Gewalt gegen Frauen* in Mexiko “Es wird nicht als Gewalt wahrgenommen, weil es so normalisiert ist”

Die Diskriminierung von Frauen* an mexikanischen Hochschulen -

Rückblick auf eine Veranstaltung mit Prof. Charlynne Curiel (UABJO, Oaxaca, Mexiko)

 

Besucher_innen sitzen im Audimax und schauen auf eine Leinwand, Perspektive von hinten
Prof. Charlynne Curiel während ihres Vortrags im Audimax der ASH Berlin

Am 16.10.2019 luden der Frauen*rat und die Frauen*beauftragte der ASH Berlin zur Veranstaltung “Die Diskriminierung von Frauen* an mexikanischen Hochschulen” ins Audimax . Prof. Charlynne Curiel (1) von der Autonomen Universität Benito Juárez von Oaxaca (UABJO), einer Partnerhochschule der ASH in Mexiko, stellte in einem Vortrag aktuelle Forschungsergebnisse zum Kontinuum der Gewalt gegen Frauen* in Mexiko vor.

“Von der Kindheit an sind Mädchen* und Frauen* in Mexiko im privaten und im öffentlichen Bereich mit Diskriminierung und Gewalt konfrontiert,” so Charlynne Curiel, “und das setzt sich fort, wenn sie an die Hochschule kommen – sei es als Student*innen, Lehrende, Verwaltungs- oder akademische Mitarbeiter*innen.” Um das Kontinuum der Gewalt zu verdeutlichen, verwies sie unter anderem auf die Endireh-Studie (2016), wonach zwei Drittel aller Mexikanerinnen* über 15 Jahren mindestens einmal Gewalt erfahren haben, z.B. in der Familie, einer Partnerschaft, im sozialen Umfeld, im Arbeitsleben oder auch in Schule und/oder Hochschule (2). Diese genderspezifische Gewalt zeigt sich in ihrer extremsten Form in den Feminiziden (Frauen*morden), deren Zahl seit Anfang der 1990er stetig zugenommen hat und derzeit bei neun pro Tag liegt. Gleichzeitig ist die Straflosigkeit nach wie vor erschreckend hoch. So werden nur wenige überhaupt Straftaten zur Anzeige gebracht. Von diesen wiederum landet ein Bruchteil vor Gericht und zu einer Verurteilung der Täter kommt es nur in Ausnahmefällen. In Bezug auf Femnizide liegt die Verurteilungsquote derzeit bei 1,5 %  (3).

Frauen* an den Universitäten werden nach wie vor als “Störenfriede” bzw. “Eindringlinge” betrachtet

Die Diskriminierung an den Hochschulen zeigt sich unter anderem in einer genderspezifischen Arbeitsteilung, wonach Frauen* deutlich mehr Aufgaben in Verwaltung,  Lehre und Betreuung der Studierenden übernehmen, während Männer* überproportional in der Forschung und in Leitungsfunktionen anzutreffen sind. Zwar haben Frauen* auch in Mexiko seit mehr als 100 Jahren Zugang zu den Universitäten, doch wirkt sich die patriarchale Tradition, Kultur und Struktur dieser Bildungs-Institution, so Prof. Curiel, nach wie vor auf den Zugang von Frauen* zu Ressourcen und Netzwerken sowie – im Sinne einer “gläsernen Decke” – auf ihre Karriechancen aus. Mit Bezug auf eine Studie der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM) machte die Kollegin von der UABJO deutlich, dass Frauen* an den Universitäten nach wie vor als “Störenfriede” bzw. “Eindringlinge” betrachtet werden. Und dass sie selbst die diskriminierenden Handlungen, Belästigungen und (sexualisierten) Übergriffe von Seiten ihrer Kommilitonen*, Lehrenden bzw. Kollegen* oft gar nicht als solche wahrnehmen, weil diese so normalisiert sind bzw. naturalisiert werden (4).  

