Am 30. August 2020 ist Prof. Ingrid Stahmer im Alter von 77 Jahren verstorben. Bekannt war und ist sie vor allem als Sozial- und Jugendsenatorin a. D. sowie Kandidatin für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin in Berlin, doch die wenigsten wissen, dass sie u. a. Sozialarbeiterin, Supervisorin und Coach war. Der ASH Berlin war sie schon seit den 1990er-Jahren verbunden und hat der Hochschule seitdem viele Türen in für uns wichtige Senatsverwaltungen geöffnet. Auch in ihre Wohnung lud sie des Öfteren für strategische Besprechungen ein. Seit 02.12.2003 war sie Honorarprofessorin der ASH Berlin und hat in dieser Funktion viele Workshops und Sitzungen für uns geleitet. An der Erstellung der Grundordnung hat sie in der ersten Phase maßgeblich mitgewirkt.
Meine eigene Geschichte mit Ingrid Stahmer fängt jedoch noch viel früher an, nämlich mit meiner Geburt in den frühen 1960er-Jahren: Sie war mit meinen Eltern befreundet und zudem über die SPD verbunden. Gern hat sie bei unserer späteren beruflichen Zusammenarbeit einem Fachpublikum oder auch der versammelten Presse mitgeteilt, dass ich früher auf ihrem Schoß gesessen habe. Ich habe es mit Fassung hingenommen, denn so war sie: Immer spontan und frei heraus, dabei empathisch und zugewandt.
Den ersten beruflichen Kontakt mit ihr hatte ich in meinem ersten Anerkennungspraktikum als Sozialarbeiterin 1984 im Bezirksamt Charlottenburg. Sie war dort Sozialstadträtin und kam zur Verblüffung meiner Kolleginnen auch mal vorbei, um mich zum Mittagessen in der Postkantine nebenan abzuholen. Ende der 1980er-Jahre traf ich sie dann mehrfach als Verhandlungspartnerin des Arbeitskreises Wohnungsnot als Sozialsenatorin wieder. Noch heute wird von ihr als erster (und 16 Jahre lang letzter) Senatorin geschwärmt, die sich für die Probleme wohnungsloser Menschen interessierte und sich für einen Ausbau des Hilfesystems einsetzte. Nach ihrem Ausscheiden als Senatorin 1999 setzte sie sich nicht etwa zur Ruhe, sondern übernahm unzählige ehrenamtliche Aufgaben und arbeitete zudem als Supervisorin und Führungskräftetrainerin. Immer wieder traf ich dadurch in beruflichen Zusammenhängen auf sie. 2011 fragte ich sie im Auftrag der zwei Jahre zuvor gegründeten Landesarmutskonferenz (lak Berlin), ob sie sich vorstellen könnte, uns als eine von zwei Sprecher_innen zu unterstützen und bei der anstehenden Wahl zu kandidieren. Sie zählte mir am Telefon 20 Minuten lang ihre zeitliche Überlastung durch ihre vielen Ehrenamtsaufgaben auf, um dann sinngemäß zu sagen: „Aber ich wollte da sowieso mal ausmisten und das mit der lak hört sich wichtig an. Ich bin dabei!“. Letztes Jahr hat sie den Generationenwechsel eingeleitet und nicht erneut kandidiert. Sie wurde dann unsere Schirmfrau und war weiterhin – trotz vieler gesundheitlicher Einschränkungen – engagiert dabei, uns Türen zu öffnen, Spenden einzuwerben oder uns mit wichtigen Informationen zu versorgen. Noch vier Tage vor ihrem Tod hat sie in einer Videokonferenz des Sprecher_innenrats der lak Berlin neue Ideen und Strategien mit uns entwickelt, sich zur Übernahme von Aufgaben bereit erklärt und sich gefreut, dass sie die technischen Herausforderungen unserer cononabedingt virtuellen Sitzungen mittlerweile gut meistern kann.
Es ist für mich unvorstellbar, dass dieses Energiebündel und diese begnadete Netzwerkerin mir nicht mehr begegnen wird. Viele Kolleg_innen der ASH Berlin haben sie während ihrer Aktivitäten kennen und schätzen gelernt. Sie wird unserer Hochschule fehlen, und wir werden sie schmerzlich vermissen.
Susanne Gerull, 03.09.2020