Seitenwechsel Die Tragödie von Sinzig

Soziale Arbeit in Zeiten des Klimawandels

Ein überflutetes Dorf - Häuser schauen aus dem Wasser
Liegen Einrichtungen Sozialer Arbeit z.B. an einem Fluss wie hier die überflutete Altstadt von Hitzacker 2006, können sie in einem potenziellen Risikogebiet liegen und ein entsprechender Katastrophenschutz ist notwendig Von Torsten Bätge - Selbst fotografiert, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1464766

Bei der Hochwasserkatastrophe Mitte Juli 2021 starben in dem rheinland-pfälzischen Ort Sinzig zwölf Bewohner_innen einer stationären Einrichtung für Menschen mit Beeinträchtigungen. Ein Grund für die Soziale Arbeit, innezuhalten, zu trauern und nachzudenken.

Die Hochwasserkatastrophe in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Bayern hat mindestens 179 Menschen das Leben gekostet. Ganze Ortsteile wurden von den Wassermassen zerstört. Die Soziale Arbeit erlebte dabei ihre eigene Tragödie: In einer Wohneinrichtung für Menschen mit Beeinträchtigungen in dem Ort Sinzig ertranken 12 Bewohner_innen. Sie befanden sich in ihren Zimmern, als die Flut kam. Sie konnten sich weder selbst befreien, noch konnten sie von der Nachtwache gerettet werden (vgl. Lebenshilfe Kreis Ahrweiler 2021).

Nach der Hochwasserkatastrophe wurden vielfach Verbindungen zum Klimawandel hergestellt. Ausgangspunkt dafür sind die extremen Niederschläge, die der Hochwasserkatastrophe vorangingen (vgl. Junghänel et al. 2021: 3–7). Wissenschaftlicher Fakt ist, dass ein einzelnes extremes Wettereignis nicht mit absoluter Sicherheit auf den Klimawandel zurückgeführt werden kann. Man wird die Ergebnisse von Studien der klimawissenschaftlichen Attributionsforschung abwarten müssen, um beurteilen zu können, wie stark der Klimawandel die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten dieser Starkregenereignisse in Deutschland beeinflusst hat. Wissenschaftlicher Fakt ist aber auch, dass der Klimawandel eine Zunahme und eine höhere Intensität von Starkregenereignissen grundsätzlich begünstigt (Frey 2021: o. S.). Der Deutsche Wetterdienst prognostiziert zum Beispiel: „Die Niederschlagsmengen an Starkniederschlagstagen im Sommer werden wahrscheinlich weiter steigen“ (Junghänel et al. 2021: 10).

Diesem Beitrag ist an zwei Dingen gelegen: Erstens möchte er die Geschehnisse in Sinzig für die Soziale Arbeit festhalten. 12 Menschen, die sich in der Obhut Sozialer Arbeit befanden, ihr anvertraut wurden, sind bei einem extremen Wettereignis gestorben. Bislang wurde dies von der Sozialen Arbeit in Deutschland kaum als Tragödie kommuniziert. Zweitens wirft die Hochwasserkatastrophe einige Aspekte für die Soziale Arbeit in Zeiten des Klimawandels auf, die Berücksichtigung finden sollten.

Einrichtungen Sozialer Arbeit in potenziellen Risikogebieten

Bei der Hochwasserkatastrophe in Sinzig erreichte der Fluss Ahr einen Pegelstand von rund sieben Metern, was den bisherigen Rekordwert aus dem Jahr 2016 um etwa das Doppelte übertraf (Landesamt für Umwelt Rheinland-Pfalz 2021). Die Stadt Sinzig kennt also Hochwasser, aber keine Hochwasser von einem solchen Ausmaß. Diese Perspektive ist deshalb relevant, weil es für die Einrichtungen Sozialer Arbeit die Frage aufwirft, inwiefern sie sich in einem potentiellen Risikogebiet befinden. Die Lebenshilfe plante vor der Hochwasserkatastrophe, die stationäre Wohneinrichtung für Menschen mit Beeinträchtigungen in Sinzig „um einen Ausbau zu erweitern“ (Lebenshilfe Kreis Ahrweiler 2021: o. S.). Bei ihren Planungen ging sie sicher nicht davon aus, dass je solch ein hoher Pegelstand der Ahr möglich sei. Vielleicht kann die Tragödie in Sinzig ein Anstoß dafür sein, dass die Träger Sozialer Arbeit bei der Auswahl von Einrichtungsstandorten alle klimatischen Eventualitäten – in Bezug auf Starkniederschläge, Hochwasser, Hitzewellen und steigende Meeresspiegel – künftig mitbedenken.

