle Begleitung der Menschen am Lebensende zulassen, aber auch Wissensdefizite und die räumlichen Bedingungen, vor allem der Mangel an Einzel- und Palliativzimmern, verhindern eine Sorge- und Palliativkultur.
Gleichwohl wird auch Gegenteiliges berichtet, etwa die Berücksichtigung palliativer Pflege in den neuen Ausbildungscurricula oder die vermehrte Berücksichtigung der Charta für hilfe- und pflegebedürftige Menschen in der Pflegepraxis (vgl. BMFSFJ/BMG 2009; Dielmann 2013; Oelke 2010). Insgesamt scheinen die positiven Erlebnisse allerdings eher an personengebundene Arbeits- und Verhaltensweisen geknüpft zu sein. So berichten die Studierenden häufig von einzelnen Vorgesetzten, Mitarbeiter_-innen, Mentor_innen, die ihnen ein Vorbild waren, weil sie die Würde und die Selbstbestimmung der zu pflegenden Menschen – soweit die Umstände und pflegerischen, körperintensiven Tätigkeiten dies erlaubt haben – achteten.
Nehmen wir uns an dieser Stelle einmal die Zeit für die Betrachtung einer Haben-Seite von Gesetzen und Kodizes, die grundsätzliche Aufgaben im Gesundheitswesen und deren Ausführung definieren und die Orientierung und Norm für den Pflegesektor sein sollten.
Wir haben seit 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Hierin wird für jede einzelne Person unter anderem festgehalten:
- dass ihr Privatleben nicht willkürlich verletzt werden darf (Artikel 12: Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Jeder hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen.),
- dass ihr gesundheitliches und soziales Wohlergehen zu gewährleisten ist (Artikel 25, Absatz 1: Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.)
Wir haben seit 1949 in der Bundesrepublik Deutschland das Grundgesetz mit dem oben genannten Artikel 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Wir haben seit 1961 die Europäische Sozialcharta, die in Artikel 23 Das Recht älterer Menschen auf sozialen Schutz festschreibt (Aichele/Schneider 2006).
Im Pflegebereich haben wir seit 1953 den Ethik-Kodex des International Council of Nurses (ICN), der in der Präambel festhält: … Untrennbar von Pflege ist die Achtung der Menschenrechte, einschließlich des Rechts auf Leben, auf Würde und auf respektvolle Behandlung.
Seit 2006 haben wir in Deutschland die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen, die in acht Artikeln die grundlegenden Rechte der Menschen definiert, die sich in einer vulnerablen Lebenssituation befinden, da sie der Unterstützung und Begleitung pflegender Personen bedürfen:
- Artikel 1: Selbstbestimmung und Hilfe zur Selbsthilfe: Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf Hilfe zur Selbsthilfe sowie auf Unterstützung, um ein möglichst selbstbestimmtes und selbstständiges Leben führen zu können.
- Artikel 2: Körperliche und seelische Unversehrtheit, Freiheit und Sicherheit: Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht, vor Gefahren für Leib und Seele geschützt zu werden.
- Artikel 3: Privatheit: Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf Wahrung und Schutz seiner Privat- und Intimsphäre.
- Artikel 4: Pflege, Betreuung und Behandlung: Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf eine an seinem persönlichen Bedarf ausgerichtete, gesundheitsfördernde und qualifizierte Pflege, Betreuung und Behandlung.
- Artikel 5: Information, Beratung und Aufklärung: Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf umfassende Informationen über Möglichkeiten und Angebote der Beratung, der Hilfe, der Pflege sowie der Behandlung.
- Artikel 6: Kommunikation, Wertschätzung und Teilhabe an der Gesellschaft: Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf Wertschätzung, Austausch mit anderen Menschen und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
- Artikel 7: Religion, Kultur und Weltanschauung: Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht, seiner Kultur und Weltanschauung entsprechend zu leben und seine Religion auszuüben.
- Artikel 8: Palliative Begleitung, Sterben und Tod: Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht, in Würde zu sterben. (BMFSFJ/BMG 2009)
Seit 2010 haben wir die Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen, die mittels fünf Leitsätzen ein würdevolles Lebensende zu realisieren versucht:
- Gesellschaftspolitische Herausforderungen – Ethik, Recht und öffentliche Kommunikation: Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Sterben unter würdigen Bedingungen. …
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Bedürfnisse der Betroffenen – Anforderungen an die Versorgungsstrukturen: Jeder schwerstkranke und sterbende Mensch hat ein Recht auf eine umfassende medizinische, pflegerische, psychosoziale und spirituelle Betreuung und Begleitung, die seiner individuellen Lebenssituation und seinem hospizlich-palliativen Versorgungsbedarf Rechnung trägt. ...
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Anforderungen an die Aus-, Weiter- und Fortbildung: Jeder schwerstkranke und sterbende Mensch hat ein Recht auf eine angemessene, qualifizierte und bei Bedarf multiprofessionelle Behandlung und Begleitung. …
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Entwicklungsperspektiven und Forschung: Jeder schwerstkranke und sterbende Mensch hat ein Recht darauf, nach dem allgemein anerkannten Stand der Erkenntnisse behandelt und betreut zu werden. ...
- Die europäische und internationale Dimension: Jeder schwerstkranke und sterbende Mensch hat ein Recht darauf, dass etablierte und anerkannte internationale Empfehlungen und Standards zur Palliativversorgung zu seinem Wohl angemessen berücksichtigt werden. ...
