Forschung Zeit der größten Verunsicherung

Wie haben Pflegefachkräfte die erste Corona-Welle 2020 in Berlin erlebt? Ein Interview mit den Forschenden der Umfrage

Schwarz-Weiß-Bild: Kopf eines alten Mannes mit Maske auf
Rita E – pixabay

In der Studie „Belastungen und Bewältigungsstrategien von Pflegefachkräften zu Beginn der COVID-19-Krise im Bereich der stationären Langzeitpflege" haben Sie Pflegefachkräfte zu ihrem Erleben in der ersten Welle 2020 in Berlin befragt. Welchen Belastungen waren die Pflegefachkräfte während dieser Zeit ausgesetzt? Welche Belastungen waren besonders hart?

Gudrun Piechotta-Henze: Zunächst einmal möchte ich kurz erläutern, warum wir uns bei der Studie auf die erste Welle der COVID-19-Krise (Ende März bis Anfang Mai 2020) und ausschließlich auf die Zielgruppe Pflegefachpersonal im stationären Altenpflegebereich konzentriert haben. Auch wenn es noch zu vielen weiteren belastenden Phasen und Umständen gekommen ist, dürfte sich die erste Welle besonders eingeprägt haben. Es war die Zeit der größten Verunsicherung, weder Gesellschaft und Politik, noch die Beschäftigten und Einrichtungen im Gesundheitswesen waren jemals mit einer solchen Situation konfrontiert. Entsprechend fehlten Erfahrungen und Wissen, zudem gab es noch keine Impfungen und es fehlte schlichtweg die notwendige hygienische und schützende Ausstattung wie Mundschutz, Schutzkittel, Desinfektionsmittel. Erstmals erlebten wir auch in der Bunderepublik Deutschland einen Lockdown, besonders die Infektions- und Sterbequote bei alten Menschen war hoch und die Menschen, Bewohner_innen, Angehörige und Personal, mussten mit Kontaktverboten in den Einrichtungen umgehen. Diese gänzlich neuen Situationen, so unsere Überlegung, offeriert den Umgang mit Krisen und wie diese bewältigt werden. Insofern wollten wir auch Ressourcen in den Blick nehmen und welche Chancen sich zeigen, aus dieser Krise zu lernen.

Die Untersuchungsgruppe, Pflegefachpersonal im stationären Altenpflegebereich, wurde von uns festgelegt, als wir erkannt haben, dass nur sehr wenige Studien eben diese Gruppe untersucht hat. Anders ausgedrückt könnte man auch formulieren: Wieder einmal wurde viel über beruflich Pflegende gesprochen und geschrieben, aber sie selber sind nicht zu Wort gekommen. D.h., mit unserer Studie wollten wir den Pflegenden auch eine Stimme geben, sie direkt fragen, welche Belastungen sie wie erlebt haben, aber auch wie sie diese bewältigt haben.

Welche Belastungen sind nun von den Pflegefachkräften geschildert worden? Im Mittelpunkt standen für sie die bereits oben kurz genannten Aspekte: Es gab zu wenig oder keine Schutzkleidung. Mitunter haben Pflegende selbst Masken genäht oder nähen lassen. Vor allem aber traf die COVID-19-Krise im Altenpflegebereich auf ein Arbeitssetting, das ohnehin von hoher Arbeitsverdichtung und Personalnotstand betroffen ist. Entsprechend wird der Personalmangel als größte Belastung in der ersten Welle genannt. Viele Kolleg_innen müssen aufgrund von Coronainfektionen zu Hause bleiben. Erschwerend kommt hinzu, dass die Angehörigen die Einrichtungen nicht betreten dürfen. Ihre wichtige Unterstützung fällt also weg, ebenso die der Alltagshelfer_innen und Therapeut_innen. Es kommt vereinzelt zu schweren Krankheitsverläufen im kollegialen Kreis, vor allem aber bei den Bewohner_innen, in einigen Einrichtungen auch zu Todesfällen. Die Sterbephasen der ihnen anvertrauten Menschen, belasten die Pflegenden eindrücklich. Sie möchten diese professionell begleiten, aber die Mehrarbeit, der Zeit- und Personalmangel unterbindet eine Fürsorge am Lebensende, ein Handhalten, ein Sitzen am Bett, ein letztes Gespräch, ein Schweigen miteinander. Das ist für viele kaum zu ertragen, zumal die Einsamkeit der Sterbenden Seite an Seite mit der Einsamkeit der Lebenden geht. Die Bewohner_innen, insbesondere diejenigen mit einer demenziellen Erkrankung, vereinsamen in dieser Zeit, ihnen fehlen die regelmäßigen und vertrauten Besuche, etwa ihrer Kinder. Sie sind auch davon irritiert, dass keine gemeinsamen Mahlzeiten mehr stattfinden, sie ihr Zimmer nicht verlassen sollen und ihr Gegenüber mit einem Mund-Nasen-Schutz das Gesicht verdeckt, sodass keine Mimik mehr zu sehen ist. Die Pflegenden berichten davon, dass es infolgedessen vermehrt zu aggressivem Verhalten gekommen ist, zu emotionalem Rückzug und zu schnell fortschreitenden körperlichen Einschränkungen. Auch die Angehörigen sind verzweifelt, oft verständnisvoll, mitunter aber auch fordernd und aggressiv. Das Personal muss immer wieder um Geduld und Verständnis bitten, zahlreiche Telefonanrufe entgegennehmen, im Eingangsbereich Kleidung, Essen, Geschenke der Angehörigen, etwa für die Mutter oder den Ehepartner, annehmen und weitergeben.

