Menschen Oral Herstory

Interview zum Projekt Berlin in Bewegung, wo Aktivisti_innen von der Frauen/Lesbenbewegung seit 1968 erzählen

Zitat und Porträt Nivedita Prasad aus dem Projekt Berlin in Bewegung des FFBIZ
Prof. Dr. Nivedita Prasad im Interview für Berlin in Bewegung FFBIZ

Seit 2014 interviewen das  feministischen Archiv FFBIZ Zeitzeug_innen zur Geschichte der Frauen*bewegungen in Berlin. Dabei soll aufgezeigt werden, wie Lesben/Frauen* in Ost- und Westberlin seit 1968 autonome Einrichtungen, Netzwerke und viele weitere Infrastrukturen aufgebaut und getragen haben. 

Dagmar Nöldge arbeitet seit 2006 als wissenschaftliche Archivarin im feministischen Archiv FFBIZ in Berlin-Pankow Ortsteil Prenzlauerberg. Friederike Mehl ist seit 2013 im FFBIZ aktiv - zunächst als Praktikantin, dann als Mitarbeiterin in verschiedenen Digitalisierungs- und Oral Herstory-Projekten. Seit 2019 arbeitet sie als Archivarin im Alice Salomon Archiv. Nöldge und Mehl haben zusammen mit Roman Klarfeld das Projekt berlin-in-bewegung.de im FFBIZ initiiert, das 2019 online ging. Seit Dezember 2020 sind dort Interviews mit den Aktivist_innen und (ehemaligen) ASH-Professor_innen Dagmar Schultz und Nivedita Prasad abrufbar.

Was sind die Ziele von "Berlin in Bewegung" und wie sind Sie zu dem Projekt gekommen?

Nöldge: Am Anfang stand die Idee zum 50. Jahrestag von „1968“ – dem Jahr des viel zitierten Tomatenwurfs von Sigrid Rüger - 50 Frauen* zu interviewen, die die Stadt Berlin politisch und gesellschaftlich geprägt haben und diese Interviews 2018 – zum 40jährigen FFBIZ-Jubiläum – zu präsentieren. Wir haben dann gemerkt, wie kosten- und zeitintensiv unser Vorhaben ist, auch angesichts mangelnder Ressourcen. Daraufhin sind wir das Projekt etwas langsamer angegangen.

Mehl: Wir wollten bei uns im feministischen Archiv nicht nur die Quellen lesen und unseren Nutzer_innen zur Verfügung stellen, sondern auch mit den Frauen* sprechen, die Politaktionen geplant, Texte geschrieben und Projekte und Netzwerke geschaffen haben. Mich selbst hat zu Beginn des Projekts vor allem interessiert, wie es kommt, dass Menschen sagen: 'Uns reicht's, wir wollen, dass sich was ändert' - und dann auch aktiv werden. Wie sehen die Lebenswege dieser Frauen* bis dahin aus? Inzwischen frage ich mich eher, wie die Frauen*bewegungen ein Leben prägen (oder auch nicht), wenn eine erstmal aktiv geworden ist. Wie beeinflusst so eine 'Bewegungserfahrung' das spätere Leben, selbst wenn sich eine nicht mehr als Aktivist_in begreift, kein Kollektiv mehr hat oder andere Themen interessant findet?

Seit wann gibt es das Projekt und was macht es so besonders?

Mehl: Wir haben 2014 angefangen, das Projekt zu entwerfen. Im Dezember 2014 haben wir unser erstes Interview gemacht mit Ursula Nienhaus, einer der Gründer_innen und langjährige FFBIZ-Leiterin, die 2020 verstorben ist. Seitdem haben wir 23 lange Filminterviews geführt und noch weitere Interviewprojekte im FFBIZ gestartet. Dabei ist "Berlin in Bewegung" gar nicht so einzigartig. Es gibt die LESgenden oder das Archiv der anderen Erinnerung (und noch viele mehr), die uns inspirieren. Aber wahrscheinlich sind wir die einzigen, die versuchen, eine Oral Herstory der Berliner Frauen*bewegung per Video aufzuzeichnen - und in Ausschnitten auch ins Netz zu bringen. Besonders ist auf jeden Fall unsere Projekt-Webseite, die von Judith Fehlau gebaut worden ist. Die gefällt mir extrem gut. Und wir haben ein grandioses Filmproduktionsteam, das uns den Rücken stärkt - das hat bestimmt nicht jedes Oral Herstory-Projekt.

