Was hat ein UN-Tag gegen Misshandlung älterer Menschen mit Menschenrechten zu tun?
Dr. Claudia Mahler: Ältere Menschen sind im Menschenrechtsschutzsystem weitestgehend unsichtbar. Dies liegt einerseits daran, dass sich ältere Menschen wenig aktiv im UN-System beteiligen, sie andererseits aber auch im nationalen Kontext wenig auf Verletzungen ihrer Menschenrechte aufmerksam machen. Hinzu kommt, dass es keine spezifische Menschenrechtskonvention für die Rechte Älterer gibt.
Vieles wird als ständige Praxis hingenommen! Dies trifft leider auch auf Gewalt, Misshandlungen und Vernachlässigung Älterer zu. Darüber spricht man nicht – es ist ein Tabu, es gibt kaum belastbare Zahlen und wenig wissenschaftliche Untersuchung dazu. Misshandlungen gegen ältere Menschen scheinen besonders wenig angezeigt zu werden. Dies hat einige Gründe. Ältere Menschen wissen wenig über ihre Rechte, sie haben Angst ihre Lage durch eine Anzeige oder Beschwerde weiter zu verschlechtern, sie haben wenig soziale Kontakte, die sie in diesen Entscheidungen und Handlungen unterstützen können. Darauf aufmerksam zu machen, dass es Rechte gibt, die verletzt werden, und das Tabu zu brechen, ist Ziel des Weltaltentages!
Inwieweit spielt Gewalt, Misshandlung und Vernachlässigung eine Rolle für den Pflegealltag oder für das Verhältnis zwischen Pflegenden und Gepflegten?
Dr. Tim Reiß: Laut WHO kommen alle Arten von Gewalt gegen ältere Menschen in Pflege vor. Hiervon umfasst ist sowohl physische, psychische und sexualisierte Gewalt wie auch finanzielle Ausbeutung. Dazu gehört aber auch das Unterlassen von Handlungen, also Vernachlässigungen. Vor allem sind es strukturelle Mängel – wie Personalmangel und daraus resultierende Überforderung –, die Misshandlungen begünstigen und die Veränderungen ausbremsen. Die Situation während der Pandemie in vielen Pflegeeinrichtungen hat zudem gezeigt, dass auch die Einschränkung der Freiheit älterer Menschen durch einen paternalistisch geprägten Fürsorgegedanken ein massenhaftes und gravierendes Problem ist. In diesem Zusammenhang muss immer wieder an das zentrale Prinzip der Unteilbarkeit der Menschenrechte erinnert werden: Fürsorgeaspekte dürfen nicht einfach gegen das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen ausgespielt werden. Auch Fürsorge, die über die Autonomierechte Betroffener einfach hinweggeht, ist eine Menschenrechtsverletzung.
Ebenfalls muss in den Blick genommen werden, dass Gewalt in der Pflege auch von den zu Pflegenden gegen Pflegende vorkommt. Auch hierfür muss Raum zur professionellen Auseinandersetzung bestehen.
Warum sollen wir uns in Deutschland an der ASH Berlin mit dem Thema Gewalt gegen Ältere auseinandersetzen?
Dr. Tim Reiß: Wie gesagt Gewalt, Misshandlung und Vernachlässigung älterer Menschen ist nach wie vor ein Tabuthema. Die Absolvent_innen der ASH Berlin werden in ihrem Berufsalltag eventuell mit dem Thema konfrontiert werden. Es hilft immer Themen anzusprechen und sich bewusst zu machen, dass hier professionelle Hilfe notwendig ist. Umso früher sich die Studierenden mit dem Thema befassen, umso eher wird es uns allen gelingen, uns offen darüber auszutauschen und Abhilfemöglichkeiten zu schaffen. Ähnliche lange Wege mussten in anderen Themenfeldern beschritten werden, beispielweise zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt. Menschenrechtsbildung und Ethik sind integrale Bestandteile aller Studiengänge.
"An wen können sich Pflegende wenden, wenn sie Zeug_in von Gewalt werden?"
Worauf wollen Sie mit diesem Tag hinweisen? Das diesjährige Thema ist der Zugang zum Recht.
Dr. Claudia Mahler: Der Zugang zum Recht ist selbst ein Menschenrecht und der Weg gegen Verletzungen der Rechte vorzugehen. Den Zugang zu gerichtlichen Verfahren können wir als letztes Mittel sehen, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Nicht nur, dass viele ihre Rechte nicht kennen, sie wollen oder können auch die Anstrengungen nicht unternehmen gegen Rechtsverletzungen vorzugehen. Einerseits, weil die Erfolgsaussichten als gering eingeschätzt werden, andererseits weil es kräftezehrend ist und passgenaue Unterstützung in den seltensten Fällen zur Verfügung steht. Zusätzlich ist der Begriff der Beschwerde meist negativ besetzt. Ein Aspekt, der ebenfalls des Öfteren angesprochen wird, ist: An wen können sich Pflegende wenden, wenn sie Zeug_in von Gewalt werden? Sind die internen Beschwerdemechanismen ausreichend oder läuft man Gefahr als „Whistleblower“ seine Anstellung und das Vertrauen im Team zu verlieren? Hier sehe ich ebenfalls Verbesserungsbedarf, es wäre wünschenswert, dass durch eine positive Beschwerdekultur, Mängel und Defizite offen angesprochen werden und zur Verbesserung der Pflegequalität beitragen können.
Dr. Claudia Mahler ist Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin, Unabhängige Expertin der Vereinten Nationen für die Rechte Älterer, Lehrbeauftragte im Projekt Menschenrechte im Gesundheitswesen im Studiengang Gesundheits- und Pflegemanagement.
Dr. Tim Reiß ist Philosoph, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Christliche Ethik und Politik (ICEP) der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin, Lehrbeauftragter an der ASH Berlin im Projekt Menschenrechte im Gesundheitswesen im Studiengang Gesundheits- und Pflegemanagement.