Soziale Arbeit und Corona Hinsehen… hingehen… handeln…

Straßensozialarbeit in Zeiten der Covid-19-Pandemie. Ein Erfahrungsbericht

Unter Streetwork können sich viele Menschen, die mit Sozialer Arbeit nichts zu tun haben, kaum etwas vorstellen. Streetwork bzw. Straßensozialarbeit richtet sich an die Menschen, die sich im öffentlichen Raum bewegen und aufhalten und die wohnungslos oder von Wohnungslosigkeit bedroht sind. Seit fast zwei Jahren arbeite ich, neben dem Studium der Sozialen Arbeit an der ASH Berlin, für den Träger Gangway e.V. als Straßensozialarbeiter mit Jugendlichen und jungen Heranwachsenden auf dem Alexanderplatz. Einige von ihnen sind wohnungslos oder bereits seit längeren auf der Straße. Ein weiterer Teil verbringt viel Zeit zwischen den einzelnen Notunterkünften und hangelt sich von Einrichtung zu Einrichtung. Ein überschaubarer Teil wohnt bei den Eltern, schläft aber bei anderen Freunden oder ist durch Konflikte im Elternhaus zu Freunden oder Beziehungspartner_innen gezogen.

Mit dem Auftreten der Covid-19-Pandemie mussten auch wir uns als Streetworker_innen-Team fragen, wie wir unseren Arbeitsauftrag, unserem Selbstschutz und den Schutz für andere Personen wahrnehmen können.

„Covid-19 hat uns in der Sozialen Arbeit immens eingeschränkt.“

„Wie kann Streetwork in Zeiten der Pandemie aussehen?“ war meine Frage in einer Teamsitzung im Februar 2020. Covid-19 hat uns in der Sozialen Arbeit immens eingeschränkt. Seit der Infektionseindämmung waren es Aufforderungen wie z.B. Social-Distancing, Home-Office oder die Kontaktbeschränkung, die unseren Lebensalltag bestimmt haben.
Als Streetworker_innen unterwegs zu sein bedeutet oft, dass wir in den Lebensraum von Jugendlichen und jungen Heranwachsenden gehen und hilfebedürftige Menschen unmittelbar wahrnehmen und ansprechen. Die Besonderheit des Alexanderplatzes ist seine magische Anziehungskraft für viele Menschen, die zugleich für andere Menschen abstoßend ist. Der Alexanderplatz ist quasi wie ein großer Magnet, bei dem die magnetische Polung der Menschen immer von ihrer subjektiven Wahrnehmung bestimmt wird.

Zu Beginn der Corona Pandemie haben wir uns innerhalb des Trägers Gedanken dazu gemacht, wie es weitergehen kann, damit einerseits der Arbeitsauftrag wahrgenommen wird, es keine Beziehungsabbrüche gibt und wir uns andererseits selbst schützen können. Zunächst nutzten wir das Home-Office für administrative Aufgaben, sowie für Sitzungen über Video-Chats. wir konnten angehäufte E-Mails schneller beantwortet, die Social-Media Kanäle und Benachrichtigungen erklangen in einem dauerhaften und monotonen Rhythmus und der Kontakt zu der Zielgruppe wurde via Smartphone aufrecht gehalten.

Eigentlich wollte ich keinen Bürojob machen und deswegen hatte ich mich damals bewusst für Gangway entschieden. Aber durch die aktuelle Situation war auch ich als Streetworker teilweise an die Arbeit am Tisch verdonnert worden. Nach weiteren Erkenntnissen über das Virus und der Anordnung von einer Schutzmaske konnten wir wieder dann wieder auf den Alexanderplatz fahren.

,,Aber jetzt… merk ick so rischtig wie dit is, wenn man nur noch Luft ist!“

Mein Weg führt durch die Bahnhofshalle, vorbei an McDonalds und den wartenden Gästen entlang. Vor dem Ausgang werde ich mit den Worten ,,Aber bitte mit Sahne!“ von Mike begrüßt, einer der etwas älteren Herren im Rollstuhl, der jegliche TV Jingles auf Knopfdruck singt und seine Zeit am Bahnhof verbringt.