Dies war auch eines der Ergbnisse einer explorativen Studie, die Charlynne Curiel und ihre Kolleg*innen vom "Netzwerk für Gendergerechtigkeit" der UABJO 2017/18 im Kontext der Entwicklung einer hochschulischen Richtlinie gegen sexualisierte Gewalt an der UABJO durchgeführt haben. In Gruppendiskussionen mit Student*innen, Verwaltungsmitarbeiter*innen und Wissenschaftler*innen wurde deutlich, dass (hetero-)sexistische Diskriminierungen, Belästigungen und Übergriffe so alltäglich sind, dass sie als “normal” und unausweichlich aufgefasst werden. Zudem sei es schwer, sich dagegen zu wehren, weil den Betroffenen selbst die Schuld dafür gegegeben würde und sie mit einer Stigmatisierung bis hin zur Reviktimisierung rechnen müssten. Dass es an der Hochschule eine Stelle gibt, die für Beschwerden zuständig ist, sei den allermeisten nicht bekannt gewesen. Zudem äußerten viele Diskussionsteilnehmenden, dass sie nicht darauf vertrauten, dass die Institution Beschwerden vertraulich behandeln und diesen konsequent nachgehe würde.

Dies sind – nicht nur an der UABJO – einige der Erklärungen dafür, weshalb so wenige Fälle von Diskriminierung und Gewalt zur Anzeige gebracht werden. Hinzu kommt, dass erst vier Universitäten in Mexiko über eine Richtlinie bzw. Satzung zur Prävention und Intervention bei (sexualisierter) Diskriminierung und Gewalt verfügen. An der UABJO ist eine Richtlinie bereits ausformuliert und veröffentlicht (5), jedoch noch nicht offiziell abgestimmt und verabschiedet.

Student*innen machen zunehmend von ihrem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch

Auf Bundesebene gibt es nun seit 2016 eine “Nationale Monitoringstelle für die Gleichstellung der Geschlechter in den Institutionen der Tertiären Bildung" (ONIGIES) (6). Im Jahr 2007 wurde ein Bundesgesetz erlassen, das Frauen das “Recht auf ein Leben frei von Gewalt” (7) garantiert, und aus dem auch für die Hochschulen ein entsprechender Handlungsdruck resultiert. Angesichts der bisherigen Untätigkeit der Hochschulleitungen und aufgrund der Erfahrungen der Betroffenen mit Stigmatisierung und Reviktimisierung ist das Vertrauen, insbesondere der Studentinnen*, in die Verantwortlichen und die regulären Beschwerde-Mechanismen der Hochschulen auf dem Tiefpunkt. Während die Autoritäten scheinbar auf ihrem “Recht auf Unwissenheit” bzw. auf ihrer “kultivierten Ignoranz” (8) bestehen, so Prof. Curiel,  machen die Student*innen zunehmend von ihrem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch. Selbstverteidigung in dem Sinne, dass sie sich bei Fällen der sexualisierten Diskriminierung und Gewalt organisieren und die Fälle öffentlich machen, um andere potentiell Betroffene zu schützen bzw. zu warnen, und um den Druck auf die Universitätsleitungen zu erhöhen, die Fälle zu untersuchen, so beispielsweise in Mexiko-Stadt (9), Querétaro, Guanajuato und Oaxaca). Dabei nutzen sie auch die Sozialen Medien und Hashtags wie z.B. “#yo si te creo” (#ich glaube dir) oder “#si nos tocan a una respondemos todas” (#wenn sie ein von uns anfassen, reagieren wir alle), um sich gegenseitig zu unterstützen und Öffentlichkeit für ihre Forderung nach einer diskriminierungs- und gewaltfreien Hochschule herzustellen.

“#no nos cuidan, nos violan” (# sie schützen uns nicht, sie vergewaltigen uns)

Die Aktionen gehen auch über den universitären Kontext hinaus. Ausgelöst durch die Vergewaltigung einer Jugendlichen durch Polizisten in Mexiko-Stadt im August 2019 protestieren seitdem vor allem junge Frauen* landesweit gegen sexualisierte Gewalt und gegen die Untätigkeit der Behörden. Dabei nutzen sie z.B. den Hashtag “#no nos cuidan, nos violan” (# sie schützen uns nicht, sie vergewaltigen uns) (10).

