Alumni Ich fühlte mich, als ob ich das große Los gezogen hätte!

Gudrun Nositschka studierte vor 50 Jahren an der Alice-Salomon-Schule. Im Interview erzählt sie von ihrer Studienzeit und ihren Arbeitserfahrungen danach in England, den USA und der Nord-Eifel

Altes SW-Bild von Frau Nositschka
Gudrun Lichtenstein 1963 in Berlin

alice Online: Frau Nositschka, bitte stellen Sie sich kurz vor.

Nositschka: Ich bin kürzlich 73 Jahre alt geworden, bin verheiratet, Mutter von zwei Söhnen und zu meiner großen Freude auch Oma von zwei Enkeltöchtern. Seit 37 Jahren lebe und wirke ich in der Nord-Eifel/NRW.

alice Online: Wann haben Sie an der Alice-Salomon-Schule studiert?

Nositschka:Ich habe am Seminar für Soziale Arbeit der Alice-Salomon-Schule (Höhere Fachschule) im Pestalozzi-Fröbel-Haus von April 1963–1966 meine Ausbildung erhalten und mit dem Examen diese Phase abgeschlossen. Ich hatte nach dem Abitur an der FU Berlin zwei Semester Volkswirtschaftslehre und Soziologie belegt, war aber sehr schnell mit der kapitalistische Ausrichtung unzufrieden gewesen und hatte mich dann an der Alice-Salomon-Schule beworben.

alice Online: Wie haben Sie Ihr Studium damals erlebt?

Nositschka: Ich fühlte mich, als ob ich das große Los gezogen hätte. Die Mischung von Theorie in einem großen Fächerkanon und den Praktika im Kinderkrankenhaus, im Jugendamt Moabit und im Gesundheitsamt Zehlendorf sowie durch Supervision begleitete Praktika während der ersten drei Jahre in der Einzelfallhilfe (7 Monate) und Gruppenarbeit (zwölf Monate) in Kreuzberg kamen mir sehr entgegen. 

alice Online: Können Sie eine typische Seminarsituation beschreiben?

Nositschka: Es lief alles sehr strukturiert ab. Die Lehreinheiten begannen jeden Tag um 8 Uhr. Mittags gingen fast alle von uns zeitlich versetzt in der Kantine der angehenden Hauswirtschafterinnen essen, die uns immer ein gutes und preiswertes Essen zubereitet hatten. Nachmittags gab es oft Sonderkurse in Musik, Kunst und Sport. Wir erhielten auch Unterweisungen in Haushalts-, Rechnungs- und Kassenwesen sowie in Verwaltungslehre und Verwaltungshandeln von externen Dozenten. Auf die Darlegung von Anträgen an die Verwaltung freuten wir uns besonders, da in ihnen eine „Oma Piefke“ eine besondere Rolle spielte. So witzig die Darstellung vorgetragen wurde, so ernst war in der Regel der Hintergrund – geradezu kniffelig waren mögliche Lösungen. So wurden wir mit Berliner Witz geschult, jeder Antrag stellenden Person mit Respekt zu begegnen und ihr Anliegen ernstzunehmen.

alice Online: Haben Sie ein Studienerlebnis an das Sie sich heute noch besonders gern erinnern?

Nositschka: Oh ja, das war unsere Studienfahrt 1965 per Bus nach Dänemark, um das dänische Sozialsystem und einige soziale Einrichtungen kennenzulernen, aber auch die Geschichte und Kultur, wobei unsere Freizeit nicht zu kurz kam. Auf Einladung von Studierenden der Universität Uppsala, die uns in Berlin besucht hatten, setzten wir auch für 24 Stunden nach Schweden über und tanzten bis in die Morgenstunden.

alice Online: Wie war das Verhältnis der Studierenden untereinander?

Nositschka: Das Verhältnis war nach meinem Empfinden sehr freundschaftlich. Aus unserem Jahrgang gingen drei Ehen hervor und viele Freundschaften. Ich habe jetzt noch regelmäßigen Kontakt zu zwei Frauen, mit denen ich gemeinsam für die Zwischenprüfung und das Examen lernte. Voriges Jahr trafen wir uns mal wieder in Berlin.

„In den USA lernte ich die Defizite des Sozial- und Gesundheitswesen kennen und erlebte viel privates Engagement.“

alice Online: Nachdem Sie Ihre Berufspraktika absolviert hatten, haben Sie in England gearbeitet.

Nositschka: Als Victor-Gollancz-Stipendiatin stand es mir anschließend frei, ein weiteres Studium zu beginnen, das finanziert worden wäre, oder mich ein Jahr lang in ausländischen sozialen Einrichtungen weiterzubilden. So wurde ich nach Auffrischung meiner Englischkenntnisse ab April 1967 für England ausgesucht mit den Schwerpunkten case-work (Bradford), group-work (Harlow/New Town) und community-organisation (London). Eine sehr beeindruckende Lehrzeit, für die ich immer noch dankbar bin.

alice Online: Und dann ging es weiter in die USA?