Diese juristisch-ethische Haben-Seite könnte fortgeführt oder auch anders geführt werden, etwa anhand der Veränderungen, die mit den jeweils neuen Ausbildungsgesetzen und -curricula für (Gesundheits- und) Krankenpflege, (Gesundheits- und) Kinderkrankenpflege, Altenpflege einhergegangen sind oder anhand der potenziellen Auswirkungen, die mit den aktuellen Modellversuchen (integrative oder generalistische Pflegeausbildung) oder den pflegespezifischen Studiengängen absehbar sind. Die vielfältigen Diskussionen, Bemühungen und Veränderungen rund um die Betreuung von Menschen mit Unterstützungs- und Pflegebedarf sind wichtig und sicherlich – im Sinne der Wahrung von Menschenwürde und Menschenrechten – auch mit zielführend. Doch können wir es dabei belassen? Nein! Essenziell ist, dass im gesamten Gesundheitsbereich die Gesetze, Kodizes und Chartas als stetige Grundlage aller ökonomischen, strukturellen und organisatorischen, bildungsspezifischen Planungen und Entscheidungen betrachtet und geachtet werden. Alle Pflegebereiche sind gehalten, hierfür Verantwortung zu übernehmen und immer wieder die Rechte für ein würdevolles Miteinander zu diskutieren und einzufordern.
In einer lebenslangen Gesellschaft, in der immer mehr Menschen mit Unterstützungs- und Pflegebedarf leben werden, müssen dafür finanzielle und personelle Ressourcen so umverteilt und bereitgestellt werden, dass jeder Mensch in Würde krank sein, pflegebedürftig sein, altern und sterben darf.
Die verschiedenen Pflegeberufe zusammengefasst, sind die zahlenmäßig größte Berufsgruppe im Gesundheitsbereich und somit könnte sie öffentlichkeitswirksam und effektiv die eingangs beispielhaft aufgeführten negativen, menschenunwürdigen Vorgänge thematisieren und auf den verschiedensten Ebenen nach Lösungen suchen.
Das muss die Einzelne/der Einzelne ein Stück weit in ihrem/seinem Tätigkeits- und Ausbildungsbereich leisten, vor allem aber ist hierfür ein höherer Organisationsgrad der Berufsgruppe(n) dringend geboten, ob in Form von Pflegekammern, Berufsverbänden und/oder Gewerkschaften sei dahingestellt. Unverzichtbar sind ein gemeinsamer politischer Wille sowie eine berufspolitische Stimme, die in der Gesellschaft gehört wird.
Prof. Dr. Gudrun Piechotta-Henze
E-Mail: piechotta@ash-berlin.eu
Literatur:
Aichele, V./Schneider, J. (2006): Soziale Menschenrechte älterer Personen in der Pflege, Berlin, 2. überarb. Auflage (Deutsches Institut für Menschenrechte)
BMFSFJ/BMG (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend/Bundesministerium für Gesundheit) (Hrsg.) (2009): Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen, Berlin
Dielmann, G. (2013): Krankenpflegegesetz und Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege. Text und Kommentar für die Praxis, 3. erw. u. akt. Aufl., Frankfurt/M.
Oelke, U. (Hg.) (2010): In guten Händen. Gesundheits- und Krankenpflege, Gesundheits- und Kinderkrankenpflege, Band 2, Berlin
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst in "Editorial" in "Pflege. Die wissenschaftliche Zeitschrift für Pflegeberufe, 2014, Heft 1, 27. Jg.: 3–5" und durfte mit freundlicher Genehmigung des Huber/Hogrefe Verlages im alice Magazin gedruckt werden.
Projekte zum Thema "Menschenrechte und Menschenwürde im Gesundheitswesen"
Country Report Germany zum Migrant Integration Policy Index - Health,
Dieser wurde in einer interdisziplinären Arbeitsgruppe (unter Mitwirkung von Prof. Dr. Theda Borde) im Rahmen des MIPEX 2015 erstellt und nimmt direkten Bezug zum Thema Recht auf Gesundheit.
Das international vergleichende MIPEX Health Projekt (auch unter Mitwirkung von Prof. Dr. Theda Borde).
Forschungsprojekt LedeMitH - Lebenswelten von demenziell erkrankten Migrantinnen und Migranten türkischer Herkunft und ihren Familien. Untersuchung zu Ressourcen und Belastungen unter Mitwirkung von Prof. Dr. Gudrun Piechotta-Henze.
Das Forschungsprojekt „GLEPA“ (Gleichgeschlechtliche Lebensweisen und Pflege im Alter) wird gefördert vom Institut für angewandte Forschung (IFAF Berlin). Es ist ein zweijähriges Kooperationsprojekt der Alice Salomon Hochschule Berlin mit der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (1.7.2015-31.7.2017). GLEPA forscht zu einer besonders vulnerablen Gruppe älterer Menschen im Schnittfeld pflegerischer Regelversorgung und Soziale Arbeit: Am Beispiel von pflege- und betreuungsbedürftiger lesbischer, schwuler, bisexueller sowie trans*- und intersex (LSBT*I) Senior_innen werden Fragen zu Individualität und Vielfalt in der Pflege aufgeworfen sowie Chancen und Grenzen Sozialer Arbeit in der Pflege diskutiert. Dabei soll das Potenzial des Pflegepersonals im Umgang mit pflegebedürftigen LSBT*I-Senior_innen sowie Folgen von Hetero- und Asexualisierung in pflegerischen Regeldiensten fokussiert werden.
Ein weiteres Forschungsprojekt "Glesa" - Gleichgeschlechtliche Lebensweisen und Selbstbestimmung im Alter - untersucht welchen Beitrag ein ehrenamtlich initiiertes, professionell organisiertes und selbstbestimmt konzipiertes Wohn- und Pflegeprojekt "Lebensort Vielfalt" für die kommunale Daseinsvorsorge und für die Sensibilisierung von Pflegekräften leisten kann.