„Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben.“ So lautet die allgemeine Erklärung der Menschenrechte Artikel 27, Abs. 1 – 1948.
Sind die Künste für alle zugänglich, ist die Teilhabe aller an kulturellem Leben gewährleistet? Wer hat die Definitionshoheit über die Künste, wessen kulturelle und künstlerische Praktiken erfahren gesellschaftliche Anerkennung und Förderung? Dienen Künste und kulturelle Praktiken nicht vielmehr dem Distinktionsgewinn und können sogar zu Exklusion führen – gerade von Adressat_innen der Praxis der Sozialen Arbeit? Wie lassen sich die Potenziale von Kunst und Kultur nutzen? Und was kann Kulturarbeit mit Geflüchteten überhaupt leisten – zum Beispiel mit Musik?
Zugänge eröffnen, Teilhabe ermöglichen
In der Sozialen Kulturarbeit mit Geflüchteten besteht die Herausforderung, es zu vermeiden, „Menschen auf ihren Fluchtstatus zu reduzieren (und es dennoch zu schaffen), Geflüchtete und ihre Geschichten sichtbar zu machen“1 In den letzten beiden Jahren gab es in Deutschland eine Vielzahl von Projekten der kulturellen Bildung, bei denen immer wieder biografische Fluchtgeschichten fokussiert wurden.2 Die Evaluation solcher Projekte in Berlin zeigt, dass beispielsweise Jugendliche mit Fluchtgeschichte als Menschen mit ihren individuellen, (alters-)spezifischen Interessen wahrgenommen werden wollen. (Jugend-)Kulturelle Praxen sollten nicht auf die Präsentation klischeehafter vermeintlicher „Nationalkulturen“ reduziert werden. Im Gegenteil sind die meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen global vernetzt. Im Bereich von Jugendarbeit und Streetwork sind Beispiele der Arbeit mit jungen Geflüchteten zu nennen, die sich auf globale Musikkulturen wie den Hip-Hop beziehen: Im Kamener Jugendkulturcafé (JKC) ist die Zusammensetzung der jugendlichen Besucher/-innen grundsätzlich divers, was ihre Herkünfte anbelangt. Junge Geflüchtete finden hier leicht Zugang zum offenen Bereich – und eben auch zum Musikbereich. Und so erhalten aus Westafrika geflüchtete Jugendliche die Möglichkeit, selbst Raps zu produzieren, aufzunehmen und im JKC vorzuführen. „Für Kanté, dem seit einiger Zeit in der beengten Unterkunft die Decke auf den Kopf fällt, bedeutet das Musizieren vor allem: etwas zu tun (...) ‚Was die Musik uns gibt? Sie macht uns frei!‘, sagt Adam. Die Tracks erzählen aber nicht in erster Linie Flüchtlingsrealitäten.“3
Stimmen. Los! Ein Projekt von Studierenden der Sozialen Arbeit an der Alice Salomon Hochschule
In den Jahren 2011/12 noch vor der aktuellen Fluchtbewegung, organisierten Studierende der Alice Salomon Hochschule Berlin (ASH Berlin) das Projekt „Stimmen. Los!“ für Kinder und Jugendliche in einer Unterkunft für Geflüchtete in Berlin-Marzahn. Die Studierenden waren von ihren Hintergründen her divers und vielsprachig. Dies war von Vorteil für die Ansprache der Bewohner/-innen der Unterkunft. Ein Teil der Studierenden waren selbst praktizierende Musiker/-innen und verbanden in ihrer Projektarbeit Aufgaben der Schulsozialarbeit (wie Hausaufgabenbetreuung, Begleitung bei Ämtergängen) mit musikalischer Bildungsarbeit. In Kooperation mit den Berliner Rock- und Hip-Hop-Mobilen und dem ASH-Chor „Singin’ Alice“ boten sie regelmäßig verschiedene offene Musikworkshops an, die sie im Juli 2012 mit einer öffentlichen Aufführung und einem Fest in der Unterkunft abschlossen.
