Seitenwechsel Bis jetzt dreimal lebenslänglich

Plädoyer eines Dauer-Patienten für die Weiterentwicklung eines Berufsfeldes. Erfahrungen aus 45 Jahren Physiotherapie

Portraitaufnahme von Dr. Karsten Lippmann
Julia Bornkessel

Karsten Lippmann ist Vorsitzender des ABiD-Instituts Behinderung & Partizipation (IB&P), eines An-Instituts der ASH Berlin. Anlässlich des Welttages der Menschen mit Behinderungen, am 3. Dezember, beschäftigt sich sein Beitrag mit der Bedeutung der Physiotherapie für diesen Personenkreis, auch mit Blick auf die Zukunft des Studienangebotes für Ergo- und Physiotherapeut_innen an der ASH Berlin und er gibt Einblick in seine persönlichen Erfahrungen als schwerbehinderter Mensch.

„Deine Hochschule“, sagte sie lachend, „bildet übrigens auch Physiotherapeuten aus. Meinen Glückwunsch!“
„Wer tut was?“, fragte ich. Ich war noch nicht ganz wach, wie manchmal, morgens kurz nach acht Uhr. – Ist aber auch nicht unbedingt nötig. Sie hatte gerade mein Arbeitszimmer betreten, ich hatte mich bereits auf den Boden gelegt.
Seit Jahrzehnten der ungefähr selbe Ablauf, zur ungefähr selben Uhrzeit. Nur die Therapeutinnen wechseln, selten, aber immer noch öfter als mir lieb ist.
„Was machen wir heute?“, hatte sie gefragt. – „Der rechte Arm ist besonders spastisch. Viel Schreiberei.“
„Selbst schuld“, seufzte sie, leicht genervt. „Ich habe Dir schon so oft gesagt …“
„Nicht meckern, durchbewegen, bitte.“, unterbrach ich.
„Schade.“, antwortete sie, „Ich kann durchbewegen und dabei meckern. Das ist Multi-Tasking.“ Sie begann mit kleinen Bewegungen meines Armes und wechselte wieder das Thema: „Jedenfalls habe ich nachgelesen: Deine Alice Salomon Hochschule bietet auch ein Studium für Physiotherapeut_innen als berufsbegleitenden Bachelor an. Klingt interessant. Vielleicht bewerbe ich mich.“
Langsam wurde ich wacher. „Erstens“, sagte ich, „ist das nicht ‚meine‘ Hochschule. Ich bin lediglich der Vorsitzende des ABiD-Instituts Behinderung & Partizipation“. Das ist ein An-Institut der ASH Berlin. Und der Vorsitz ist ein Ehrenamt.“
„Na trotzdem, immerhin.“
„Ja, ich weiß, ich bin ein Glückspilz. – Aber zweitens: Du bist doch schon Physiotherapeutin. Oder hätte ich mir Deine Zeugnisse zeigen lassen sollen?“
„Die kann ich Dir gerne mitbringen, nächste Woche. – Aber, im Ernst: In dem Studium geht es um andere Dinge. Moderne Physiotherapie, das ist auch Management und Interessenvertretung, z. B. in Verbänden und Kammern …
„…über die Du Dich hier schon oft aufgeregt hast …“
„… Und mit dem Studienabschluss könnte ich dann selbst mitarbeiten, damit sich andere Leute über mich aufregen.“
Die Bewegungen meines Arms wurden größer. „Wenn es weh tut …“
„… Dann erfüllt es seinen Zweck.“, fiel ich ihr lächelnd ins Wort.
„Jetzt hör aber mal auf mit diesem Quatsch.“, ermahnte sie mich, etwas zu ernsthaft, für meinen Geschmack. „Ich habe meine Lehre im Jahr 2018 abgeschlossen, nicht 1850! Wenn Dehnungen richtig weh tun, bringt das gar nichts.“
Ich seufzte, nur halb im Scherz: „Das müssen diese modernen Zeiten sein, von denen immer alle reden.“

