Internationale Konferenz Building bridges for solidarity and public health

Prof. Dr. Claudia Winkelmann berichtet von der 12. Europäischen Public Health Konferenz

Eine große Leinwand, davor Zuhörer_innen und die Vortragende
Sophie Beau, Mitbegründerin von SOS Méditerranée, während ihres Keynote-Referats

Die 12. Europäische Public Health Konferenz fand vom 20. bis 23. November 2019 in Marseille statt. Weltweit gelten die Konferenzen als das wichtigste europäische Jahrestreffen von Angehörigen der Gesundheitsberufe. „No health without public health“ betonte Dr. Hans Kluge, Regionaldirektor für Europa der Weltgesundheitsorganisation (WHO), in seinen Grußworten an die mehr als 2.500 internationalen Delegierten. Damit war es die bislang größte Konferenz dieser Art mit Forscher_innen, Entscheidungsträger_innen, Praktiker_innen und Lehrenden im Bereich Public Health sowie in den angrenzenden Gebieten. In der Eröffnung hob Dr. Yves Charpak, der Konferenz-Vorsitzende, die aktuelle Bedeutung des Kongressmottos hervor: "While other are building walls, the Marseille conference offers an opportunity to build new bridges: of working together between the public health communities in Europe and Africa and of seeking solutions to our shared challenges as inhabitants of a small planet now facing global threats, from climate change, emerging infections, and the global epidemic of non-communicable disease.”

„Solidarity is everywhere. Bridges can be built to network.”

 Die Länder in Europa haben das Rahmenkonzept “Gesundheit für alle” für die Europäische Region der WHO unterzeichnet. Ein Ziel ist es, die allgemeine Zugänglichkeit zu Gesundheitsdiensten als Grundrecht eines jeden Menschen zu verankern. Das darauf aufbauende Keynote-Referat von Sophie Beau wurde immer wieder durch anerkennenden Applaus des Publikums unterbrochen. Die Mitbegründerin von SOS Méditerranée, ein ziviler Seenotrettungsverband, leitet seit zwanzig Jahren soziale und humanitäre Programme, wie Ärzte ohne Grenzen und Ärzte der Welt in Afrika. Sie berichtete sehr eindrucksvoll von der Koordination der Teams aus Mediziner_innen, Sozialarbeitenden, Pflegenden und weiteren sowie dem Kampf gegen jegliche Ausgrenzung. Sie ist gemeinsam mit dem deutschen Kapitän Klaus Vogel Mitbegründerin von SOS Mittelmeer und verwies auf mehr als 30.000 gerettete Migrant_innen, aber auch die Personen, die nicht gerettet werden konnten. Insbesondere gab sie Einblicke in die Bedingungen der Gesundheitsversorgung in den Lagern und auf dem Rettungsschiff sowie in die kaum fassbaren Realitäten von Vergewaltigung, Folter und Gewalt der Migrant_innen, denen insbesondere Frauen auf der Flucht ausgesetzt sind. „Keep in mind!” schloss sie ihr Keynote: „Solidarity is everywhere. Bridges can be built to network.”

Zum Networking sah das Programm spezielle Zeitslots vor. Die Konferenz bot hervorragende Möglichkeiten, in jeweils über 20 parallel durchgeführten Workshops, Elevator Pitches, Präsentationen, Postersessions sowie Kompetenztrainings neueste Forschungsergebnisse zu diskutieren und den Transfer von Best Practice Projekte anzubahnen. Die Ländersitzung Deutschland fand am Donnerstag zum Vernetzen von Angehörigen der Hochschulen für Gesundheit statt. Mit Kolleg_innen der Universität Bielefeld wurden unter anderem bezogen auf das in diesem Jahr von der Hochschule für Wirtschaft Zürich veröffentlichte Whitepaper Digitale Ethik die Notwendigkeit ethischer Grundsätze digitaler Innovationen im Gesundheitssystem diskutiert.

Das Potential von Digital Health ist noch nicht ausgeschöpft

Digitalisierung war im Hinblick auf die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung ein Schwerpunkt an allen Konferenztagen. Lorenz Harst, M.A., von der TU Dresden stellte seine Forschung im Rahmen des Projektes Care4Saxony vor. Ziel der Kooperation mit der sächsischen Stadt Kamenz ist es, den erwarteten Veränderungen aufgrund demografischer Entwicklung mit adäquaten Lösungen zur flächendeckenden Gesundheitsversorgung der Einwohner_innen zu begegnen. Das Potential von Digital Health ist noch nicht ausgeschöpft und wird von den derzeitigen Leistungserbringenden kritisch reflektiert. Neben der Verbindung von Mediziner_innen, Pflegenden, Therapeut_innen und weiteren soll auch die Brücke zu Bürger_innen und Patient_innen geschlagen werden. Digitalisierung bedeute in diesem Zusammenhang, Tele-Konsultation, aber auch Vernetzung für notwendige Transporte bei nicht ausreichend verfügbaren öffentlichen Nahverkehrsangeboten sowie die Einrichtung von Zentren, die nicht nur Internet-Zugang gewährleisten, sondern auch persönlich die Hochbetagten in IT-Fragen und -Anwendungen unterstützen könnten. Hier bietet sich eine Brücke zum vertiefenden Austausch über die Institutsgrenzen hinaus an: Studierende des 6. Semesters im Modul Versorgungskonzepte im Bachelor-Studiengang Gesundheits- und Pflegemanagement der ASH Berlin sehen aufgrund ihrer bereits abgeschlossenen beruflichen Ausbildung und großen praktischen Erfahrungen ebenfalls Bedarf solcher Konzepte, insbesondere für vergleichbare regionale Strukturen im Berliner Umland.

