Eigentlich sollte man meinen, dass die allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 für ALLE, und damit auch behinderte Menschen Gültigkeit haben sollte. Tatsächlich jedoch waren behinderte Menschen im Rahmen der UN bis ca. 1970 als Bürger/-innen unsichtbar und lediglich Objekte der Medizin und Fürsorge. Damit war Behinderung kein Thema für die Menschenrechtskommission, sondern für die Sozialkommission der Vereinten Nationen sowie die Weltgesundheitsorganisation. In den 1970ern begann sich das Denken langsam zu verändern und es wurden erste, sogenannte weiche – weil rechtlich nicht bindende – Völkerrechtsdokumente verabschiedet, mit denen langsam die Anerkennung der Menschenrechte behinderter Menschen begann. Stärker in den Fokus genommen werden die Menschenrechte behinderter Menschen erst ab den 1980er-Jahren: 1981 wurde zum „UNO Jahr der Behinderten“ ausgerufen, dem eine „UN-Dekade der Behinderten“ (1983–1992) folgte. Zum Ende dieser Dekade, in der es bereits einige erfolglose Vorstöße für eine eigene Menschenrechtskonvention gegeben hatte, wurde ein Bericht über die menschenrechtliche Lage behinderter Menschen in Auftrag gegeben. Der Bericht verdeutlichte, dass Menschenrechtsverletzungen an behinderten Menschen in allen Mitgliedstaaten der UN vorgefunden wurden. Ebenfalls 1993 erfolgt die Verabschiedung der „Rahmenbestimmungen für die Herstellung von Chancengleichheit für Behinderte“ – auch diese waren „weiches“ Völkerrecht und somit nicht rechtsverbindlich, trugen jedoch zur Veränderung des behindertenpolitischen Diskurses vieler Länder bei. 2000 wurde eine Studie zur menschenrechtlichen Situation behinderter Menschen in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse 2002 vorlagen und, wie der Bericht von 1993, weltweit massive Menschenrechtsverletzungen an behinderten Menschen feststellte und verdeutlichte, dass eine Menschenrechtskonvention für behinderte Menschen dringend benötigt wurde. Parallel zur Erstellung dieser Studie wurde 2001 auf Initiative Mexikos ein sogenannter Ad-hoc-Ausschuss eingerichtet, dessen Aufgabe es war, eine Menschenrechtskonvention für behinderte Menschen zu erarbeiten.
An der Erstellung dieser Konvention waren sehr viele Mitgliedstaaten, aber auch viele NGOs beteiligt. Letztere sorgten auch dafür, dass die zunächst nicht berücksichtigten besonderen Benachteiligungen behinderter Mädchen* und Frauen*, die damit in der Konvention unsichtbar geblieben wären, mittels des sogenannten „twin-track-approach“ in der Konvention sichtbar wurden: Mit Artikel 6 – „Frauen* mit Behinderungen“ wurde explizit die intersektionale Diskriminierung behinderter Frauen* benannt. Darüber hinaus gibt es Verweise auf geschlechtsbezogene Aspekte in anderen Artikeln.
Durch die Konvention ist Behinderung jetzt weltweit kein medizinisches oder sozialrechtliches „Problem“ mehr, sondern eine Menschenrechtsangelegenheit geworden. Dieser Paradigmenwechsel spiegelt sich auch in dem zugrunde liegenden Behinderungsbegriff, der das in den Behindertenbewegungen entwickelte soziale Modell aufgreift: (als behindert gelten) „Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“ (Art. 1 Abs. 2). Mit der UN-BRK werden keine neuen oder gar „spezielle“ Menschenrechte für behinderte Menschen eingeführt, sondern die bestehenden Menschenrechte anhand der von zahlreichen Menschenrechtsverletzungen geprägten Lebenswirklichkeit behinderter Menschen „ausbuchstabiert“ und die inzwischen 172 Unterzeichnerstaaten verpflichtet, diese in geltendes Recht umzusetzen. Die UN-BRK wurde am 13. Dezember 2006 von der UN-Generalversammlung verabschiedet. In Deutschland ist sie seit 26. März 2009 in Kraft. Dass auch Deutschland davon noch weit entfernt ist, hat die Staatenprüfung 2015 mehr als deutlich gezeigt – allerdings ist die UN-BRK für Organisationen und Akteur_innen im Themenfeld Behinderung ein gutes Instrument, immer wieder auf Missstände hinzuweisen und deren Abschaffung einzufordern.
Prof. Dr. Swantje Köbsell
E-Mail: koebsell@ ash-berlin.eu
Weiterführende Literatur
Theresia Degener, Elke Diehl (Hg.) (2015): Handbuch Behindertenrechtskonvention. Teilhabe als Menschenrecht – Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn.
Projekt zum Thema Menschenrechte für behinderte Menschen
Forschungsprojekt LedeMitH - Lebenswelten von demenziell erkrankten Migrantinnen und Migranten türkischer Herkunft und ihren Familien. Untersuchung zu Ressourcen und Belastungen unter Mitwirkung von Prof. Dr. Gudrun Piechotta-Henze.