In diesem Moment erinnerte ich mich daran, dass ich jetzt seit 45 Jahren physiotherapeutischer Dauerpatient bin. Etwas mehr als 46,5 Jahre bin ich alt. Und auch die 1,5 Jahre Differenz zwischen beidem waren kein glücklicher Umstand, ganz im Gegenteil: „Vielleicht hätten wir mehr machen können, wenn man uns wenigstens gleich gesagt hätte, was los ist.“, stellen meine Eltern manchmal heute noch bedauernd fest. Und die Medizin gibt ihnen Recht: Hirnschäden, frühkindliche besonders, sollen möglichst umgehend therapiert werden, um die Folgen in Grenzen zu halten. Davon, die Familien erst einmal anderthalb Jahre in Vertröstungen schmoren zu lassen und sie dann, nach einem der vielen Arztbesuche, ohne weitere Kommentare, mit einer Broschüre nach Hause zu schicken, damit sie nachlesen, was wohl mit ihrem Kind los ist, ist sicher nirgends die Rede …

Meine Krankengeschichte ist eigentlich nicht aufregend, weil „die klassische“ einer spastischen Tetraplegie: Sauerstoffmangel während der, einen Monat zu früh erfolgten, Geburt. Als Folge eine spastische Lähmung, „wie sie im Buche steht“, und, das ist der eigentlich hier interessante Punkt, bis jetzt 45 Jahre Physiotherapie „aus Patientensicht“, halt dreimal lebenslänglich. Ich hoffe, dass noch zwei bis dreimal 15 Jahre hinzukommen werden. Denn, bei allen Schwierigkeiten, aller Kritik und allem Sarkasmus: Ich bin meinen Physiotherapeutinnen (es waren von Anfang an immer Frauen) sehr dankbar für ihren Einsatz. Sie werden mich wohl bis an mein Lebensende begleiten, so weit zumindest, wie die Gebührenordnungen der Krankenkassen das zulassen.

Nicht nur deshalb begrüße ich ausdrücklich, dass die ASH Berlin ein berufsbegleitendes Studium für Physiotherapeut_innen nach der Modellklausel anbietet: Wenn die Möglichkeiten der Physio- und Ergotherapeut_innen verbessert werden, ihr Berufsfeld mitzugestalten, ist das ganz im Sinne ihrer Patienten und Patientinnen. Im ersten Schritt sollte daher der Zugang in das Studium über die Modellklausel auch über das Jahr 2024 hinaus offengehalten werden. Mittelfristig ist zu empfehlen, diesen attraktiven und wichtigen Studiengang ins Curriculum der ASH Berlin zu übernehmen.

Es wird wohl niemanden verwundern, dass „mein erstes Mal lebenslänglich“ Physiotherapie das schwerste war. Soll und will ich überhaupt darüber schreiben? – Vielleicht am ehesten über Frau J., meine allererste Physiotherapeutin. Dabei erinnere ich mich gar nicht an sie, bzw. nur indirekt: Meine Mutter ging damals mit mir zu ihr. Meine Mutter ist eine sehr freundliche, warmherzige, aber eigentlich keine sentimentale Person. Doch noch heute kann es passieren, dass sie mich zufällig irgendwelche Bewegungen oder Handgriffe machen sieht, bei denen sie plötzlich mit der Rührung kämpft und sagt: „Das hat Dir Frau J. damals beigebracht. Erinnerst Du Dich?“ Nein, Mama, ich war ja erst um die zwei Jahre alt. Aber wenn es Dich so bewegt, war es offensichtlich wichtig.

Und auch Nicht-Erinnern kann ein Kompliment sein. Es folgt dann nämlich eine Phase der Physiotherapie, aus der erinnere ich zu viel: Ein großer Saal im Internat, Schmerzen, Tränen und Gebrüll der Therapeutinnen. Dass die Behandlungen weh tun müssen, angeblich oder tatsächlich, vertraten sie offensiv. Und sie behandelten auch so. Fachlich war die Physiotherapie in dem Internat allerdings gut. Ich wurde dort später nach Vojta behandelt, was Ende der 1980er Jahre sehr fortschrittlich war, auch international gesehen. Da ich kein Säugling mehr war, waren die bis heute geführten Debatten, ob Babys unter dieser Therapie irgendwie leiden, da sie dabei häufig weinen, in meinem Fall überflüssig. Die Behandlung empfand ich als anstrengend, aber auch als angenehm. Letzteres schon deshalb, weil es immer hieß: „Vojta braucht Ruhe.“ Also war Ruhe. Die Therapeutinnen, die ich sonst vor allem brüllend kannte, was ich hasste, brüllten nicht. Ob die Vojta-Therapie sonst positive Auswirkungen auf mich hatte, kann ich nicht genau sagen. Das Laufen brachte sie mir nicht bei. Allerdings war ich eben kein Baby mehr und konnte mich gar nicht an die Empfehlung halten, nach jeder Sitzung mindestens 2 Stunden zu schlafen. Ich war Schüler. Meistens ging ich in den Unterricht zurück oder machte Hausaufgaben. Irgendein Absacken meiner schulischen Leistungen wollte ich nicht akzeptieren und sie sackten auch nicht ab. Käme ich heute ohne Rollstuhl zurecht, wenn ich zweieinhalb Jahre nur für Vojta gelebt hätte? Keine Ahnung. – Aber garantieren wollte mir das, verständlicherweise, keiner.

