Der im April 2021 verstorbene Professor der Sozialpädagogik, C. Wolfgang Müller (im Freundeskreis und unter Kolleg_innen „CW“ genannt), war der Alice Salomon Hochschule Berlin eng verbunden. Er war nicht nur über viele Semester hinweg Lehrbeauftragter im Masterstudiengang ‚Praxisforschung in Sozialer Arbeit und Pädagogik‘, sondern ein gern gesehener und inspirierender Redner bei Tagungen und Jubiläen der Hochschule.
Im April 2022, ein Jahr nach seinem Tod, sind unter dem Titel „Die Zeiten ändern sich – wir ändern die Zeiten!“ Schriften aus seinem Nachlass erschienen, herausgegeben von Sabine Hering und Detlef Ullenboom. Dazu gehören die bisher unveröffentlichten Lebenserinnerungen – von seiner Kindheit bis zu seiner Berufung an die Pädagogische Hochschule in Berlin im Jahre 1965 – sowie eine Reihe von Fachartikeln, die ihm als Spuren seiner unterschiedlichen Tätigkeitsfelder besonders am Herzen gelegen haben. Vor allem gehören die Essays dazu, die er als „Briefe aus Berlin“ in den Jahren 2016 bis 2021 in „sozial extra“ veröffentlicht hat und in denen er seine Erinnerungen an die Stadt mit aktuellem Zeitgeschehen in einen Dialog bringt. Nicht zuletzt geht es in diesen Briefen auch um die ASH Berlin.
Aus diesem ebenso eindrucksvollen wie unterhaltsamen Buch sollen einige Facetten vorgestellt werden, welche die Persönlichkeit und das Werk von C. Wolfgang Müller anschaulich machen:
„Diese Aufzeichnungen umreißen seinen Weg aus seinem aufgeklärten, politisch engagierten Elternhaus im Schatten von Nationalsozialismus und Krieg – über seine teilweise leidvollen, teilweise bereichernden Erfahrungen im Studium bis hin zu ersten beruflichen Tätigkeiten im Journalismus und in verschiedenen Projekten als junger Sozialdemokrat.
Er berichtet über seine Promotion zu einem Thema des politischen Kabaretts, über seine ersten Erfahrungen in der Jugendarbeit und seinen prägenden Aufenthalt in den Vereinigten Staaten bei den Galionsfiguren der Gruppenpädagogik und der Gemeinwesenarbeit.
Als er mit Ende 30 nach Deutschland zurückkehrt, wird er zum Professor an die Pädagogische Hochschule in Berlin berufen und gerät dort in einen Strudel von Revolte, Protesten und Aufbrüchen im Rahmen einer Neuorganisation von Studium und Lehre, die er aufgreift und wegweisend vorantreibt.“ (Hering 2022, S.8)
Dass vor seiner Berufung an die Pädagogische Hochschule (PH) noch eine überaus interessante Station im Bereich der Jugendbildungsarbeit im Haus am Rupenhorn gelegen hat, bezeugt folgende Passage aus den Lebenserinnerungen:
„Nein! Nie hätte ich Lehrer werden wollen. Weder an einem deutschen Gymnasium, noch an einer Universität. Die aseptische Atmosphäre, die nach meinen Erfahrungen beim Lehren entsteht, hätte mich abgeschreckt und beim Lernen behindert. Was ich wirklich gelernt habe, habe ich erst nach der Schule gelernt. Aber: Geschichten erzählen, erinnern und aufschreiben das waren Mitteilungsformen, die mir am Herzen lagen. So gesehen waren ‚Dichter‘, ‚Schriftsteller‘ und ‚Journalist‘ immer schon Berufe, mit denen ich liebäugelte.
Aber dann kam mir der Zufall zu Hilfe – wenn es Zufälle im beruflichen Leben gibt – der mich als ‚Jugendpfleger‘ in das Institut für Gruppenarbeit im „Haus am Rupenhorn“ in Berlin katapultiert hatte und der meinen wissenschaftlichen Ehrgeiz beförderte: herauszufinden, wie junge Leute in Gruppen lernen und durch Gruppen geprägt werden. Viel später musste ich allerdings auch feststellen, wie sie durch Gruppen verunstaltet werden können. Aber diese Erfahrung, die etwa deutsche Jugendliche in konfessionellen Erziehungsheimen machen mussten, sind mir seinerzeit als einem ‚Jugendbewegten‘ erspart geblieben.“ (Müller 2021, S. 57)
Seine Hinwendung zu den theoretischen und fachlichen Grundlagen der Sozialpädagogik und deren Methoden erfolgte dann aber erst durch seinen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten, der ihm den Weg zur Berufung als Professor an die Pädagogische Hochschule (PH) in Berlin-Lankwitz eröffnete. Wie aufregend und anregend die Lehrtätigkeit damals gewesen ist, bezeugt folgende Passage:
„In dem Maße, in dem sich 1967 in Berlin Studentinnen und Studenten in Bewegung setzten, änderten sich auch die Szene und das Klima auf dem Campus. Die Studenten kleideten sich nicht mehr wie angehende Staatsdiener, sondern wie junge Leute, die noch keiner einschränkenden Kleiderordnung unterworfen waren, sie redeten miteinander nicht mehr wie Konkurrenten, sondern wie mit Genossen, und entwickelten eine bis dahin unbekannte Eigeninitiative, um uns Hochschullehrern nachzuweisen, dass unsere inhaltlichen Positionen und unsere hochschuldidaktischen Ansätze problematisch wären.
