Seitenwechsel „Glauben Sie keinesfalls Ihren Professorinnen und Professoren!“

Alumnus Jan V. Wirth spricht über seinen Weg zur Professur, Herausforderungen für die Soziale Arbeit und seine schönsten Lehrerfahrungen.

Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an Ihre Studienzeit an der ASH Berlin zurückdenken?

Da ich erst mit 35 Jahren zum Studium gekommen bin, hatte ich es eilig, durch das Studium zu kommen und konnte es vorfristig abschließen. Nebenbei habe ich damals im Computerzentrum der ASH Berlin gearbeitet. Instruktiv waren mir die Lehrerfahrungen, die ich dabei gemacht habe. Die positive Resonanz ließen in mir den Wunsch heranreifen, selber dauerhaft in der Lehre tätig zu werden. Allerdings denke ich schon deswegen oft und gerne an die Studienzeit, da ich mit einer mir besonders attraktiv erscheinenden Kommilitonin Ehe und Familie begründete.

 

Was macht das Studium an der ASH Berlin besonders im Vergleich zu anderen Hochschulen, die Sie kennengelernt haben?

Die ASH Berlin bietet meines Erachtens eine richtig tolle Ausbildung. Ich habe bei fachkundigen und renommierten Professor_innen wie Ruth Großmaß und Reinhart Wolff viele Einsichten mitgenommen. Unter diesen Persönlichkeiten spielt sicher eine Person eine besondere Rolle, nämlich Heiko Kleve, nunmehr Lehrstuhlinhaber an der Universität Witten/Herdecke.

Mit ihm verbindet mich bis heute eine Arbeitsbeziehung und persönliche Freundschaft, die getragen ist von der Suche nach für die professionelle Soziale Arbeit geeigneten Konzepten und Methoden. Da auch Heiko Kleve an der Alice Salomon Hochschule studierte, können Karrieren wie diese Beleg sein für die sehr gute Ausbildung an der Hochschule.

 

Wie ging es dann nach dem Studium weiter?

Ich geriet in eine Zwickmühle von Praxis und Lehre. Einerseits benötigte ich praktische Erfahrung, andererseits hatte ich zufällig ein Angebot für eine Vertretungsprofessur an der HAWK in Hildesheim, Standort Holzminden. Da ich mich eher in der Lehre als in der Praxis einbringen kann, entschied ich mich für die Vertretung der Professur. Während der Vertretungsprofessur konnte ich Praxisberatungs-Aufträge übernehmen, sodass ich von da meine berufliche Erfahrung aufbauen konnte.

 

Wie ging es nach der Promotion weiter?

Um nach zwei Vertretungsprofessuren in eine dauerhafte Professur zu kommen, brauchte ich den Doktortitel. Zwischen Professur und Familie schloss ich dann endlich die Promotion zum Doktor der Philosophie im Fach Soziologie mit Auszeichnung bei Albert Scherr an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg im Breisgau ab. Titel war „Die Lebensführung der Gesellschaft“, später bei Springer veröffentlicht. Zunächst übernahm ich wieder eine befristete Professur an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Erst später bekam ich ein attraktives Angebot mit viel Freiraum und Gestaltungsmöglichkeiten von der DIPLOMA-Hochschule, und zwar einen systemischen virtuellen Masterstudiengang „Psychosoziale Beratung in Sozialer Arbeit“ (Master of Arts) von Anfang an aufzubauen und zu leiten.

 

Was sind Ihre Aufgaben als Studiendekan an der Diploma-Hochschule?

Nach dem Start des Studienganges ist für mich Aufgabe, den Studiengang fachlich zu begleiten und zu optimieren mit Blick auf Lerneffekte und Ruf der Diploma-Hochschule, die als Pionierin in der Fernlehre bekannt ist. Außerdem bin ich in der Verwaltung für Dozenten zuständig sowie für die Entwicklung von Studienheften und Beratung von Interessentinnen und Interessenten des Studiengangs. Neben meinen Lehrveranstaltungen bin ich als Koordinator für Forschung und Entwicklung an der Hochschule tätig. Hier ist mir die Vernetzung und Verknüpfung von Forschungsaktivitäten verschiedener Fachbereiche wichtig.