Es mag für Physiotherapeut_innen und Angehörige aller Heilberufe frustrierend sein, wenn die Patient_innen sich nicht völlig an ihre Anweisungen halten. Aber vergessen Sie bitte nie: Eine Empfehlung ist schnell ausgesprochen, wenn sie nicht geholfen hat, ist das ggf. auch schnell konstatiert. Es sind die Patient_innen, die „zwischendurch“ ihr Leben ändern sollen. Viel könnte ich jetzt noch über Physiotherapie schreiben. Über ihre Wichtigkeit, gerade für Menschen mit Behinderung. Über ihre Grenzen, in eben demselben Fall. Doch hoffe ich, mein Standpunkt ist klargeworden, mein Dank angekommen.

Gut ausgebildet waren die Therapeutinnen, in „meinem“ Internat, das hatte ich ja schon geschrieben. Spätestens mit der Wende besserten sich dann auch ihre Umgangsformen. Aber nicht nur das: Die lauteste und brutalste unter ihnen war plötzlich weg. Es veränderte sich viel in jenen Jahren und das Verschwinden dieser Frau erlöste uns wohl alle. Ca. 3 Jahre vergingen. Dann rief man mich aus dem Unterricht in die Therapie-Räume. Das war sehr ungewöhnlich.  – Schon von weitem glaubte ich, ihre Stimme zu erkennen. Ungewohnt war sie trotzdem. Sie schrie nicht. Früher hatte sie diesen Ton manchmal gehabt, weil sie es lustig fand, unvermittelt zu schreien. Den Ruhe-Ton hielt sie dann aber höchstens eine Minute durch. Jetzt horchte ich schon 5 Minuten, unschlüssig, ob ich nicht doch „wegrennen“ sollte. Ich fand aber, das sei kein angemessenes Verhalten, für einen Achtklässler. Vielleicht war sie es gar nicht? Konnte ja auch nicht sein. Ich bog um die Ecke und spürte das Entsetzen auf meinem Gesicht: „Na, da freut sich aber einer, mich zu sehen.“ Sie lächelte demonstrativ. „Nicht wirklich, Frau X.“, antwortete ich. „Na, na, wer wird denn so nachtragend sein? Ich gehe auch heute Nachmittag wieder.  Ich will meinen Kolleginnen nur was zeigen. Dich habe ich dafür holen lassen, weil wir uns schon kennen. „Allerdings.“, bestätigte ich, bemüht, dabei unerschrocken zu klingen. Dann beturnte sie mich und war dabei die Höflichkeit in Person: „Würdest Du bitte … Ja, danke sehr gut.“ Den Zwischengesprächen mit ihren Kolleginnen nach zu urteilen, hatte sie jetzt eine eigene Praxis, irgendwo im Westen. – Offensichtlich schätzten es die Eltern dort nicht, wenn man ihre Kinder zusammenbrüllte. Wir alle lernen dazu, lebenslänglich.

Nachbemerkungen:

Im Dezember 2008 beschlossen der Deutsche Bundestag und der Bundesrat, die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) zu ratifizieren. Eine wirkliche Debatte fand dazu im Bundestag am 4. Dezember nicht statt, die Reden wurden zu Protokoll gegeben, darunter auch der Beitrag des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Gründungsvorsitzender des ABiD-Instituts Behinderung & Partizipation. Die BRK ist seit dem 26.03.2009, also seit über 15 Jahren, innerstaatliches Recht. Mit Blick auf meinen Beitrag empfehle ich folgende Artikel der BRK zu lesen:

  • Artikel 4 Absatz 1 i – Allgemeine Verpflichtungen,
  • Artikel 7 – Kinder mit Behinderungen,
  • Artikel 10 – Recht auf Leben,
  • Artikel 25 – Gesundheit,
  • Artikel 26 – Habilitation und Rehabilitation.