Im Zuge dessen sollte man sich vor Augen führen, dass die Wohneinrichtung in Sinzig ein ganz normaler Ort Sozialer Arbeit war. Jede_r Bewohner_in hatte sein_ihr eigenes Zimmer, einen eigenen Schlüssel. Die Wohneinrichtung war in der Nacht regulär mit einer Nachtwache besetzt. Es war alles genauso wie in hundert anderen stationären Wohneinrichtungen für Menschen mit Beeinträchtigungen in Deutschland, ob in Berlin, Köln oder München. Doch im Katastrophenfall war dieser ganz normale Ort Sozialer Arbeit äußerst verletzlich. Das Gebäude und das Personal konnten der Flut nichts entgegensetzen. Es stellt sich also die Frage, wie es um den Katastrophenschutz in und für Einrichtungen Sozialer Arbeit bestellt ist und wie dieser gegebenenfalls verbessert werden kann. Die Forderung der SPD-Pflegebeauftragten, Heike Baehrens, alle sozialen Einrichtungen dahingehend auf den Prüfstand zu stellen (vgl. RND 2021), stößt hoffentlich eine überfällige Debatte an.

Katastrophenschutzpläne für soziale Einrichtungen

Solche Katastrophenschutzpläne für soziale Einrichtungen müssten die Besonderheiten der dort lebenden Menschen beachten. Nach übereinstimmenden Aussagen ereignete sich die Hochwasserkatastrophe vielerorts in sehr kurzer Zeit. Die Menschen, die in Einrichtungen Sozialer Arbeit versorgt werden, sind jedoch auf verschiedene Weisen körperlich und geistig eingeschränkt. Teils können sie gar nicht selbst reagieren und sind auf Hilfe angewiesen (vgl. Ćerimović/Rall 2021). Das macht das Handeln in Sekundenschnelle für Fachkräfte oft unmöglich. Wenn in einer Einrichtung zum Beispiel erstmal die Menschen in den Rollstuhl gesetzt werden müssen, um sie zu evakuieren, dann dauert das. Insbesondere, wenn eine Nachtwache, wie üblich, allein für zehn oder mehr Menschen zuständig ist. Diese geringere Handlungsschnelligkeit in akuten Gefahrensituationen verschärft sich womöglich noch dadurch, dass notwendige Hilfsmittel wie Fahrstühle oder Treppenlifts aufgrund von Stromausfällen nicht genutzt werden können. Rettende Maßnahmen benötigen in sozialen Einrichtungen eine gewisse Vorlaufzeit. Dies wäre in die Katastrophenschutzpläne zu integrieren.

Was sich damit für Einrichtungen Sozialer Arbeit andeuten könnte, wäre eine Art Vorsichtsprinzip, nach dem Schutzmaßnahmen lieber zehn Mal zu früh, als ein Mal zu spät ergriffen werden. Dabei spielen die Informationen über extreme Wettereignisse und deren möglichen Folgen eine zentrale Rolle. Nach der Hochwasserkatastrophe wird viel über Frühwarnsysteme in Deutschland und deren Funktionsfähigkeit diskutiert. Für die Soziale Arbeit hat dieses Thema eine besondere Brisanz. Denn gerade geistig beeinträchtigte Menschen oder Kinder sind oft gar nicht in der Lage, sich selbstständig über Warnungen zu informieren (z.B. beim Deutschen Wetterdienst) und dann für sich selbst zu entscheiden, ob sie gefährdet sind oder nicht (vgl. Ćerimović/Rall 2021). Dadurch kommt den Fachkräften eine hohe Verantwortung zu. Sie müssen sich in vielen Fällen für diese Menschen informieren, die Risiken abwägen und schnelle Entscheidungen treffen.