Nositschka: Ja. In Harlow erhielt ich vom Leiter des Nachbarschaftszentrums die Anregung, mich auch für das Cleveland-International-Program zu bewerben. Als ich unsicher war, wie ich mich in der Bewerbung präsentieren sollte, erhielt ich seinen Rat: „Blow your own trumpet – because nobody is going to do it for you!“ Ich wurde akzeptiert und kam 1968 in eine USA, in der Robert Kennedy erschossen wurde, der Gedenkmarsch für Martin Luther King auf Washington stattfand, in New York weiße Menschen Harlem aus Sicherheitsgründen nicht aufsuchen durften, in ärmeren Vierteln Geschäfte brannten und besonders junge Männer, gerade auch Studenten, Angst hatten, nach Vietnam eingezogen zu werden. Ich lernte die Defizite des Sozial- und Gesundheitswesen kennen und erlebte viel privates Engagement. Eine sehr gemischte Lehrzeit.

alice Online: Zurück in Deutschland führte Ihr Weg Sie dann erst einmal nach Köln.

Ab Januar 1969 arbeitete ich dort beim Amt für Diakonie, wechselte ab Januar 1970 der Liebe wegen nach Frankfurt a. M. und arbeitete dort in der Sozialstation Gallus. In einer Arbeitsgruppe gingen wir das Problem obdachloser Familien an und erarbeiteten für die Politik Lösungsvorschläge.

alice Online: Dann bekamen Sie ihr erstes Kind ...

Nositschka: Mit Beginn des Mutterschutzes schied ich aus diesem Projekt aus und widmete mich dem „Projekt eigenes Kind“. Nach der Geburt des zweiten Sohns und dem Hausbau in der Nord-Eifel, begann die Zeit der ehrenamtlichen Aktivitäten im Kindergartenrat, dann in den Schulpflegschaften, in der Kommunalpolitik. Da ich nicht mehr kirchlich organisiert war und die Stellen beim Kreisjugendamt besetzt waren, war ein bezahlter beruflicher Einstieg nicht mehr möglich.

„1984 begann ich zu Schreiben, seitdem sind vier Bücher gedruckt.“

alice Online: Stattdessen nahmen Sie ehrenamtliche Tätigkeiten an.

Ich wurde Schöffin bei verschiedenen Gerichten. Außerdem war ich mehrere Jahre Beisitzerin bei Verhandlungen von Antragstellern auf Kriegsdienstverweigerung in Köln. Ich gab Kindern aus Marokko und dem ehemaligen Jugoslawien einzeln und sehr erfolgreich Hausaufgabenhilfe. 1984 begann ich zu schreiben und wurde nach der ersten Veröffentlichung 1990 Mitglied des Verbands Deutscher Schriftsteller (VS). Seitdem sind vier Bücher gedruckt und Geschichten in Anthologien aufgenommen worden sowie Sachbeiträge in Zeitschriften erschienen.

alice Online: Womit befassen sich Ihre Bücher?

Nositschka: Die ersten drei Bücher gehören zum Bereich „Geschichte von unten“. Das Buch „Auf Wiedersehen in Leipzig“ fußt zum Beispiel auf gut 1.000 Briefen von befreundeten Menschen aus der DDR, Zeitungsmeldungen aus Ost und West und meinen Erinnerungen. Das dritte Buch „Wege durch den Nebel“ erschien 1995 bei der Forschungsstelle Ostmitteleuropa der Uni Dortmund. In diesem stelle ich anhand von Familien- und Kinderschicksalen in Galizien (heute Ukraine) und Masuren (heute Polen) die beiden Weltkriege, Vertreibung der Ostpolen und auch den GAU in Tschernobyl für junge Menschen dar. Zu meiner Freude wurde das Buch auch in St. Petersburg im Deutschunterricht einer 11. Klasse gelesen.

alice Online: Sie waren dann lange in der Vereinsarbeit tätig.

Nositschka: Und bin es noch. Gut 20 Jahre wirkte ich seit 1992 bei „Frauen helfen Frauen e. V. im Kreis Euskirchen“ mit. Dort war ich die meisten Jahre für das Personal und die Einstellungen zuständig. Ein weiterer Schwerpunkt meiner jetzigen Aktivitäten ist die ebenfalls ehrenamtliche Vorstandsarbeit als Vorsitzende im Förderverein Gerda-Weiler-Stiftung für feministische Frauenforschung e. V. und der gleichnamigen Stiftung. Und zu meiner Überraschung hielt ich vor sechs Jahren den ersten Antrag auf Förderung einer Diplomarbeit der Alice Salomon Hochschule Berlin in Händen.