Die vorerst letzte Debatte zur Reform der Ausbildung der Physiotherapieberufe fand im Bundestag am 18.10.2023 statt. Es lohnt, die Debatte nachzulesen und die dort vorgebrachten Argumente ggf. auch an der ASH Berlin zu diskutieren, gern auch mit mir gemeinsam.

 

3. Dezember: Internationaler Tag der Menschen mit Behinderungen

Prof. Dr. Sigrid Arnade, Honorarprofessorin der ASH Berlin, über die Bedeutung des Gedenk- und Aktionstages

 

Im Jahr 2024 steht der 3. Dezember unter dem Motto „Amplifying the leadership of persons with disabilities for an inclusive and sustainable future"[1], was sinngemäß etwa so übersetzt werden kann: “Stärkung der Führungsrolle von Menschen mit Behinderungen für eine inklusive und nachhaltige Zukunft“.

Dieses Motto wurde von den Vereinten Nationen gewählt und passt zu dem Geist der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)[2], die seit dem 26. März 2009 in Deutschland geltendes Recht ist. Schon in der UN-BRK spielt das Konzept der Partizipation von Menschen mit Behinderungen über die sie vertretenden Organisationen eine bedeutende Rolle. Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, der die Umsetzung der UN-BRK weltweit überwacht, hat 2018 sein Verständnis von Partizipation in einem „General Comment“ (deutsch: „Allgemeine Bemerkung“) konkretisiert.[3] Darin wird sehr klar unterschieden zwischen Organisationen von Menschen mit Behinderungen und Organisationen für Menschen mit Behinderungen. Ersteren, die im Deutschen als Selbstvertretungsorganisationen bezeichnet werden, wird ein deutlich größeres Mitspracherecht eingeräumt als Letzteren. Das Motto des diesjährigen Internationalen Tages der Menschen mit Behinderungen entspricht also dem Geist der UN-BRK.

Alljährlich lädt der Deutsche Behindertenrat (DBR)[4] um den 3. Dezember herum zu einer „Welttagsveranstaltung“ ein, auf der die aktuellen politischen Herausforderungen und DBR-Forderungen diskutiert werden. 2024 entfällt die Veranstaltung. Stattdessen gibt es eine Protestveranstaltung vor der Installation „Grundgesetz 49“ am Reichstagsufer für mehr Barrierefreiheit und angemessene Vorkehrungen.[5]

Der 3. Dezember wurde nach einem „Jahrzehnt der behinderten Menschen“ im Dezember 1992 von den Vereinten Nationen zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen erklärt. Er wurde am 3. Dezember 1993 erstmals begangen und soll seither alljährlich weltweit das Bewusstsein für die Belange der Menschen mit Behinderungen schärfen und den Einsatz für ihre Würde und Rechte fördern.[6]


[1] https://social.desa.un.org/issues/disability/events/2024-international-day-persons-with-disabilities (30.11.2024)

[2] https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/PDF/DB_Menschenrechtsschutz/CRPD/CRPD_Konvention_und_Fakultativprotokoll.pdf (30.11.2024)

[3] https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsschutz/datenbanken/datenbank-fuer-menschenrechte-und-behinderung/detail/crpd-2018-allgemeine-bemerkung-nr-7-zu-artikel-4-und-33-partizipation-von-menschen-mit-behinderungen-einschliesslich-kindern-mit-behinderungen-ueber-die-sie-repraesentierenden-organisationen-bei-der-umsetzung-und-ueberwachung-des-uebereinkommens (30.11.2024)

[4] https://www.deutscher-behindertenrat.de/ID0 (30.11.2024)

[5] https://kobinet-nachrichten.org/2024/11/29/protest-fuer-barrierefreiheit-und-angemessene-vorkehrungen/ (30.11.2024)

[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Internationaler_Tag_der_Menschen_mit_Behinderungen und https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/301408/internationaler-tag-der-menschen-mit-behinderung/  (30.11.2024)