1977 begann Lutz von Werder seine Lehre und Forschung an der Hochschule, die jetzt Alice Salomon Hochschule heißt – damals in Berlin-Schöneberg. Gerade ist – wieder – ein Buch von ihm erschienen. Das zu vermelden, ist eigentlich nicht überraschend, denn namentlich für das Themenfeld „Philosophische Lebenskunst“ sind seit 2003 16 Bände von Lutz von Werder im Schibri -Verlag herausgebracht worden. Manch ein Titel wurde fast sprichwörtlich: „Beklage dich nicht – philosophiere“ (Band 5). Auch in seinem weiteren Fachgebiet, dem biographisch-kreativen Schreiben, haben seine Bücher manchmal einen freundlich appellativen Titel: „Ängstige Dich nicht – schreibe“ - „Verzweifle nicht – suche“. Auch hier: Die Entfaltung von Lebenskunst steht Pate. In seiner Schöneberger Zeit hat Lutz von Werder in den Räumen der Hochschule die „Galerie Transfer“ etabliert: Ja, es gab dort Ausstellungen mit unterschiedlichen Begleitprogrammen – aus der Perspektive der Öffnung einer Hochschule in den Stattteil (siehe: Transfer) und aus dem Modell eines sog. ‚Wissenschafts-Praxis-Ladens‘ – etwa nach niederländischem Vorbild eines Wetenschapswinkel als zivilgesellschaftliche Bildungsweise/-wiese. Lutz von Werder hatte selbst Erfahrungen mit stadtteilnaher Volkshochschularbeit in Schöneberg. Später etabliert er sein „Philosophisches Café“, seinen „Philosophischen Studienkreis“, und er führte jahrelang Gespräche beim Westdeutschen Rundfunk (WDR) im „Philosophischen Radio“.
Bücher sind erst dann zu Ende geschrieben, wenn sie gelesen werden
Eigentlich will ich sein neues BUCH vorstellen! Und das habe ich schon in Teilen mit dem vorigen Absatz getan; denn zwischen den Buchdeckeln scheint vieles von dem eben Genannten thematisch, aber nach meiner Ansicht auch methodisch/darstellend auf: Dies Buch ist ein diskursives, dialogisches, erzählendes, ermutigendes, praktisches, informatives Gesprächs- und Lese- und Lehr- und Lern-Angebot – getreu der Praxis und Theorie eines Verfechters von Lebenskunst – als der Kunst zu leben – oder wie es (verwunderlicherweise?!) bei Karl Marx einmal heißt – als „Lebensgewinnungsprozeß“ (Marx-Engels-Werke. Bd. 19, S. 362).
Bücher sind erst dann zu Ende geschrieben, wenn sie gelesen werden: Schreibende & Lesende bilden eine komplementäre Einheit (Konvivialität, complaisance ). Lesende schreiben (virtuell) weiter an einem Buch. Hier nun legt Lutz von Werder ein Buch vor mit einer Thematik, die mir nicht täglich begegnet (umso besser): „Der Gott der Philosophen und die Lebenskunst“. Durch von Werders Ausführungen belebten sich Erinnerungen bei mir. Zum Beispiel etwas aus meiner beruflichen Beschäftigung mit Bertolt Brecht: 1928 macht die Zeitschrift „Die Dame“ eine Umfrage: „Welches Buch hat Ihnen in Ihrem Leben den stärksten Eindruck gemacht?“. Es „sollte nicht ‚das beste, das wertvollste‘, sondern das Buch genannt werden, dessen ‚Intensität des Eindrucks (der manchmal bis in die Kindheit zurückgeht)‘ entscheidend war“. Brechts Antwort: „Meine Lieblingslektüre? Sie werden lachen: die Bibel“ (Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Frankfurter und Berliner Ausgabe, Frankfurt/M., Berlin und Weimar 1988 -1998, Bd.21, S. 697 f., S. 248). Aha, sogar Brecht & Gott … & Lebenskunst? Ja: Auch Lebenskunst! „Alle Künste tragen bei zur größten aller Künste, der Lebenskunst“ (Bertolt Brecht, Werke Bd. 23, S. 290).
