Nach einem Masterabschluss und PhD in den USA und einem Post-Doc in Großbritannien war Begüm Başdaş Assistenzprofessorin an der Yeditepe Universität Istanbul. 2012 übernahm sie für Amnesty International Türkei die Kampagnen- und Aktivismus-Koordination. Parallel unterrichtete sie an den Universitäten Bogazici und Bilgi – bis sie im Zuge des Academics for Peace-Prozesses entlassen wurde. Nun ist sie im Rahmen des Masters Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession als Dozentin tätig. Mit alice sprach sie über ihre Arbeit zum Thema Flucht, die Situation in der Türkei und die Bewegung Academics for Peace.
alice: Herzlich willkommen in Berlin, Begüm! Wie wirst du deine Zeit an der ASH gestalten?
Begüm Başdaş: Danke! Meine Forschung hier wird sich auf die Rechte von Geflüchteten konzentrieren. Der konkrete Titel lautet: „Masculinities on the Move: Spatial Politics of Solidarity and Care of Afghan Refugees in Germany and Greece“[1]. Außerdem werde ich für zwei Tage im Rahmen des Moduls „Advocacy für Menschenrechte: Lobby- und Kommunikationsstrategien“ unterrichten und dort meine Erfahrungen in der Kampagnen- und Advocacyarbeit einbringen.
alice: Könntest du uns den Academics for Peace-Prozess genauer erläutern?
B. B.: 2016 veröffentlichten 1.128 türkische Wissenschaftler – die Academics for Peace – die Petition „Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein“. Darin setzten sie sich mit der Situation im Südosten des Landes und den getöteten Zivilisten dort auseinander. Sofort wurden wir Zielscheibe der türkischen Behörden, gegen alle 1.128 Wissenschaftler wurden Ermittlungen eingeleitet. Der Vorwurf: Propaganda für eine terroristische Organisation. Das Strafmaß: 7,5 Jahre Haft. Auch gegen mich läuft ein Verfahren. Tausende wurden entlassen. „Entlassung“ bedeutet, du darfst nicht mehr als Wissenschaftler arbeiten, dein Pass wird eingezogen, du darfst das Land nicht verlassen.
alice: Manche von euch sind dann nach Deutschland gekommen…
B. B.: Deutsche, europäische und internationale Institutionen haben Stipendien bereitgestellt, sodass Akademiker, die das Land verlassen konnten, in der Lage sind, ihre Arbeit fortzusetzen. Ungefähr 100 bis 150 der Academics for Peace sind nach Deutschland gekommen. Wir sind relativ gut vernetzt und unterstützen einander. Eine nachhaltige Lösung ist das aber nicht, denn sie gibt uns keine Sicherheit. Im Endeffekt wird erwartet, dass wir entweder unseren eigenen Weg finden oder zurück in die Türkei gehen. Aber ich würde sagen – ähnlich wie bei den Gastarbeitern – sind die meisten von uns hier, um zu bleiben: Wir sind hochqualifiziert und international hervorragend ausgebildet. Wir wollen uns integrieren und integriert werden. Wir wollen etwas bewirken, hier Teil des Diskurses sein und mit anderen Wissenschaftlern zusammenarbeiten. Wir wollen die akademische Welt hier bereichern und nicht nur als geschützte Gruppe gesehen werden.
alice: Wie schätzt du die aktuelle Lage in der Türkei ein?
B. B.: Die Türkei ist nicht sicher – nicht für Geflüchtete, geschweige denn für die eigene Bevölkerung. In der Türkei gibt es die meisten inhaftierten Journalisten weltweit und viele politische Gefangene. Eine Politik der Angst prägt das Klima. Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, und damit auch die Freiheit der Wissenschaft sind stark eingeschränkt. Letztere bedeutet aber, kritisch zu denken, mehr noch, zu kritischem Denken ausgebildet zu werden. Und wer kritisch denkt, hat die Verantwortung aufzuzeigen, was nicht funktioniert. In der Türkei haben wir den Behörden gezeigt, was nicht funktioniert und wurden dafür kriminalisiert. Damit sich die Situation verbessert, ist gesteigerter internationaler Druck sehr wichtig, auch von Deutschland.
alice: Wie ist die Lage Geflüchteter in der Türkei?
B. B.: In der Türkei tobt zwar kein Krieg wie in Syrien oder Afghanistan. Trotzdem ist sie kein „sicherer Drittstaat“ für Geflüchtete. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte bleiben ihnen verwehrt. Gesundheit und Bildung beispielsweise sind zwar de jure garantiert, de facto werden sie aber aufgrund von Sprachbarrieren, Diskriminierung etc. kaum durchgesetzt. Außerdem können Geflüchtete in der Türkei keinen Flüchtlingsstatus erlangen, da das Land die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 zwar unterzeichnet, aber auf Flüchtlinge aus Europa beschränkt hat – das war damals möglich.
alice: Was ist der Schwerpunkt deiner Forschung?
B. B.: Unter anderem untersuche ich, wie afghanische Geflüchtete auf lokaler Ebene Solidaritätsnetzwerke untereinander und mit Europäern schaffen und welche Strategien sie anwenden, um zu überleben, zu leben, sich niederzulassen. Dazu forsche ich hier in Deutschland und in Griechenland. Ich denke, aus diesen Strategien können wir viel lernen und im Anschluss Politik neu denken: Was bedeutet es, Bürger zu sein, was bedeutet es, Europäer zu sein, was macht unser Zusammenleben wirklich aus? In Deutschland und andernorts sind viele Integrationsmaßnahmen gescheitert, weil lediglich Annahmen darüber gemacht werden, was Menschen brauchen, anstatt es tatsächlich herauszufinden. Sobald man aber gute Beispiele erkennt, kann man sie einordnen und vervielfältigen. Und so Integration gelingen lassen. Ich fokussiere mich auf junge afghanische Männer, unter anderem, weil sie die höchste Abschieberate aus europäischen Ländern haben, und das, obwohl das Land ganz klar nicht sicher ist. Afghanen sind unter den Geflüchteten außerdem die Gruppe, in der junge Männer am häufigsten alleine reisen. Damit werden sie sehr oft Opfer von Gewalt.
alice: Was versprichst du dir von deinem Aufenthalt in Berlin?
B. B.: Ich möchte meine Expertise im Bereich der Menschenrechte vertiefen, insbesondere bezogen auf meinen Forschungsschwerpunkt. Ich freue mich sehr darauf, mich mit Menschen auszutauschen, die auch zu Menschenrechten, Gender, Sexualität und Geografie forschen. Daneben möchte ich weiter Griechisch lernen und dazu Deutsch – ein volles Programm also.
[1] „Männlichkeit in Bewegung: Raumbezogene Solidaritäts- und Sorgepolitik afghanischer Geflüchteter in Deutschland und Griechenland"
(Dieser Beitrag erschien erstmals in der alice 36 im Wintersemester 2018/19.)