Zu diesen ganzen Belastungen in der ersten Welle kommen noch fehlendes Fachwissen im Umgang mit einer Pandemie hinzu sowie das tägliche Lesen und Beachten von kurzfristigen, mitunter auch sich widersprechenden Anordnungen und Empfehlungen der verschiedenen politischen und gesundheitsbezogenen Institutionen (z.B. Bundesministerium für Gesundheit, Robert Koch-Institut, Senat und Berufsgenossenschaft).
 

„Wir sagen deshalb, dass Beratungs- und Unterstützungsangebote selbstverständlich im Pflegebereich werden müssen, und zwar als verpflichtende Angebote und als Arbeitszeit angerechnet.“

 

Was hat den Pflegenden geholfen diese Zeit zu überstehen, welche Ressourcen standen ihnen zur Verfügung?

Annina Böhm-Fischer: Die vorherige Literaturanalyse hat deutlich gezeigt, dass als Ressourcen wahrgenommen wurde, wenn sich der Teamzusammenhalt und die Unterstützung im Team in der Pandemie verbessert hat und auf die Maßnahmen der Heimleitung vertraut wurde. Dadurch wurde die Arbeitsatmosphäre als besser empfunden und alle haben sich gegenseitig geholfen. Auch die Wertschätzung durch die Gesellschaft sowie durch die Arbeitgeber_innen wurde als Ressource beschrieben. In unserer empirischen Studie werden diese Aussagen bestätigt und um wertvolle Aspekte ergänzt. Es zeigte sich, das externe Unterstützung durch die Bundeswehr – als Testhelfer_innen – hilfreich war, externe Leasingkräfte jedoch nicht als Entlastung empfunden wurden. Wertschätzende Gespräche mit Angehörigen sowie mit der Leitung wurden als Ressource definiert, zusammen mit dem Gefühl von Verlässlichkeit und Zusammengehörigkeit. Auch ein konstruktives Lösen von Konflikten und das selbstständige Einteilen von Pausen war in der Zeit erhöhter Belastung wertvoll, da andere Ressourcen wie z. B. ausreichend Entspannung in der Freizeit oft zu kurz kamen. Viele konnten sich nicht einmal nach der Schicht zurückziehen, weil die Kinder quasi im Homeoffice waren. Die Schulen waren wochenlang geschlossen und zu Hause mussten dann der Unterricht im Onlinemodus nachgearbeitet, Hausarbeiten beaufsichtigt werden.

Welche individuellen Problemlösungen haben die Pflegefachkräfte gefunden. Können Sie Beispiele nennen?

Annina Böhm-Fischer: Individuelle Problemlösungen gab es leider eher wenige, was aber auch durch das Problem an sich geschuldet ist – die Auswirkungen einer Pandemie kann man nicht alleine lösen. In der Literatur, in weiteren Untersuchungen wurde nur wenig über die Bewältigung von Belastungen berichtet, psychologische oder soziale Unterstützung durch Kolleg_innen und Vorgesetzte scheinen nur marginal oder nicht erfragt worden zu sein.

