Menschen Forschung, Freiheit und Fahrradwege

Ein Interview mit Susanne Gerull zum Abschied von der ASH Berlin...

Das Foto zeigt Susanne Gerull am Wasser.
Susanne Gerull freut sich auf den Ruhestand und das, was nun kommt: viel Lesen möchte sie, Radfahren und auch Musik machen. privat

Schon vor der ersten Frage macht Susanne Gerull klar, dass ihre Pläne für den Ruhestand ganz andere sind als die, die offenbar die meisten Mitmenschen von ihr erwarten. Es soll nämlich aus der zweiten Reihe eben nicht genauso weitergehen wie bisher. Lesen will sie, Radfahren und auch Musik machen. Sie hat keine Angst vor einem Bedeutungsverlust nach dem Abschied, sondern freut sich auf das, was kommt! 

Dementsprechend kommt der Freizeitanteil im Gegensatz zum Alltag als Professorin in diesem Gespräch, in dem die Fragen von Kolleg_innen und damit Wegbegleiter_innen kommen, nicht zu kurz. 

Zum Auftakt blicken wir mit Marion Mayers Frage zurück auf eine beeindruckende Laufbahn, sie will wissen:
Du kennst die ASH Berlin aus unterschiedlichen Rollen und Funktionen. Warst hier u.a. Studentin, Promovierende, Lehrbeauftragte, Beraterin und Hochschullehrerin. Bei all diesen Funktionen warst Du der Sozialen Arbeit und ihren Fragestellungen und Entwicklungen immer im Kern verbunden. Was sollte in der Ausbildung der Sozialen Arbeit curricular unbedingt erhalten bleiben? 

Ich finde es wichtig, dass der Studiengang Soziale Arbeit weiterhin einen generalistischen Ansatz verfolgt und parallel eine Spezialisierung bzw. thematische Fokussierung aufgrund von Wahlpflichtangeboten ermöglicht. Auch sollten die Projektmodule erhalten bleiben, denn sie bieten die Möglichkeit, über einen längeren Zeitraum vertiefend zu einem Thema zu arbeiten. Gleichzeitig fördern sie die Mitgestaltung der Lehre durch die Studierenden und das Entwickeln und Ausprobieren kreativer didaktischer Methoden.

An der Stelle setzt auch Silke Gahleitner an, die interessiert:
Wie hat sich für Dich der Wunsch entwickelt, aus der Praxis heraus in den Lehr- und Forschungsbereich einzusteigen?

Ich habe nach knapp 15 Jahren gemerkt, dass sich bestimmte Fragen zur Praxis Sozialer Arbeit nicht mit unserem Berufsalltagswissen beantworten lassen. Durch einen Zufall gab es dann zum Zeitpunkt meines allgemeinen Veränderungswunsches  im Jahr 2000 aufgrund der geplanten Bezirkefusion eine Fachfrage, die mein Team der Sozialen Wohnhilfe im Bezirksamt Mitte umtrieb: Erreichen wir mit unserer - berlinweit einzigartigen - aufsuchenden Arbeit beim Bekanntwerden von Mietschulden tatsächlich das Ziel, Wohnungsverluste effektiver als mit der üblichen behördlichen Kommstruktur zu verhindern? Das war dann später auch eine der zentralen Fragestellungen meiner Dissertation… und die Antwort ist übrigens: JA.

Einer der Schwerpunkte von Gerulls wissenschaftlicher Arbeit ist das Thema Armut. Ein Begriff, der in Berlin zeitweise eine irritierende Art der Glorifizierung erlebte, woran Esther Lehnert erinnert und fragt:
Es gibt diesen blöden Spruch von Wowereit: „Berlin, arm aber sexy!“ Was braucht es, dass die Auseinandersetzung mit Armut wieder attraktiver für die Disziplin Soziale Arbeit wird?

Armut, soziale Ungleichheit und die daraus resultierenden Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsprozesse sind in fast allen Arbeitsfeldern Sozialer Arbeit präsent. In meinen Seminaren zum Thema Armut haben Studierende oft schon Aha-Momente bei der Frage erlebt, was Armut eigentlich genau bedeutet. Diese geht ja weit über Einkommensarmut hinaus, was bspw. der Lebenslagenansatz verdeutlicht. Die nächsten Aha-Erlebnisse entstanden bei der Erkenntnis, wie politisch dieses Thema ist: Der Auftrag Sozialer Arbeit impliziert häufig nur die Symptombehandlung, also die Auswirkungen von Armut. Dass Armut und Ungleichheit auch auf gesellschaftlichen Strukturen beruhen, die politisch gewollt sind, erfordert dagegen übergreifendere Strategien von Sozialarbeiter_innen, nämlich die Annahme des politischen Mandats. Die Hochschule muss das Thema Armut und damit natürlich auch Wohlstand und Reichtum daher zu einem Querschnittsthema machen. Ich war erschüttert, als ich vor ein paar Jahre für die Landesarmutskonferenz Berlin alle Modulhandbücher der ASH Berlin systematisch durchgesehen habe – die zentralen Begriffe Armut, Ungleichheit und auch entsprechende Synonyme konnte ich an einer Hand abzählen.