Im Anschluss an den Vortrag von Prof. Curiel entwickelte sich unter den Anwesenden ein angeregter Austausch, unter anderem über den insgesamt stark von Gewalt und Straflosigkeit geprägten Kontext in Mexiko, über die Parallelen zur Situation in Deutschland im Hinblick auf die “gläserne Decke” an deutschen Hochschulen (11) und über Studien zu sexualisierter Diskriminierung und Gewalt an Universitäten in Deutschland, Asien und Lateinamerika (12).

Die Frauen*beauftragte der ASH Berlin, Gabi Rosenstreich, informierte darüber, dass an unserer Hochschule derzeit eine Antidiskriminierungssatzung erarbeitet wird, die möglichst noch in diesem Semester im Akademischen Senat diskutiert und verabschiedet werden soll. Diese Satzung sieht auch Präventions- und Interventionsmassnahmen bei sexualisierter Diskriminierung und Gewalt vor. Zudem verwies Gabi Rosenstreich auf die Beratungs- und Unterstützungsangebote, die es hierzu an der Hochschule bereits gibt und über die auf der Website des Frauen*büros informiert wird (13).

Frauen*beauftragte und Frauen*rat danken Prof. Charlynne Curiel für ihren erhellenden Vortrag, für ihr Engagement und für den produktiven fachlichen und kollegialen Austausch, den sie uns mit ihren Impulsen ermöglicht hat. 

(1)  Charlynne Curiel ist ist Sozialanthroplogin und Professorin (in Forschung und Lehre) am Institut für Soziologie der Autonomen Universität Benito Juárez von Oaxaca (UABJO), wo sie auch Mitglied in der akademischen Arbeitsgruppe zu Gender, Kultur und Entwicklung ist. An der UABJO arbeitet sie zudem mit im “Netzwerk für Gendergerechtigkeit”. In Oaxaca-Stadt engagiert sie sich in feministischen Initiativen, u.a. für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen.
(2)
Parga Romero, L. & Verdejo Saavedra, R. (2017). Romper el silencio. Nombrar la(s) violencia(s) contra las estudiantes universitarias de la UPN, Memorias del Primer Congreso sobre Violencias de Género contra las Mujeres, UNAM-CRIM-CIEG, México, pp. 246-252.
(3)
Siehe dazu den Dokumentarfilm “Nosotras” (in spanischer Sprache).
(4)
Buquet, A., Cooper, J. A., Mingo A. & Moreno, H. (2013). Intrusas en la universidad. México: UNAM-PUEG-ISSUE.
(5)
http://www.transparencia.uabjo.mx/obligaciones/direccion-de-equidad-y-genero/articulo-70/fraccion-48/70-48-1221-propuesta-de-proyecto-de-protocolo-2018.pdf
(6)
Observatorio Nacional para la Igualdad de Género en las Instituciones de Educación Superior.
(7)
Ley general de Acceso de las Mujeres a una Vida Libre de Violencia.
(8)
Sie bezog sich hier auf die Konzepte des “derecho a no saber” und “ignorancia cultivada” nach Mingo, A. & Moreno, H. (2015): El ocioso intento de tapar el sol con un dedo: violencia de género en la universidad, Perfiles Educativos, 148, pp. 138-156.
(9)
Zu aktuellen Protesten an der UNAM in Mexiko-Stadt.
(10)
Weitere Informationen zu den Protesten
(11)
Vgl. z.B.  Koordinationsbüro für Frauenförderung und Gleichstellung der TU Berlin (2018): FEHLER IM SYSTEM. Warum es so wenige Frauen in der Wissenschaft gibt. TU Berlin.
(12)
Vgl. z.B. das Forschungsprojekt "Sexualisierte Diskriminierung und Gewalt an Hochschulen im transnationalen Kontext" der FU Berlin.
(13)
https://www.ash-berlin.eu/studium/beratung-unterstuetzung/beratung-fuer-frauen-und-trans/umgang-bei-sexueller-belaestigung/