Im Gespräch mit Mike zur aktuellen Situation äußerte er sich wie folgt:

,,Na weißte Ron, ick leb jetzt schon lange uff der Straße und ick hab sowat noch nie erlebt… damals war dit schon immer schwierig gewesen, sich überhaupt mal nen Kaffee oder so zu kaufen… als Obdachloser kriegste wenigstens noch nen blöden Blick zugeworfen… aber jetzt… merk ick so rischtig wie dit is, wenn man nur noch Luft ist!“

Jeder von uns beobachtet Situationen und Begegnungen und bewertet diese aus der eigenen subjektiven Wahrnehmung heraus. So wurden obdachlose Menschen während des Lockdowns teilweise gemieden, weiterhin mit Vorurteilen konfrontiert und sich selbst überlassen. Durch Zusammenschlüsse mit mehreren Trägern und Akteuren organisierten sich sogenannte Gabenzäune in Berlin, die für hilfebedürftige Menschen zugänglich gemacht wurden. Mitatbeiter_innen von Einrichtungen der Obdachlosenhilfe fuhren zu den Menschen hin und leistete innerhalb des Möglichen und ihrer eigenen Ressourcen zielgerichtete Hilfen. Viele Menschen engagierten sich solidarisch und halfen denjenigen, die es letztendlich am härtesten getroffen hat.

Wir sollten nicht vergessen, dass es für jeden Menschen da draußen, ganz egal aus welcher Gesellschaftsschicht er kommt, eine besondere und auch belastende Situation geworden ist. Soziale Interaktionen fehlen, Begegnungen werden weniger und der Verfremdungseffekt bei vielen Menschen verstärkt sich. Doch genau jetzt sind mobile Hilfsangebote wichtiger geworden. Daher haben auch wir unsere Arbeitsweise angepasst und versuchen eine effiziente und adäquate Hilfe an die Zielgruppen zu bringen, ohne jeglichen körperlichen Kontakt zu erzeugen. Wir erproben Methoden, bewerten sie kritisch und gleichen sie wieder an. Unsere Arbeitsweise verlangt eine flexible Anpassung an die sozialgesellschaftliche Entwicklungen und politischen Auflagen. Um eine Soziale Arbeit, die sich der Wahrung der Menschenrechte verschrieben hat, unter solchen Bedingungen leisten zu können, verlangt nicht nur viel Improvisationstalent ab, sondern auch viel Engagement und Tatendrang.

Auf Distanz, aber mit Herz.

Die Schutzverordnungen für die Eindämmung der Pandemie waren auch für unsere Jugendlichen eine riesen Umstellung. Eine Überforderung durch die neue Extremsituation war schlichtweg spürbar. Was sind die Folgen von Corona? Wen kann ich wiedersehen? Bin ich als junger Mensch nicht quasi immun? – Alles Fragen, die in vielen Gesprächen und Beratungen beantwortet werden musste. Auch für uns waren diese Fragen eine Herausforderung, da jeden Tag neue Zahlen kamen und jede Woche neue Maßnahmen verhängt wurden. Viele von den Jugendlichen hatten nur bedingt einen Zugang zu sanitären Einrichtungen, die sich während des Lockdowns durch Schließungen drastisch reduzierten. Angebote innerhalb von Einrichtungen waren zum Beginn von Covid-19 nicht möglich, da erst die Bedingungen für eine Wiedereröffnung geschaffen werden mussten. Mobile Essensausgaben waren am Platz präsent. Weiteren Träger leisteten mit vollem Engagement mobile aufsuchende Arbeit: Auf Distanz, aber mit Herz; mit vielen Gesten und tollen Ideen. Selbst Ostern waren wir als Kleinteam unterwegs und versteckten kleine Pakete am Alex. Alles mit Handschuhen und Desinfektionsspray. Sehr surreal aber dennoch zwingend notwendig.

Das Social-Distancing wurde bislang sehr gut von unseren Zielgruppen umgesetzt. Einige Menschen sind aber auch im Gruppenverbund unterwegs, denn sie brauchen ihre Peer-Groups um den Alltag bewältigen zu können. Wir haben erwartet, dass es zu vermehrten Kontrollen und Räumungen kommt und hatten die Befürchtung, dass viele Geldstrafen verordnet werden würden. Es kam zu Kontrollen und auch zu Räumungen, sowie zu einigen Geldstrafen. Dennoch war das Verhältnis in einem nachvollziehbaren Rahmen und die Verordnungen wurden nicht instrumentalisiert, um bestimmte Menschen zu benachteiligen. Trotzdem bleibt unser Blick kritisch und eine soziale Kontrolle muss aus der Profession der Sozialen Arbeit gewährleistet sein!

Mit der Zeit kommen weitere Veränderungen, mit denen wir alle umgehen müssen. Dennoch appellieren wir dafür, dass es Verständnis und Akzeptanz für Menschen geben sollte, die in unserer Gesellschaft auch ohne Covid-19 benachteiligt werden. Selbst eine kleine Geste der Aufmerksamkeit und Wertschätzung ist heute sehr viel wert. Begegnungen auf Augenhöhe und eine solidarisch-optimistische Haltung sind in Zeiten von Covid-19 sehr wohl nötig.

Hinsehen… hingehen… handeln…