Die Soziale Arbeit ist der größte Studiengang der ASH Berlin. Marion Mayer fragt dazu passend:
Was hat für Dich die Arbeit an der ASH Berlin positiv ausgemacht? Und: Was siehst Du als (positives) Alleinstellungsmerkmal der ASH Berlin?

Die ASH Berlin hat mir schon als Lehrbeauftragte ermöglicht, die grundgesetzlich verankerte Freiheit von Lehre und Forschung tatsächlich in die Praxis umzusetzen. Meinen Wunsch bei Antritt als Professorin im April 2008 war es, weiterhin mit der Praxis vernetzt zu bleiben. Ich konnte dies sogar, in nun anderer Rolle, sogar ausbauen und auch mit den Selbstvertretungen wohnungsloser Menschen in einen konstruktiven Kontakt auf Augenhöhe gelangen.
Die ASH Berlin ist im Vergleich mit anderen Hochschulen Sozialer Arbeit außerdem sehr wenig verschult und fördert die Mitverantwortung der Studierenden an einem erfolgreichen Studium, wie es auch im Leitbild Lernen und Lehren der ASH Berlin verankert ist. 

Dazu passend möchte Esther Lehnert erfahren:
Nenne uns drei Situationen, in denen du an der ASH Berlin so rundum glücklich warst?

Es ist schwer, nur drei Situationen herauspicken zu müssen. Stellvertretend fallen mir spontan ein: Meine erste „multimediale Ausstellung“ als kollektive Präsentation von Prüfungsleistungen in einem Seminar vor vielen Jahren – wow, meine Idee funktioniert, alle sind geflasht von ihren eigenen Ergebnissen und denen der Kommiliton_innen! Und ich ebenso.
Im Bereich Forschung möchte ich, noch ziemlich aktuell, eine partizipativ angelegte Forschung in Kooperation des Masters Praxisforschung mit der LIGA Berlin nennen. Als ich im November 2024 den 100-seitigen Forschungsbericht auf Grundlage u. a. der Interviewauswertungen von 16 Studierenden, einer wissenschaftlichen Begleitung durch drei wohnungslose Menschen und mehreren Diskussionsrunden mit der Praxis über unsere Ergebnisse fertiggestellt hatte, da schoss nur so das Glückshormon Dopamin durch meinen Körper: Was haben wir an der ASH Berlin für tolle, engagierte und kluge Studierende!
Und stellvertretend für viele wunderbare Kooperationen mit Mitgliedern der Hochschule fällt mir die Abschluss-Sitzung der sogenannten Reformkommission im Studiengang Soziale Arbeit ein, die nach 5 Jahren und 44 Treffen am 10. Februar 2021 mitten in der Pandemie virtuell die Sektkorken knallen ließ: Wir haben es geschafft! Das aktuelle Curriculum konnte auf den Weg durch die weiteren Gremien gebracht werden.

Glücklich und gesund sein… das wünscht man sicher jeder Person – und nicht nur für den Ruhestand. Sport wird da ganz sicher ein Mittel der Wahl sein, weshalb Marion Mayer von der begeisterten Radfahrerin Gerull wissen will:
Du hast doch bestimmt "Lieblingsrouten" in oder um Berlin. Welche zwei oder drei Radtouren kannst Du zum Ausgleich vom Arbeitsalltag unbedingt empfehlen?

Zunächst natürlich meinen grandiosen Weg von Kreuzberg an die ASH Berlin nach Hellersdorf: Nach ca. 3 km fast autofrei u. a. den Wuhlewanderweg entlang. Grüßt mir meine Graureiher-Familie und Bambi, wenn ihr sie seht. Ansonsten mit dem Rennrad den Mauerweg am Teltowkanal entlang raus aus Berlin über Waßmannsdorf. Im Sommer dann unbedingt in Brusendorf in der Eisdiele Bel Gelato einen Zwischenstopp einlegen.

Dem guten Wunsch von Silke Gahleitner, nämlich „massenweise Alpenüberquerungen“, schließen sich sicherlich alle Wegbegleiterinnen und Fragestellerinnen an.
Gute Reise(n), liebe Susanne Gerull! 

Die Fragen an Susanne Gerull stellten Silke Gahleitner, Esther Lehnert und Marion Mayer.
Zusammengetragen und bearbeitet von Denis Demmerle.