 

Was zählt zu Ihren schönsten Lehrerfahrungen?

In Erinnerung geblieben sind insgesamt betrachtet etwa wochenlange Seminare zur Sozialarbeitswissenschaft an der Staatlichen Berufsakademie in Breitenbrunn im schönen Erzgebirge. Dort haben wir – die Studierenden und ich – nicht nur zusammen gelitten an der Theorie Sozialer Arbeit, sondern diese auch gebührend gefeiert.
An der Kremser Uni in Österreich haben mir die Rahmenbedingungen super gefallen. Zu meinen Lehraufträgen wurde ich mit dem Taxi vom Wiener Flughafen abgeholt, nach Krems gefahren und wieder zurückgebracht. Das nenne ich mal Service.

 

Sie arbeiten seit über 10 Jahre auch als Systemischer Praxis-Berater und Supervisor. Was machen Sie genau?

Ich habe Kindertagesstätten, Jugendämter und stationäre Träger oder ambulante Träger Sozialer Arbeit begleitet. In der Kita waren beispielsweise Fragen relevant, die die Elternarbeit, den Umgang mit auffällig gewordenen Kindern oder den kollegialen Umgang miteinander betreffen. Hingegen sind die Fachkräfte im Jugendamt an der professionellen Fallbearbeitung und -reflektion interessiert. All diese Aufgabenstellungen lassen sich mit dem Systemischen Arbeiten, für das vieles meiner Arbeit steht, gut erledigen.

 

Welche berufspolitischen Ziele sind Ihrer Meinung nach für den Bereich der Sozialen Arbeit wichtig?

Wieviel Platz haben wir im Magazin? Für mich stehen Konsolidierung und Weiterentwicklung von Qualität an erster Stelle. Diese Konsolidierung sollte einhergehen mit einem dichten Transfer zwischen Praxis und Theorie. Wichtig scheint mir aktuell der Aufbau einer Art Berufskammer für Sozialarbeiter_innen und Sozialpädagog_innen. Wenn ich etwa sehe, wie Fachkräfte der Sozialen Arbeit von ihren Kolleg_innen, Leitungskräften und Arbeitgeber_innen in der Stagnation, in Krisen und Zeiten hoher Arbeitsbelastung im Stich gelassen werden, wird mir schlecht. Und schließlich geht es um den Abbau der m. E. zu hohen Abhängigkeit Sozialer Arbeit von politischen und staatlichen Institutionen.

 

Welche Tipps können Sie unseren Studierenden mit auf den Weg geben?

Glauben Sie keinesfalls Ihren Professorinnen und Professoren! Machen Sie sich ein eigenes Bild der historischen wie aktuellen Widersprüchlichkeit der Gesellschaft und ihrer Lebensführung, zum Beispiel in der Bibliothek, auf der Arbeitsstelle, während des Praktikums. Zetteln Sie Gespräche an. Gespräche auf gleicher Augenhöhe und wertschätzend. Nicht belehrend, sondern lernend. Nicht bejahend, sondern kritisch. Zuhörend um zu verstehen, nicht, um etwas sagen zu können. Ich bin davon überzeugt, dass die meisten Menschen etwas wie das möchten – sozial als Individuum gesehen, gehört und vor allem in ihrer individuellen Empfindsamkeit und Komplexität ernst genommen zu werden. Das hiermit unweigerlich Widersprüche und Ambivalenzen aufgeworfen sind, ist offenkundig. Diese Ambivalenzen lassen sich zwar nicht auflösen, immerhin aber systemisch und mit postmoderner Perspektive ausnutzen für mehr reflexives Leben und Handeln. 

 

 

 

Die Fragen stellte Barbara Halstenberg.