Seitenwechsel „Hier habe ich praktisch erfahren, was ich in meiner Doktorarbeit theoretisch reflektieren konnte“

Anfang der Neunzigerjahre hat Prof. Dr. Heiko Kleve an der damaligen Alice Salomon Fachhochschule (ASFH) Berlin studiert. Heute leitet er einen Lehrstuhl an der Universität Witten/Herdecke. Über seinen beruflichen Weg, seine Promotion und die Unterstützung durch Professor_innen sowie seine heutige Tätigkeit berichtet er im Interview.

Prof. Dr. Heiko Kleve an der Universität Witten/Herdecke. Foto: WIFU (Wittener Institut für Familienunternehmen)
Prof. Dr. Heiko Kleve an der Universität Witten/Herdecke. Foto: WIFU (Wittener Institut für Familienunternehmen)

alice: Seit einem Jahr haben Sie den Stiftungslehrstuhl Organisation und Entwicklung von Familienunternehmen an der Universität Witten/Herdecke inne. Was ist wichtig für Sie, wenn es um Ihre Arbeit geht?

Kleve: Einen Lehrstuhl am Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU) der Universität Witten/Herdecke als Professor zu leiten, ist für mich etwas ganz Besonderes. Denn sowohl das Institut als auch die gesamte Universität haben den Anspruch, dass Lehre, Forschung und Praxisentwicklung nicht nur intellektuell erkenntnisfördernd sind, sondern auch äußerst praxisrelevant und emotional anregend. Persönlichkeitsbildung und die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung sind in Witten zwei zentrale Ziele, mit denen sich nicht nur die Studierenden, sondern auch die Professorinnen und Professoren sowie die Mitarbeiter_innen der Universität identifizieren. Für meine Arbeit ist mir genau das wichtig, nämlich an einem Ort lehrend und forschend tätig zu sein, an dem Menschen und Sozialsysteme tatsächlich ganzheitlich gesehen werden. Weiterhin ist es mir in Witten möglich, eine Theorie, Methodik und Haltung zu nutzen und weiterzuentwickeln, die mich bereits seit meinem Studium an der ASFH begleitet und prägt: die Systemtheorie. In der inhaltlichen Nachfolge der Professoren Fritz B. Simon, Rudolf Wimmer und Arist von Schlippe, die die systemtheoretische Perspektive des WIFU in den letzten zwei Jahrzehnten geprägt haben, bin ich damit befasst, die psycho-soziale, insbesondere die familiäre Seite von Familienunternehmen, nämlich die Unternehmerfamilie, zu beforschen.

 

alice: Was sind die konkreten Inhalte und Aufgaben Ihrer Tätigkeit?

Kleve: Ich beschäftige mich mit Familienunternehmen und Unternehmerfamilien. In Deutschland, aber auch weltweit sind zwischen 80 bis 90 Prozent aller Unternehmen in Familienhand. Das sind nicht nur kleinere bis mittlere Unternehmen, etwa Handwerksbetriebe oder Geschäfte wie die Bäckerei an der Ecke, sondern können auch weltweit agierende Großfirmen sein. Solche Familienbetriebe haben ganz besondere Stärken, gehen aber auch mit zahlreichen Risiken einher. Eine Stärke ist, dass Familienunternehmen in der Regel nicht nur am kurzfristigen unternehmerischen Erfolg interessiert sind, sondern an der nachhaltigen Existenz des Unternehmens, um es von der einen an die nächste Generation der Familie übergeben zu können. Das führt dazu, dass Familienunternehmer_innen besondere soziale Kompetenzen benötigen, oft eine hohe moralische Verantwortung für ihre Verwandten, aber auch für die Mitarbeiter_innen übernehmen und klassische Tugenden wie Verlässlichkeit, Ehrlichkeit und Disziplin zeigen. Kurz gesagt, Familienunternehmertum offenbart die besonders menschlichen und sozialen Seiten des Kapitalismus, die wir diesem Wirtschaftssystem oft gar nicht (mehr) zutrauen. Dennoch sind Familienunternehmen vom selben System gefährdet, das sie als Wirtschaftsorganisationen auszeichnet: von der Familie. Wenn es innerhalb der Familie Konflikte gibt, sich die Familienmitglieder beispielsweise bezüglich ihrer Rollen bei der unternehmerischen Nachfolge nicht einigen können, schwappen diese Probleme nicht selten auf das Unternehmen über und gefährden dessen Existenz. Daher interessieren mich beispielsweise die Fragen, wie Unternehmerfamilien ihrer ökonomischen Verantwortung gerecht werden, wie sie die dabei auftretenden psycho-sozialen Krisen, Konflikte und Probleme bewältigen. Verstärkt entwickle ich derzeit Forschungsprojekte, die die sozialpädagogischen Dimensionen ins Blickfeld rücken, zum Beispiel wie Kinder in diesen Familien aufwachsen, welche Sozialisations- und Erziehungsbedingungen sie erleben, welche psycho-sozialen Probleme dabei entstehen und wie diese gelöst werden.