Zentrales Anliegen der Studierenden waren die Ermöglichung von kultureller und gesellschaftlicher Teilhabe für Kinder und Jugendliche durch niedrigschwellige kulturelle Angebote, die Einbeziehung lokaler Kooperationspartner/-innen, wie eines Zirkus- und Jugendprojekts, und die Sicherung eines dauerhaften Kooperationsnetzwerks der sozial stark isolierten Unterkunft. Das letztgenannte Anliegen ist ein hoher Anspruch, dessen Umsetzung die Studierenden aufgrund ihres zeitlich begrenzten Projekts nur anstoßen, aber selbst nicht weiter verfolgen konnten. In Unterkünften für Geflüchtete ist es aufgrund von Fluktuation und immer wieder existenziellen Herausforderungen für die Bewohner/-innen (vor allem Unsicherheit ihres Aufenthaltsstatus) schwierig, kontinuierlich zum Beispiel an einem Projekt wie „Stimmen. Los!“ teilzunehmen. Wann immer die Kinder und Jugendlichen aber beteiligt waren und Musik spielten/sangen/beatboxten und rappten, war die Stimmung gut. So resümierte eine der mitwirkenden Studierenden: „Vielleicht ist das schon eine Kleinigkeit, die weiterhelfen kann. So wie V. (ein jugendlicher Geflüchteter) heute gesagt hat, dass es einfach toll für ihn war, drei Stunden Schlagzeug zu spielen, neue Sachen zu lernen und das, was er früher gelernt hat wieder zu spielen. Er ist mit einem Grinsen gegangen und freut sich aufs Fest morgen, darauf, mit aufzutreten und möchte das auch zeigen“.4
Potenziale und Grenzen Sozialer Kulturarbeit
Soziale Kulturarbeit, wie sie an der Alice Salomon Hochschule Berlin seit den 1980er-Jahren gelehrt und weiter entwickelt wurde, ist gesellschaftspolitisch engagiert und zielt auf das Empowerment von vor allem sozial benachteiligten Individuen, Gruppen und Communities. Soziale Kulturarbeit entwickelt je nach den Lebenslagen, Interessen und Ressourcen von Adressat_innen und je nach Handlungsfeldern unterschiedliche Profile. Sie bietet Menschen Raum, Ressourcen und Anregungen, ihre kreativen Potenziale zu entdecken und zu entwickeln. Im Zentrum steht ästhetisch-künstlerisches kreatives Gestalten.
Soziale Kulturarbeit kann einen Beitrag zur Lebensbewältigung ihrer Adressat_innen leisten, indem sie „soziale Ausgrenzung zu erkennen und zu verringern“5 versucht Sie kann Zugänge eröffnen, Erfahrungen von Benachteiligung und Diskriminierung auf künstlerisch-symbolische Weise zum Ausdruck bringen, kritisch thematisieren und öffentlich machen, doch sie kann strukturelle soziale Probleme nicht lösen. Problematisch ist eine Kulturalisierung sozialer Probleme. Die Stärke der Kulturarbeit „ist die Artikulation, das Aufmerksamkeit-Erzeugen, das Audio-Visualisieren. Aber wenn die Lichter gelöscht und die Hochglanzplakate eingerollt sind, haben die Individuen es mit ihrer eigenen Lebensbewältigung zu tun und stehen in der Exklusions- beziehungsweise Inklusionslogik anderer Teilsysteme“.6
Kultur wird von Menschen gemacht, von jedem Einzelnen und von allen zusammen. Kultur wirkt auf die Menschen und prägt sie. Sie ist nichts Festgelegtes, es kann auch nie die „eine“ oder „die“ Kultur geben. Vielmehr entwerfen Menschen im sozialen Handeln immer wieder neue Lebenspraktiken, Ausdrucksweisen und Vereinbarungen. Alltagskulturen, die Arbeits- und Lebensweisen, aber auch die Musik, die Künste, die Umwelt und die Medien sind in stetiger und vielfältiger Bewegung. Soziale Kulturarbeit unterstützt Menschen darin, in dieser Dynamik ihre individuellen und gemeinsamen Wege zu finden.
Prof. Dr. Elke Josties
E-Mail: josties@ash-berlin.eu
Literatur
1 Maren Ziese, Caroline Gritschke: Flucht und Kulturelle Bildung. Bestandsaufnahme, Reflexion, Perspektiven. In: dies. (Hg.): Geflüchtete und Kulturelle Bildung. Formate und Konzepte für ein neues Praxisfeld. Bielefeld: 2016, S. 26.
2 Es folgen leicht bearbeitete Ausführungen des Fachartikels: Elke Josties (2017): Musik – eine universale Sprache? Musik und Soziale Kulturarbeit in Zeiten von Globalisierung, Migration und Flucht. In: SozialAktuell. Bern: avenir social, S. 22–24.
3 http://www.rp-online.de/nrw/panorama/kamen-fluechtlinge-rappen-ihre-geschichte-aid-1.5398070 - comment-list. Zugriff: 15.12.2016.
4 Zitat Anne-Katrin Ragwitz, Studierende der Alice Salomon Hochschule Berlin. In: Landesarbeitsgemeinschaft Populäre Musik Berlin e. V. ©: Stimmen. Los! Eine musikalische Begegnung. DVD im Eigenvertrieb.
5 Treptow, Rainer: Kulturelle Strategien und soziale Ausgrenzung. Tagung „Shortcut Europe“ am 5. Juli 2010. In:http:// www.fonds-soziokultur.de/shortcut/07/news/kulturelle-strategien-und-soziale-ausgrenzung/, S. 5, Zugriff: 19.4.2013.
6 Treptow ebd., S. 7.
Projekt zum Thema "Das Recht auf kulturelle Teilhabe"
Das IFAF-geförderten Praxisforschungsprojekt VieL*Barfindet im Rahmen des 5-jährigen Modellprojekts „ALL INCLUDED – Museum und Schule gemeinsam für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt“ am Jugend Museum Berlin statt.