Alumni Lebe Deinen Traum!

Carla Wesselmann studierte in den 80er-Jahren an der „Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik“ (FHSS), promovierte viele Jahre später mit dem Alice-Salomon-Stipendienprogramm und ist heute Professorin für Soziale Arbeit. Ein ungewöhnlicher Weg in die Wissenschaft

Seit Anfang 2016 bin ich Professorin für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Wissenschaften der Behinderung an der Hochschule Emden/Leer am Standort Emden. Mit der ASH Berlin verbinden mich viele gute Erinnerungen, immer wieder freue ich mich über Begegnungen mit ehemaligen Profs und/oder Kolleginnen und Kollegen. So traf ich im letzten Jahr im Kontext des Emder Forschungskolloquiums „Die 68er und die Soziale Arbeit“ Reinhart Wolff nach Jahrzehnten wieder. Wir fachsimpelten prächtig und „meine“ Berufspraktikantinnen und -praktikanten (noch haben wir das Anerkennungsjahr in Niedersachsen) waren fasziniert, einen meiner ehemaligen Profs persönlich kennenzulernen und so die Geschichte Sozialer Arbeit hautnah zu erleben. Ich studierte von 1983 bis 1986 und erlebte in diesen Jahren u. a. die Geburtsstunde der ersten Publikationen zur Geschichte der Sozialen Arbeit, darunter „Charakter als Schicksal“, die Erinnerungen Alice Salomons.

„Soziale Arbeit ist politisch“

Es folgten mehr als 16 Jahre Praxis, meist im Bereich der Wohnungslosenhilfe. Ein Arbeitsfeld, in dem es mir nie langweilig wurde; so initiierten mein erstes Arbeitsteam und ich, dass Wohnungslose 1989/90 leerstehende Häuser in Westberlin besetzten, um auf die damalige Wohnungsnot aufmerksam zu machen und „bezahlbaren“ Wohnraum zu bekommen. Meine Haltung „Soziale Arbeit ist politisch“ erfuhr in dieser Zeit ihre reale Basis. Auf der Suche nach weiteren Herausforderungen arbeitete ich u. a. in einem Enthospitalisierungsprojekt, in dem es darum ging, langjährig in der Psychiatrie untergebrachte Menschen, in der Mehrheit Männer, ins selbstbestimmte Leben zu begleiten. Hier lernte ich die hohe Alltagsnähe Sozialer Arbeit kennen und nicht immer lieben. Denn es ging z. B. darum, ihnen, die mehr als ein Jahrzehnt stete Vollversorgung erfahren hatten, „motivierend“ zu erklären, worin das Glück bestehen könnte, auch bei Schneeregen zum Discounter einkaufen zu gehen und dort selbst zu entscheiden, sich Erbsen- oder Linsensuppe zu gönnen, um noch genügend Geld für die Rauchwaren zu haben. Die Idee, billiger frisch zu kochen, war eindeutig die der Sozialarbeiterin und entsprach wenig der Theorie der Lebensweltorientierung. Kurz: diese Enthospitalisierung ist von etlichen meiner Klientinnen und Klienten erstmal eher als Kulturschock erlebt worden: Neben dem eigenen Zimmer auch noch Küche und Bad zu putzen, letztere mit anderen „Psychos“ teilen zu müssen, und alles selber machen. Oh, nee – das konnte ich so gut verstehen, dass ich entschied: nicht mein Arbeitsbereich!

Aufbau der Frauenwohnstatt

So kehrte ich in die Wohnungslosenhilfe zurück, die mich immer wieder neu faszinierte. Denn spannende Menschen mit teils sehr ungewöhnlichen Biografien landen auf der Straße. In diese Zeit fielen erste Lehraufträge, die mir so viel Freude machten, dass ich überlegte, ob und wie ich Hochschullehrerin werden könnte, denn ich merkte in den Vorbereitungen, wie anregend ich die theoretische Reflexion von Praxisfragen fand. 1998 baute ich die Frauenwohnstatt, eine stationäre Übergangseinrichtung für wohnungslose Frauen mit und ohne Kinder in Spandau auf. Hier konnte ich mich mit meinen Kolleginnen konzeptionell selbst verwirklichen, lernte aber den immer stärker werdenden Wind der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit kennen. Er zeigte sich in der Gestalt verkürzter Bewilligungszeiträume und offener Fragen zu ungeklärten Kostenübernahmen – nicht nur aufgrund der Schnittstellenproblematik zwischen Jugend- und Sozialhilfe.