Auch das von Dr. Claudia Winkelmann, ASH Berlin, vorgestellte Curriculum GeriNeTrainer zielt auf die flächendeckende, quartiersnahe Versorgung von Hochbetagten. Laien und Profis entwickeln in gemeinsamen Modulen Kompetenzen zur Aktivierung, insbesondere dementiell erkrankter Personen und zum Quartiersmanagement. Das im Rahmen einer Förderung des geriatrischen Netzwerkes Leipzig durch das Sächsische Sozialministerium entwickelte Lehrkonzept wurde positiv evaluiert. Es konnte durch das Lehrkonzept GeriNurse erweitert werden, welches sich derzeit in der Umsetzungsphase befindet. Die Leitende Beraterin Ragnhild Storstein Spilker vom Norwegischen Public Health Institut, Oslo, fand den Ansatz, Laien zu Trainer_innen und Kontaktpersonen für dementiell erkrankte Hochbetagte auszubilden auch bezogen auf die hierbei stattfindende Entwicklung von Gesundheitskompetenz interessant. Als Pflegende in Norwegen sah sie sich vor ähnliche Herausforderungen wie in Deutschland gestellt. Mittlerweile zählt die Koordination mehrerer Netzwerke in Norwegen zu ihrer Aufgabe. Sie kooperiert bereits mit dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V. (DZNE) der Universität Greifswald im Zusammenhang mit dem WHO Aktionsplan Demenz, in dem die Nationalen Demenzstrategien Berücksichtigung finden.

Gesundheitskompetenz von Patient_innen mit Schmerz

Zur Förderung der Gesundheitskompetenz von Patient_innen mit Schmerz ist Dr. Claudia Winkelmann in der Deutschen Schmerzgesellschaft aktiv. Im Hinblick darauf präsentierte sie gemeinsam mit Dr. Thomas U. Schreiber, Basel, einen Denkimpuls zur Erweiterung des im Schmerzmanagement gebräuchlichen Flaggensystems. Zur Beurteilung der individuellen Schmerzsituation hat sich die Klassifizierung verschiedener Faktoren (Flags) etabliert und klinisch bewährt. Beispielsweise markieren red flags schwerwiegende strukturelle, biomechanische und yellow flags psychologische, verhaltensbezogene Faktoren, blue flags bezeichnen Arbeitsplatz- und green flags iatrogene Faktoren. Klient_innen können ein besonderes subjektives Krankheitsverständnis zeigen, das weder auf psychologische Interventionen noch Verhaltenstherapien reagiert. Hierzu gehören individuelle Überzeugungen, die beispielsweise auf kultureller Sozialisation, religiöser Erziehung oder spiritueller Erfahrungen basieren. Selten entsprechen diese den Ansätzen der sogenannten westlichen Medizin. Da derartige individuell sozialisierte Krankheitsvorstellungen vordergründig kulturell ideologisch oder religiös begründet sind, sollten sie in einer separaten Gruppe als white flags eingeordnet werden. Zur Implementierung und Evaluation wurde eine Forschungskooperation mit der Universität von Glasgow angebahnt. Dahingehende Untersuchungen könnten für Bachelor- und Masterstudierende verschiedener Studienbereiche der ASH Berlin interessant sein, die eine wissenschaftliche Karriere anstreben und promovieren möchten.

„No health without public health“

Um das Bewusstsein speziell für geschlechtsspezifische Normen sowohl in der Forschung als auch in der klinischen Praxis ging es Anke Samulowitz, Doktorandin an der Universität Göteborg. Sie stellte ihre literaturgestützten Ergebnisse der Studie „Tapfere Männer und emotionale Frauen“ zu geschlechtsspezifischen Normen über Männer und Frauen mit Schmerzerkrankungen und geschlechtsspezifischer Voreingenommenheit bei der Behandlung von Schmerzen vor. Demnach kann eine geschlechtsspezifische Verzerrung bei der Schmerztherapie als Teil der Begegnung zwischen Patient_innen und Leistungserbringenden sowie der Behandlungsentscheidung der_s Fachärztin_arztes festgestellt werden. Insofern unterstützt ein Bewusstsein für geschlechtsspezifische Normen, um geschlechtsspezifischen Verzerrungen im Gesundheitswesen entgegenzuwirken sowie letztlich die Angehörigen der Gesundheitsberufe bei deren gerechteren Versorgung.

Zur 13. Europäischen Public Health Konferenz, die gemeinsam mit dem 16. Weltkongress „Public health for the future of humanity: analysis, advocacy and action“ in Rom stattfindet, werden mehr als 4.000 Teilnehmende erwartet. Eine Gelegenheit für Jaqueline Metken, Berlin School of Public Health Berlin, Interessierten die Ergebnisse ihrer Querschnitterhebung vorzustellen. Im Rahmen ihrer Masterarbeit, betreut durch Dr. Winkelmann, forscht sie zum Komplex Masernimpfung bei Studierenden der DHBW Stuttgart im Fachbereich Soziale Arbeit.