Zudem tauchten auf dem Lankwitzer Campus immer mehr Studierende auf, wie sie uns bis dahin nicht begegnet waren: berufserfahrene Frauen, ebenso wie Familienfrauen, die sich, meist über den zweiten Bildungsweg ein erziehungswissenschaftliches Studium ‚gönnten‘ - und Männer aus anderen Studiengängen, die plötzlich entdeckten, dass der Beruf eines Pädagogen in ihren Augen und den Augen ihrer Bezugsgruppe dem Vergleich mit Architekten, Theologen und Juristen standhalten könne.“ (ebd., S. 58)
Auch in der Beschreibung der Entwicklung des Projektstudiums und eines Diplomstudiengangs mit dem Schwerpunkt ‚Sozialpädagogik‘ erinnert Müller an die engen Zusammenhänge zwischen Hochschulreform, Studentenbewegung und den Aufbrüchen alternativer Projekte im Bereich der Sozialen Arbeit in den 1970er Jahren.
Daran anknüpfend finden sich zahlreiche Beiträge zu unterschiedlichen fachlichen Themen im Feld Sozialer Arbeit, zur Geschichte der Profession und zu Grundsatzfragen eines Studiums im Bereich sozialer Berufe. Besonders bemerkenswert der Beitrag ‚Was man beim Studium verlernen muss‘ aus dem Jahr 1971. Das sind Hinweise, die heutigen Studierenden vielleicht altmodisch – ggf. aber auch besonders aktuell vorkommen können, weil es Müller darum geht, traditionellen Denkmustern mit Vorsicht zu begegnen.
Ganz bemerkenswert ist der Beitrag über „Sozialmanagement nach innen und außen“ mit den Schwerpunkten zu aktuellen didaktischen Konzepten im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit, Marketing und Strategieentwicklung. Die Hochschuldidaktikerin Dagmar Schulte schreibt dazu:
„Bei den folgenden Texten handelt es sich um Papiere, die C. Wolfgang Müller zur Planung, Vorbereitung und Gestaltung seiner Lehrtätigkeit nutzte. Sie entstammen alle einer Veranstaltung zum Thema Sozialmanagement aus der Mitte der 1990er Jahre. Diese auf den ersten Blick ungewohnte Textform lag C. Wolfgang Müller sehr am Herzen, in ihnen drückt sich sein Denken und Vorgehen als Lehrender aus. Wenn man sich auf diese Texte einlässt, kann man ihm praktisch beim Lehren über die Schulter schauen.
Insbesondere die Arbeitspapiere ‚Marketing und Promotion' und ‚Öffentlichkeitsarbeit' geben einen Einblick in die Art und Weise, in der C. Wolfgang Müller lehrte. Sie geben Auskunft darüber, welche Inhalte er ausgewählt hat und wie er sie kontextualisiert und strukturiert hat. Dabei fällt auf, wie intensiv er mit historischen und politischen Bezügen und Verweisen gearbeitet hat, wie er stets auch Anschaulichkeit zu einem Gestaltungsprinzip machte, u.a. durch die Verwendung aktueller und historischer Beispiele, den Einsatz von sprachlichen Bildern und Metaphern.
Es wird deutlich, wie kritische Reflektion ein stets präsentes Charakteristikum seines Denkens ist und wie er diese aber auch immer wieder in Praxis umwandeln konnte, was sich vor allem in den Arbeitsaufgaben und -anleitungen für die Studierenden niederschlägt sowie in den strukturierten Handreichungen, in denen er wie in einer Checkliste Schritt für Schritt Analyseprozesse anstößt oder Handlungsoptionen entfaltet.“ (Schulte 2021, S. 98)
Im dritten Teil des Buches finden sich die mittlerweile legendären „Briefe aus Berlin“, in denen C. Wolfgang Müller sich ebenso liebevoll wie kritisch mit Bauwerken, Ereignissen und Personen aus der Gegenwart und Geschichte der Stadt auseinandersetzt. Zu Beginn dieses Projekts hatte er die Absichten, die er damit verbunden hat, folgendermaßen beschrieben:
„Berlin verfolge ich immer noch als Alteingesessener seit 70 Jahren - allerdings auch und immer wieder mit einem gehörigen Abstand, der es mir ermöglicht, die täglichen Aufgeregtheiten und das inzwischen wieder angebahnte Hauptstadtbewusstsein, dass mir immer schon unerträglich war, oder besser: lächerlich schien, zu verlassen und mich eher in der zeitlichen und räumlichen Umgebungen Berlins umzusehen: also in seiner Vergangenheit seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts und dem häufig unterschätzten Umland Brandenburg, dass für manche Intellektuelle Berliner nur so etwas wie eine coole Erholung von der Heißluftgeschwindigkeit der Großstadt war.“ (Müller 2021, S.132)
Insofern reicht die Spannweite seines Blicks vom Humboldt Forum und dem Lobbyisten-Treff „Reinhardtstraße“ im Zentrum der Hauptstadt bis ins Umland zu den Beelitzer Heilstätten („Das Davos der Armen“) oder in das zukünftige „Ferienparadies“ in der Lausitz.
Anstoß nimmt er immer wieder an dem Mietpreiswucher auf dem Wohnungsmarkt und der „Vermüllung“ der Stadt durch den Tourismus. Zur Nachdenklichkeit regen vor allem seine Beiträge über den Umgang mit den „Nachdenkmälern“ und über das Gedicht von Eugen Gomringer an: „Was darf auf der Fassade einer Hochschule stehen?“ fragt er – und versteht es wiederum, seine Leserinnen und Leser durch die Scharfsinnigkeit seines Urteils zu überraschen.
C. Wolfgang Müller wird uns fehlen. Deshalb sind wir umso dankbarer für die Botschaften und Anregungen, die er uns in seinem Nachlass übermittelt hat. Die Zeiten ändern sich, aber wir können auch „die Zeiten“ ändern.