Der Philosoph Ernst Bloch (von Werder erwähnt ihn etwa mit dessen Werken „Atheismus im Christentum“ und „Experimentum Mundi“) legte ein dreibändiges Werk vor: „Das Prinzip Hoffnung“. Es lässt sich zusammenfassend verstehen als ein Vademecum, ein „Schatzkästlein“ (in Anlehnung Johann Peter Hebel gesagt, den Bloch schätzte) zu(r) Heimat, für den Heimat-Gewinnungs-Weg (vgl. Gerd Koch: Heimat, in: Bloch-Wörterbuch. Berlin, Boston 2012, S. 168 – 189). Es ist ein Itinerar, d. h. eine Zusammenstellung von (Pilger-)Reiserouten, Zielen, Umwegen, Haltepunkten, Herbergen, Markierungen und navigatorischen Varianten, Berichten etwa von früheren Reisen(den), in denen nun der „Reisende selbst (...) seine Zurüstung und Ausrüstung, je nach dem Gelände und Objekt, das er zu bestehen hat“, ändert (Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3, Frankfurt am Main 1969, S.1197). Bloch spricht von solchen Wegbeschreibungen, die teilweise als heilig bezeichnet wurden, als "Reisebüchern (…) zu Gott" (ebd.).
Ein Hand- und Kopf- und Herz- und Seele-Buch
Mitte der 1960er Jahre während meines Studiums am politologischen Otto-Suhr-Institut der FU Berlin empfahlen wir Bekannte, doch mal ich die TU zu gehen, da würde als Gast ein Prof. Dr. Lucien Goldmann literatur-soziologische Vorlesungen halten, die so ganz anders als die gewohnten seien – von den Themenzugriffen bis zur eher kolloquialen Weise des Vortragens. Und in der Tat, so war es: Wir wurden in deutscher Sprache in einer liebenswerten rumänisch-französischen Tonalität mit ‚Liebe junge Freunde …‘ angesprochen, und ich erinnere mich, auch etwa so befragt worden zu sein: ‚Liebe junge Freunde, Sie haben verstanden, die Philosophen und Künstler in der Epoche der Aufklärung haben die Selbständigkeit, die Selbstherrlichkeit des Subjekts, des Menschen in den Mittelpunkt ihrer Produktion gestellt. Aber wie kommt es denn wohl, dass gerade in dieser Epoche doch recht viele ihrer Werke in Musik und Literatur Fragment blieben?‘. Gute Frage – schwere Antwort-Versuche unsererseits. Lucien Goldmanns Antwortrichtung ging dahin: ‚Ja, mutig waren sie, die Aufklärer. Stellten des Menschen Werk, seine Werkhaftigkeit in den Mittelpunkt. Aber zugleich blieben sie noch unsicher; denn: Nur Gottes Werk sei ja vollständig! Menschenwerk müsse daher Flickwerk bleiben …‘. Diese Argumentationsfigur habe ich mir so in Erinnerung gehalten. (Zugleich auch: Fragment als Herausforderung!) Dies fiel mir nach meinen Blicken in Lutz von Werders Buch wieder ein (danke!) – und ich erinnerte mich ferner an eine mit diesem Gedankengang zu tun habende, eher rabbinische, talmudische Überlegung: Gott schuf die Welt in sieben Tagen; dann, am achten Tage, überließ er sie den Menschen und sagte: ‚Nun seid Ihr dran, was draus zu machen …‘. Auch nicht schlecht: Lebenskunst & Gott & Philosophie der Praxis.
Lutz von Werders Buch: Ein Wanderbuch, eine Begleitung für eine tour d’horizont von der Antike bis in die Jetztzeit, vom Theismus zum Atheismus, vom „Gott der Philosophen in der ‚digitalen Revolution‘“ bis zum „philosophische(n) Glaube(n) an den ‚Gott der Philosophen‘ als Stille“. Lebenskunst als praktische Angelegenheit & Philosophie als ‚Liebe zur Weisheit‘ – auch das eine alltagsweltlich zu übende, zu befleißigende Kunst. Entwickeln wir darin unsere menschliche Könnerschaft! Ein Hand- und Kopf- und Herz- und Seele-Buch dazu liegt hilfreich vor. Es verlohnt sich, mit ihm als Lesende/r zusammen zu sein.
Gerd Koch, Professor i.R. für Pädagogik, Soziale Kulturarbeit
Lutz von Werder
Der Gott der Philosophen und die Lebenskunst
Band 16 von „Philosophische Lebenskunst“.
Strasburg /Uckermark (Schibri-Verlag) 2019,
353 Seiten, 15 Euro
ISBN 978-3-86863-209-5