Seitenwechsel Hürrem Tezcan-Güntekin in Neunte Altersberichtskommission berufen

Interview mit der ASH-Professorin für interprofessionelle Handlungsansätze mit Schwerpunkt auf qualitativen Forschungsmethoden in Public Health

Portraitfoto von Prof. Dr. Dr. Hürrem Tezcan-Güntekin.
Michael Schaaf

Prof. Dr. Dr. Hürrem Tezcan-Güntekin wurde am 6.7.2022 von Bundesseniorenministerin Lisa Paus zum Mitglied der Sachverständigenkommission für den Neunten Altersbericht der Bundesregierung berufen. Hürrem Tezcan-Güntekin ist an der ASH Berlin Professorin für interprofessionelle Handlungsansätze mit Schwerpunkt auf qualitativen Forschungsmethoden in Public Health und u.a. Mitglied im Fachausschuss "Alter und Pflege" des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V.

Professorin Tezcan-Güntekin, herzlichen Glückwunsch zur Berufung in die Sachverständigenkommission! Welche konkrete Aufgabe werden Sie in der Kommission übernehmen?

Ich werde gemeinsam mit anderen Kommissionsmitgliedern voraussichtlich unter dem Querschnittsthema der Intersektionalität einen Beitrag zu drei Schwerpunkten leisten: erstens zu Versorgungszugängen älterer Menschen mit Migrationshintergrund, zweitens zur gesellschaftlichen und gesundheitlichen Teilhabe von LSBTIQ*-Personen und drittens zu Teilhabechancen pflegender Angehöriger. Wir werden die derzeitige Situation und künftig erforderliche Entwicklungen in Workshops und Expert_innengesprächen analysieren und in den Altersbericht einbringen. 

Welche Fachexpertise und Interessen bringen Sie mit in die Kommission?

Ich forsche seit nunmehr zehn Jahren zu den Themen „Diversitätssensible Pflege“ mit dem Schwerpunkt auf „Demenz und Migration“, „Transnationale Gesundheitsversorgung chronisch kranker Menschen“, „Ethische Aspekte pflegerischer Versorgung und Forschung“ und seit einigen Jahren zum Thema „Erstversorgung nach sexualisierter Gewalt und Gewalt in Paarbeziehungen“. In die Kommission bringe ich großes Interesse daran mit, Realitäten, wie z.B. Rassismus und Diskriminierung, klar zu benennen und sichtbar zu machen, statt sie vage zu umschreiben oder unter „Barrieren“ zu subsummieren, wie es in den letzten Jahrzehnten in der Public Health- und pflegewissenschaftlichen Forschung häufig erfolgte.

Das Thema des Neunten Altersberichts lautet „Alt werden in Deutschland – Potenziale und Teilhabechancen“. Wie sieht Ihre Zukunftsvision für eine gerechte Teilhabe der älteren Generation aus?

Ein zentraler Aspekt besteht in der Verringerung von sozialen und gesundheitlichen Ungleichheiten, wobei diese Dimensionen häufig auch miteinander in Verbindung stehen, wie aus der Forschung zu sozialen Determinanten für Gesundheit bereits bekannt ist. Verschränkungen von potentiell zu Diskriminierung führenden Diversitätsmerkmalen wie u.a. Armut, Bildungsstand, eigene oder familiäre Migrationserfahrung, Rassismuserfahrungen, sexuelle Orientierung, geschlechtliche Identität, die unter dem Begriff Intersektionalität gefasst werden können und nicht immer sichtbar sind, müssen im Hinblick auf soziale und gesundheitliche Teilhabe zum einen sichtbar gemacht und zum anderen verringert werden. Da diese häufig mit tradierten Machtstrukturen zusammenhängen, birgt der Fokus des aktuellen Altersberichtes auf Vielfalt die Chance, einen machtkritischen Blick auf die Teilhabemöglichkeiten von Menschen zu richten. Besonders erfreulich ist, dass die Beauftragung für den Altersbericht diese intersektionale Perspektive ermöglicht und die Zusammensetzung der Kommission fruchtbare und spannende Diskussionen verspricht.

 

Kürzlich erschienene wissenschaftliche Fachbeiträge von Prof. Dr. Dr. Hürrem Tezcan-Güntekin:

Healthcare Provider Perspectives on Digital and Interprofessional Medication Management in Chronically Ill Older Adults of Turkish Descent in Germany: A Qualitative Structuring Content Analysis
https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpubh.2022.838427/full

Ethical and Methodological Challenges in Research With Hard-to-Reach Groups: Examples From Research on Family Caregivers for Migrant Older Adults Living With Dementia
https://academic.oup.com/gerontologist/advance-article/doi/10.1093/geront/gnab179/6455354

Zurück in die Pflege: Zwischen „Sollen“, „Wollen“ und „Können“ – Berufsidentitäten von Pflegefachkräften in Krisensituationen am Beispiel der Sars-CoV-2-Pandemie
https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/abstract/10.1055/a-1531-5079

Intersectionality and its relevance for research in dementia care of people with a migration background
https://trebuchet.public.springernature.app/get_content/c8a1ceb7-3bea-4830-97eb-5fe075621bb5

 

 

Über den Neunten Altersbericht der Bundesregierung:

Die Seniorenpolitik der Bundesregierung zielt darauf ab, älteren Menschen in ihrer ganzen Vielfalt ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und soziale Teilhabe zu sichern. Dabei gilt es, die Merkmale zu identifizieren, die Unterschiede für die Lebenssituationen und Teilhabemöglichkeiten älterer Menschen ausmachen und die deshalb besonders aufmerksam beobachtet werden sollten. Vor dem Hintergrund der großen Trends unserer Zeit sind Faktoren dazugekommen, die auch in den Blick genommen werden müssen. Die Neunte Altersberichtskommission soll hierfür ein Lagebild der älteren Menschen in Deutschland zeichnen und v. a. der Politik auf allen staatlichen Ebenen Empfehlungen für die so notwendige Sicherung von Teilhabechancen im Alter in ganz Deutschland erarbeiten.

Pressemitteilung des BMFSFJ "Ministerin Paus beruft Neunte Altersberichtskommission"

 

 

Die Fragen stellte Susann Richert.