 

alice: Wie sind Sie dorthin gelangt, wo Sie heute stehen? Was hat Ihnen dabei geholfen?

Kleve: Ich denke, dass ich mir – einerseits – immer treu geblieben bin, dass ich hinsichtlich von persönlichen wie beruflichen Zielen und Projekten einen langen Atem habe, dass ich aber auch – andererseits – flexibel bin, wenn es darum geht, für neue Herausforderungen passende Strategien des Denkens, Fühlens und Handelns zu finden und zu leben. Des Weiteren bin ich überzeugt davon, dass die Soziale Arbeit eine Disziplin und Profession ist, deren Fachkräfte nahezu überall in der Gesellschaft gebraucht werden. Denn wir entwickeln bestenfalls im Studium, in der Praxis, aber auch in der wissenschaftlichen und akademischen Arbeit Fachqualifikationen, die inzwischen in fast allen Bereichen der Gesellschaft zu Schlüsselqualifikationen geworden sind. Je anspruchsvoller die Aufgaben in den unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft – etwa in der Wirtschaft, in der Politik, im Recht, in der Erziehung, in der Wissenschaft – werden, desto wichtiger werden die Kompetenzen von Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen: Team- und Konfliktfähigkeit, Diversitäts- und Differenztoleranz sowie die Fähigkeit, konstruktiv mit Situationen umzugehen, die nicht eindeutig planbar, die widersprüchlich und hinsichtlich ihrer Ergebnisse unvorhersehbar und überraschend sind. Ich denke, dass es eine meiner Stärken ist, dass ich anhaltend versuche, diese Kompetenzen in mein tägliches Tun für mich und andere gewinnbringend einzubringen.

 

alice: Sie haben – nach dem Fachabitur ­–an der damaligen ASFH Berlin Sozialpädagogik studiert. Was für Erinnerungen haben Sie an diese Zeit, was für ein Geist wehte damals an der Hochschule?

Kleve: Ich habe noch in Berlin-Schöneberg studiert und ausgesprochen lebhafte und wunderbare Erinnerungen an diese Zeit der beginnenden 1990er-Jahre. Ich bin 1969 geboren, in Mecklenburg aufgewachsen und habe die sogenannte Wendezeit in Berlin-Prenzlauer Berg sehr bewusst erlebt. Diese Erfahrungen konnte ich im Studium, insbesondere durch meine Beschäftigung mit sozialwissenschaftlichen Theorien, verarbeiten. Vor allem aber habe ich ein Studium erlebt, das starke Selbsterfahrungsanteile hatte, die mir – auch aus der heutigen Sicht – sehr viel gebracht und bereits damals sehr viel bedeutet haben. Ich konnte meine Kindheit in der DDR, mein Aufwachsen in einer mecklenburgischen Handwerkerfamilie, meine besondere Rolle in einer eher fragmentierten Familie nicht nur besser verstehen, sondern in ganz neuer Weise deuten. Dadurch konnte ich unter anderem erfahren, welchen Sinn es in meiner Biografie macht, dass ich den Weg in die Soziale Arbeit und sodann in die Sozialwissenschaft gewählt habe. All diese Erlebnisse und Auseinandersetzungen sind jedoch nicht denkbar, ohne die Beziehungen zu Professorinnen und Professoren der ASFH, die mich tief beeinflusst haben. Zuallererst möchte ich hier Britta Haye nennen, die meine frühe Beschäftigung mit der Systemtheorie unterstützt hat und die ich als besonders authentische Lehrende und Sozialarbeiterin erleben durfte. Nachhaltig geprägt haben mich zudem die Professoren Gerd Koch, Kurt Eberhard und Lutz von Werder. Reinhart Wolff konnte ich als Doktorvater gewinnen, der mir die passende Balance von intellektueller Reibung und emotionaler Unterstützung bot, sodass ich meine Doktorarbeit erfolgreich fertigstellen konnte.

 

alice: Warum haben Sie sich für eine Promotion und letztlich eine wissenschaftliche Laufbahn entschieden?

Kleve: Seit meiner Jugend interessieren mich soziale Prozesse. Wie bereits gesagt, meine DDR-Sozialisation und das Erleben der Wende waren für mich wesentliche gedankliche, emotionale und praktische Einflussfaktoren. Die Promotion war für mich biografisch folgerichtig. Flankiert wurde diese Entscheidung von der stark erwachten Wissenschaftlichkeit der Sozialen Arbeit. Als ich Ende der 1990er-Jahre an meiner Promotion arbeitete, war gerade die Debatte über die Frage entbrannt, ob es eine eigenständige Sozialarbeitswissenschaft geben sollte und könnte. So entschloss ich mich, meine Beschäftigung mit der Systemtheorie und der postmodernen Sozialphilosophie in diesem Rahmen zu betrachten. Ich fragte mich, ob diese Theorien etwas Entscheidendes dazu beitragen können, die Wissenschaft der Sozialen Arbeit weiterzuentwickeln. Daraus ist dann meine Doktorarbeit „Postmoderne Sozialarbeit“ geworden, die zuerst 1999 im Kersting Verlag Aachen und dann in einer zweiten Auflage 2007 im Verlag für Sozialwissenschaften erschienen ist. Dort bewerte ich die Soziale Arbeit als postmoderne Disziplin und Profession und erkläre, was das für die Wissenschaft und Praxis heißt, nämlich sich im Denken, im Fühlen und im Handeln mit den unüberwindbaren Ambivalenzen der Sozialen Arbeit zu versöhnen. Denn gerade die Spannungen zwischen den ambivalenten Polen, etwa zwischen Hilfe und Nichthilfe, Hilfe und Kontrolle, Problem und Lösung oder Vergangenheit und Zukunft, sind die Motoren der Sozialen Arbeit, die Energielieferanten für die Veränderungen, die Soziale Arbeit bei ihren Nutzerinnen und Nutzern sowie in Sozialsystemen bestenfalls anregt.