2002 traf ich – die möglichen Folgen der Hartz-IV-Reform vor Augen, in deren Folge ich mich nur noch mit administrativen Angelegenheiten statt mit Klient/innen- und Klientenarbeit beschäftigt sah – eine meiner besten Entscheidungen, nämlich zu promovieren. Im Vorfeld dieses Vorhabens besuchte ich Seminare von Quatext, einem Institut für qualitative Sozialforschung, um zu lernen, wie ich narrative Interviews führen könnte. Die damalige Seminarleiterin Bettina Völter vermittelte mir meine erste Interpretationsgruppe, in der u. a. die damaligen ASH-Stipendiatinnen Sonja Kubisch und Stefanie Sauer vertreten waren, die heute ebenso Professorinnen sind. Damit war der Grundstein meines wissenschaftlichen Netzwerkes gelegt, noch vor einer Förderung! Denn in das von mir begehrte Alice-Salomon-Stipendienprogramm hineinzugelangen oder zunächst in ein anderes Programm erwies sich, auch aufgrund meines Alters (Ü-40), als erste große Hürde. So kam ich trotz guter Exposés, wie mir von Birgit Rommelspacher immer zurückgemeldet wurde, erst im 3. Anlauf, 2005, in die Förderung.

Mein kaum erforschtes Thema: wohnungslose Frauen

Dass ich zuvor nicht aufgegeben hatte, lag vor allem an meiner Begeisterung für das empirische Arbeiten, an meinem mich sehr unterstützenden und wachsenden wissenschaftlichen Netzwerk und an meinem hohen Interesse für mein kaum erforschtes Thema: wohnungslose Frauen. Meine Forschungsfrage lautete: Welche sozialen Bedingungen können dazu führen, dass Frauen mit Erwerbs- und Familienbiografien, also in sogenannten etablierten Verhältnissen lebend, auf der Straße landen? Innerhalb der Arbeit gab es auch so manche Hürde, u. a. die eigene Empirie theoretisieren zu können, um danach den Transfer in die Praxis zu gestalten. Auch viele kleine Richtungsentscheidungen waren zu treffen, z. B. überlegte ich, welche theoretische Ausrichtung die Arbeit nehmen soll. Dafür waren die ASH-Promotionskolloquien hilfreich und in meinem Falle ebenso die von meiner Doktormutter, Gabriele Rosenthal, geleiteten Forschungswerkstätten bzw. die damit verbundenen kleinen Arbeitsgruppen. Zum Ende hin waren für mich die Fachdiskussionen u. a. mit Silvia Staub-Bernasconi im Kontext der Promotionskolloquien der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) ein weiterer wichtiger Baustein für die Entwicklung meiner Identität als Wissenschaftlerin der Sozialen Arbeit.

2008 wurde ich promoviert, Lehrbeauftragte für Rekonstruktive Theorien und Methoden an der ASH Berlin und parallel arbeitete ich in Forschungsprojekten mit. In diese Zeit fiel meine biografische Krise in Form meiner Ertaubung; aus der große Traum von einer Professur? Nein, nur verschoben, dafür nahm ich das Angebot der Gastdozentur an und lehrte weiter, nun mithilfe von Arbeitsassistenz in Form von Schriftdolmetscherinnen und -dolmetschern. Parallel wanderte ich zur „theoretischen Bewältigung“ in das mich immer mehr inspirierende, transdisziplinäre Forschungsfeld der Disability Studies ein. So erschloss ich mir das Fachgebiet, in welchem ich seit 2013 an der Hochschule Emden/Leer lehre. Wie kam es zum Wechsel an die Küste? Eine 2-jährige Vertretungsprofessur war der Testballon, wie es mir kräftemäßig mit einer Vollzeitprofessur geht. Fazit, es funktioniert gut genug, sogar ohne Arbeitsassistenz. Denn unsere Seminare dort sind mit einer Größe von 12 bis 30 Studierenden deutlich kleiner.

Rückblickend kann ich nur das raten, was ich auch meinen Wissenschaftlichen Hilfskräften/Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sage: Nie aufgeben, die Themen beforschen, für die ihr „brennt“, sich gut vernetzen, Erfahrungen in Gremien der Akademischen Selbstverwaltung und Berufungskommissionen sammeln. Schlicht: Lebe Deinen Traum!

 

Prof. Dr. Carla Wesselmann
Carla.wesselmann@hs-emden-leer.de