Die ausgeführten Überlegungen können vielleicht weitere Reflexionen innerhalb der Sozialen Arbeit zum Katastrophenschutz und zum Klimawandel anstoßen. Die Erkenntnis, dass die Adressat_innen Sozialer Arbeit einer hohen Vulnerabilität beim Klimawandel ausgesetzt sind, ist nicht neu (z.B. Liedholz 2021: 43, 64–68). Emina Ćerimović und Katharina Rall verdeutlichen dies noch an zwei internationalen Beispielen: „Im Jahr 2017 erstickten 12 ältere Menschen in einem Pflegeheim in Florida aufgrund der hohen Temperaturen, nachdem Hurrikan Irma, ein tropischer Wirbelsturm, der durch den Klimawandel verstärkt wurde, die Klimaanlage außer Kraft gesetzt hatte. Im Juli 2020 wurden 65 Menschen in einem Pflegeheim im japanischen Kuma während einer Überschwemmung nicht evakuiert. Vierzehn von ihnen starben“ (2021, o. S.). Es bleibt zu hoffen, dass diese Auflistung nach der Tragödie von Sinzig nicht weiter fortgesetzt werden muss…

 

Literatur:

Ćerimović, E./Rall, K. (2021): Deutschland: Flutopfer zeigen Risiken des Klimawandels für Menschen mit Behinderungen. Inklusiver Klimaschutz und Anpassungspläne nach 12 Todesfällen erforderlich. Internet: https://www.hrw.org/de/news/2021/07/21/deutschland-flutopfer-zeigen-risiken-des-klimawandels-fuer-menschen-mit [Zugriff: 28.07.2021].

Frey, A. (2021): »Die Klimamodelle haben das von Anfang an gezeigt«. Internet: https://www.spektrum.de/news/hochwasser-ich-hoffe-dass-hier-irgendwann-der-groschen-faellt/1897198 [Zugriff: 28.07.2021].

Junghänel, T./Bissolli, P./Daßler, J./Fleckenstein, R./Imbery, F./Janssen, W./Kaspar, F./Lengfeld, K./Leppelt, T./Rauthe, M./Rauthe-Schöch, A./Rocek, M./Walawender, E./Weigl, E. (2021): Hydro-klimatologische Einordnung der Stark- und Dauerniederschläge in Teilen Deutschlands im
Zusammenhang mit dem Tiefdruckgebiet „Bernd“ vom 12. bis 19. Juli 2021. Internet: https://www.dwd.de/DE/leistungen/besondereereignisse/niederschlag/20210721_bericht_starkniederschlaege_tief_bernd.pdf?__blob=publicationFile&v=6 [Zugriff: 28.07.2021].

Landesamt für Umwelt Rheinland-Pfalz (2021): Übersicht des Pegels Altenahr. Internet: https://www.hochwasser-rlp.de/karte/einzelpegel/flussgebiet/rhein/teilgebiet/mittelrhein/pegel/ALTENAHR [28.07.2021].

Lebenshilfe Kreis Ahrweiler (2021): Tragödie im Lebenshilfehaus. Internet: https://www.lebenshilfe-ahrweiler.de/2021/07/16/fluten_in_lebenshilfe/ [Zugriff: 28.07.2021].

Liedholz, Y. (2021): Berührungspunkte von Sozialer Arbeit und Klimawandel. Perspektiven und Handlungsspielräume. Opladen, Berlin, Toronto: Barbara Budrich Verlag.

Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) (2021): SPD-Pflegebeauftragte will Sicherheit in Heimen nach Flut prüfen. Internet: https://www.rnd.de/politik/nach-hochwasser-spd-pflegebeauftragte-will-sicherheit-in-heimen-pruefen-MLIGA7V35VTAB7OMVXD3XLCIDU.html [Zugriff: 27.07.2021].