Nöldge: Wir fanden es wichtig, Akteur_innen zu befragen, die in unterschiedlichen Bereichen der Frauen*bewegung in Berlin – Ost und West – aktiv waren, und so die Bandbreite der Bewegungen in der Stadt aufzuzeigen. Viele Interviewpartner_innen waren ja auch in mehreren Projekten, Szenen und Netzwerken engagiert. Wir wollen Querverbindungen und Gemeinsamkeiten deutlich machen, aber auch Raum für Widersprüche, Kontroversen und unterschiedliche Standpunkte öffnen.


Sie sichern Wissen mit Video-Interviews. Warum gerade dieses Format?

Nöldge: Die Videos schaffen einfach einen weiteren, sehr lebendigen Zugang zum FFBIZ-Archiv und ergänzen die bei uns vorliegenden Archivalien. Es gibt ein sehr großes Interesse an den Interviews insbesondere bei Studierenden, die nach Themen für Haus- oder Abschlussarbeiten suchen.

Mehl: Archive sind nicht für alle Menschen gleich zugänglich oder interessant. Viele wissen nicht, was sie dort suchen oder finden können. Und manche Menschen denken, dass nur Wissenschaftler_innen in Archiven arbeiten. Es ist natürlich total in Ordnung keinen Bezug zu Archiven zu haben. Aber dann erlebe ich auf Archivführungen häufig so eine spontane Begeisterung von Menschen, die noch nie an einem solchen Ort waren, und auf einmal Feuer und Flamme sind. Mit den Interviews möchten wir Menschen für feministische Geschichte begeistern – egal, ob sie sich archivisch interessieren oder nicht. Unsere Interviewpartner_innen geben ganz individuelle Blicke auf das, was man im FFBIZ auch aus Zeitschriften und Plakaten, Büchern und Akten, Fotos und Flyern über die Frauen*bewegungen in Berlin lernen kann. Ein paar solche Dokumente finden sich auch auf der Projektwebseite - sozusagen zum Einstieg.


Was verbirgt sich hinter dem Begriff "Oral Herstory"?

Mehl: Der Begriff "Oral History" bedeutet "Erzählte Geschichte". Interviews mit lebenden Personen zu ihren Erinnerungen an eine bestimmte Zeit in der Vergangenheit, ein Thema oder einen besonderen Lebensabschnitt sind eine spezielle Quelle der Geschichtsschreibung. Die menschliche Erinnerung hat natürlich ihre Tücken, genau wie andere Quellen, etwa historische Zeitungsberichte oder Amtsakten. "Oral Herstory" kennzeichnet die speziell feministische erzählte Geschichte, bei der Frauen* im Vordergrund stehen, und deren Analyse. Wobei wir letzteres in unserem Projekt nicht so intensiv betreiben. Denn Frauen* machen Geschichte – auch wenn das bis heute immer wieder unbeachtet bleibt oder in Frage gestellt wird.


Gab es einen Moment oder Aussage in einem Interview, der oder die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Mehl: Jedes Interview eröffnet Blicke in ein eigenes Leben mit eigenen Entscheidungen, Unglück und Freude. Das ist nicht so banal, wie es jetzt klingt. Für mich fühlt es sich besonders an, wenn eine Person – die uns kaum kennt – vor einer Kamera aus ihrem Leben berichtet. Es braucht Vertrauen, damit so eine Situation entstehen kann. Einer der schönsten Momente bei Oral Herstory-Interviews ist für mich, wenn ich eine Position oder Meinung einer Interviewpartner_in zu verstehen beginne, die mir fremd ist oder die ich trotzdem nicht teile. Die Dinge werden dadurch komplizierter, das gefällt mir.

Nöldge: Es entsteht oft ein Moment von Intensität und Nähe, wenn eine Person aus ihrem Leben erzählt. Viele Frauen* berichten von einem Gefühl der „Selbstermächtigung“ gerade in den Hochzeiten der Frauen*bewegungen – alles schien plötzlich möglich, alles erreichbar und veränderbar... Diese Perspektive auf die Gesellschaft der 1970er und 1980er Jahre fasziniert mich. In solchen Momenten springt der Funke der Begeisterung auf mich über.