 

alice: Was raten Sie Studierenden einer Hochschule wie der ASH Berlin, wie sie sich schon während der Studienzeit auf den späteren Beruf / die Berufswahl vorbereiten können, insbesondere wenn sie promovieren wollen?

Kleve: Entscheidend scheint mir die Frage nach den persönlichen Leidenschaften zu sein. Wofür brenne ich? Was reizt mich intellektuell und emotional am meisten? Ein Studium der Sozialen Arbeit setzt meines Erachtens eine intensive Beschäftigung mit der eigenen Person, der eigenen Biografie, der eigenen Familiengeschichte und den bisherigen sozialen Beziehungen voraus. Wer in der Sozialen Arbeit weiterkommen möchte, sollte zunächst einmal ein großes Interesse haben, sich selbst in dieser Weise zu beforschen. Wer andere Menschen und Sozialsysteme verstehen und unterstützen möchte, sollte zunächst den Blick auf sich selbst richten. Diese Selbsterfahrung und Bildung der eigenen Persönlichkeit scheinen mir entscheidend zu sein – auch für den Weg in die Wissenschaft, für die Bewältigung der Herausforderung, mit einer Forschungsarbeit zur Sozialen Arbeit zu promovieren.

 

alice: Welche Rolle spielt für Sie heute die Praxiserfahrung, die Sie als Sozialarbeiter direkt nach Ihrem ersten Studienabschluss an der ASH Berlin gesammelt haben?

Kleve: Eine sehr große Rolle. Das Arbeitsfeld, in das ich intensiv und nach einem kurzen Blick in den Bereich der Obdachlosenarbeit bereits während des Studiums eingetreten bin, war die sozialpädagogische Beratung und Betreuung von Familien. Hier habe ich praktisch erfahren, was ich in meiner Doktorarbeit theoretisch reflektieren konnte, den akzeptierenden Umgang mit Ambivalenzen. Auch heute noch profitiere ich von der professionellen Entwicklung, die durch die Arbeit mit Familien bei mir angestoßen wurde. Familien sind Systeme, die uns mit äußerst engen Beziehungen, insbesondere zwischen Eltern und Kindern, konfrontieren, die uns zeigen, wie begrenzt in diesem Kontext unsere eigenen professionellen Möglichkeiten sind. Dennoch macht die Familienarbeit deutlich, was wir erreichen können, wenn wir es schaffen, wertschätzend und offen mit den Mitgliedern der Familie, insbesondere mit den Eltern zu arbeiten. Sobald sich die Eltern, manchmal nur minimal, im Denken, Handeln oder Fühlen verändern, hat das Auswirkungen auf die Kinder. Wenn ich heute das Beraten oder Coachen Studierenden zu vermitteln versuche, basieren meine Grundhaltungen, die ich veranschauliche, immer auch auf meinen frühen Praxiserfahrungen.

 

alice: Welche weiteren beruflichen Ambitionen haben Sie für die Zukunft?

Kleve: Derzeit bin ich damit beschäftigt, meine Arbeit in Witten zu konsolidieren. Weiterhin bin ich bestrebt, auch die Soziale Arbeit mit weiterzuentwickeln. Gerade in einer sich rasant wandelnden Gesellschaft, die etwa für die Digitalisierung, die Migration oder klimatische Veränderungen passende und konstruktive Umgangsweisen finden muss, wird die Soziale Arbeit eine wichtige Rolle spielen. Ich sehe diese Profession als Wegbereiterin für ganzheitlichere Strategien, die nicht nur auf die weitere Entfaltung von Rationalität setzen, sondern die die besondere Rolle der emotionalen Intelligenz betonen und befördern. Diesbezüglich können wir viel von Familienunternehmen und Unternehmerfamilien lernen. Erfolgreich sind diese Systeme vor allem dann, wenn sie die ökonomische Logik der wirtschaftlichen Vernunft mit der psycho-sozialen Logik der emotionalen Verbundenheit passend kombinieren und balancieren.

 

(Dieser Beitrag erschien in dieser Version erstmals in der alice 36 im Wintersemester 2018/19.)