Seitenwechsel Das Kunstwerk fortführen

Interview über Schreibworkshops im Rahmen der Ausstellung Inside Out von Etgar Keret im Jüdischen Museum Berlin

Ein kleines Mädchen sitzt auf dem Rücken von einem Pferd - Schwarz-Weiß Fotografie
Meine Mutter, Polen, ca. 1937; Etgar Keret Etgar Keret
Guido Rademacher, Sie bieten Schreibworkshops  zum Kreativen Schreiben im Rahmen der Ausstellung Inside Out von Etgar Keret im Jüdischen Museum Berlin. Was erwartet Teilnehmende dieser Workshops?

Nicht ich allein biete diese Workshops an, sondern weitere Kolleg_innen des ASH-Masterstudiengangs Biographisches u. Kreatives Schreiben (BKS), d.h. konkret, der Alumnus des BKS Thomas Avenhaus, der heute auch als Dozent in unserem Studiengang tätig ist, sowie die Alumna Carmen Eder und die Studentin Verena Herz.
Die Workshops werden zweimal in der Woche für Schüler_innen ab der 7. Klasse angeboten sowie für Erwachsene zu individuellen und zu festen Terminen. Bei den festen, vierstündigen Terminen handelt es sich um ein Gesamtpaket bestehend aus Schreibworkshop, Führung durch die Ausstellung und einem abschließenden Lunch.
Mit den Workshops soll an das schriftstellerische Werk des israelischen Autors Etgar Kerets im Besonderen sowie insgesamt an die Ausstellung Inside Out, hier als Gesamtkunstwerk zu verstehen, angeknüpft werden. D.h. durch den Workshop wird es den Teilnehmer_innen ermöglicht, das Kunstwerk fortzuführen – das im Sinne U. Ecos auch als offenes Kunstwerk zu verstehen ist – und somit performativ durch das Schreiben und Präsentieren literarischer, assoziativer Texte zum Thema Mutter proaktiver Teil der Ausstellung zu werden.
Werke, die als offen gestaltet zu bezeichnen sind, benötigen aktiv am „Prozess der Sinnkonstitution“ (von Rosen) beteiligte Rezipient_innen sowie Produzent_innen, ein Prozess der als grundsätzlich nicht abgeschlossen gilt. Dementsprechend ist diese Auffassung auch auf literarische Texte zu beziehen, im Sinne der poststrukturalistischen Literaturbetrachtung nach Barthes u. Foucault, die u.a. besagt, dass sich die Rezeption nicht nur auf das Lesen beschränken muss, sondern dass der Text auch aktiv weitergeschrieben, überschrieben oder neugeschrieben werden kann, um dadurch neue Sinngehalte zu evozieren. Dem Verhältnis zwischen Autor, Text und Objekt wird durch den Workshop dementsprechend invers das Verhältnis zwischen Rezipient_innen, Objekt und Text gegenübergestellt:

Etgar Keret ⇾ Text ⇾ Objekt ⇿ Rezipient_innen ⇾ Text ⇾ Autor_innen

Was hat die Ausstellung mit Kreativem Schreiben gemeinsam?

Wie oben schon erläutert, beziehen sich die Workshops auf die Texte von Etgar Keret, die im Zentrum der Ausstellung stehen. Diese Texte beschäftigen sich ausschließlich mit der verstorbenen Mutter Etgar Kerets (einzige Überlebende der Shoa ihrer Familie) und sind somit als biografische Geschichten zu verstehen, die aber aus mitunter verschwommenen, lückenhaften Reminiszenzen resultieren, die von Etgar Keret durch Phantasie respektive Fiktion gefüllt und ästhetisiert wurden. Daraus ergibt sich der starke Bezug zu unserem ASH-Masterstudiengang, d.h. zum biographischen und kreativen Schreiben.
Die Workshops sollen also die Teilnehmer_innen zum Schreiben motivieren sowie zum Assoziieren, Erinnern und Phantasieren befähigen. An vorhandene ästhetische und sinnliche Erfahrungshorizonte wird angedockt respektive die Horizonte werden anhand spezifischer Methoden und Schreibprozesse erweitert.
Etgar Kerets Geschichten können in der Ausstellung gehört und gelesen werden, stehen aber nicht allein im Raum, sondern werden von weiteren Künstler_innen durch Installationen, Fotografien, durch ein Video etc. ergänzt und/oder erweitert, d.h. auf eine weitere ästhetische und inhaltliche Betrachtungsebene transponiert. Und genau diese Intentionen übernehmen wir für unsere Workshops, was bedeutet, dass auch die Teilnehmer_innen nicht nur die Möglichkeit zum kreativen, biografischen, literarischen Schreiben erhalten, sondern auch die Chance ihre Texte auf der Homepage des Jüdischen Museums zu publizieren, um somit dem Motto der Ausstellung Inside Out – die soeben wegen der großen Resonanz bis März verlängert wurde – gerecht zu werden und das Innere nach Außen zu tragen. 

Wie kam es zu der Kooperation?

Die Leiterin der Abteilung Bildung des Jüdischen Museums Berlin, Dr. Diana Dressel, hat uns, d.h. den BKS, direkt angefragt. Darauf habe ich nach kurzen Sondierungen gleich zugesagt, worauf erste Vorgespräche folgten und schließlich die Erstellung der Workshopkonzepte, die zum einen für Schüler_innen der verschiedensten Jahrgänge entwickelt wurden, unter Einbeziehung der Berliner Rahmenlehrpläne, und zum anderen für Erwachsene, resultierend aus dem Curriculum des BKS sowie aus den Erfahrungen der beteiligten, oben genannten Kolleg_innen.

 

Guido Rademacher ist Lehrbeauftragter im Master Biografisches und Kreatives Schreiben und dort Ansprechpartner für Lehrinhalte und die Durchführung der studienbegleitenden Kolloquien.