Wie bereits angemerkt, konnte auch in unserer Studie niemand auf professionelle Unterstützungsangebote zurückgreifen, alle haben quasi auf private Entlastungsmöglichkeiten zurückgegriffen. Sie nannten das Lesen von Büchern, ihre sozialen und familiären Kontakte im Privatleben, Gespräche mit Freund_innen und Bekannten sowie Sport.

In den stationären Langzeiteinrichtungen ermöglichten private Endgeräte den Kontakt zwischen Bewohner_innen und Angehörigen. Das löste zwar nicht das eigentliche Problem, das Besuchsverbot, aber die subjektive Belastung der Pflegenden sowie die Irritation und Einsamkeit der Bewohner_innen wurde gemildert. Erwähnenswert ist noch, dass eine als positiv empfundene Problemlösung war, Angehörige an die Leitungsebene zu verweisen, auch wenn diese ebenfalls schon sehr viel Mehrarbeit leisten musste.

 

Welche professionellen Unterstützungsangebote hätte es gebraucht?

Olivia Dibelius: Professionelles Arbeiten braucht professionelle Supervision, Beratung, Krisenunterstützungsangebote. Gerade Menschen im Gesundheitswesen, die sich für die Gesundheit anderer engagieren, müssen selber auch gesund bleiben. Im Pflegebereich sind die Belastungen aus verschiedensten Gründen ohnehin hoch, in der COVID-19-Krise kam es zu einer Zuspitzung bisheriger und neuer Problemlagen. Wir sagen deshalb, dass Beratungs- und Unterstützungsangebote selbstverständlich im Pflegebereich werden müssen, und zwar als verpflichtende Angebote und als Arbeitszeit angerechnet. Zudem müssen Präventions- und Gesundheitsförderungsangebote bereitgehalten werden.

 

Haben Interviewte nach dem Erleben der Pandemie ihren Beruf verlassen?

Olivia Dibelius: Tatsächlich gab es hier eine Überraschung, die befragten Pflegefachkräfte möchten im Beruf bleiben. Sie verbinden zwar gerade die erste Welle, insgesamt die COVID-19-Krise, mit hohen psychischen, sozialen und physischen Belastungen, dennoch berichtete fast niemand davon, temporär oder dauerhaft über einen beruflichen Ausstieg nachzudenken. Vor allem die Teamarbeit, die Nähe zu Menschen, die kommunikativen und interaktiven Aspekte des Berufes könnte kein anderer Arbeitsbereich bieten. Alle haben zwar ein Ende der Pandemie und die damit verbundenen Herausforderungen herbeigesehnt, aber diese zwischenmenschlichen, sozialen Anteile im Beruf wären für sie von hohem Wert.

 

Wie müssen sich die Arbeitsbedingungen ändern, damit Pflegende besser arbeiten können?

Gudrun Piechotta-Henze: Vor allem braucht es einen Paradigmenwechsel. Pflege ist eine hochkomplexe – systemrelevante – Tätigkeit, die als solche endlich auch die ihr gebührende gesellschaftliche und politische Anerkennung verdient. Damit sind auch professionelle Beratungs- und Bewältigungsangebote – insbesondere in Krisenzeiten, aber nicht ausschließlich – verbunden. Die Studie hat deutlich gemacht, dass das Pflegefachpersonal sehr viel leistet, aber die Bewältigung ihrer Aufgaben und der immensen Belastungen wird immer noch als weibliches Arbeitsvermögen angesehen. Es braucht auch gesellschaftliches Empowerment, etwa Lobbyarbeit in politischen Organisationen und Mitspracherechte im Gesundheitswesen – vor allem in herausfordernden Zeiten.

Grundsätzlich müssen sich die Arbeitsbedingungen in der (Alten-)Pflege ändern, dazu gehören eine angemessene Personalentwicklung und Personalbemessungen sowie veränderte Arbeitszeiten und neue Definitionen von pflegerischen Aufgaben. Unerlässlich sind eine tarifgebundene adäquate Bezahlung sowie bestmögliche Ausbildungen und Karrierewege.

 

Weitere Informationen

Die Studie „Belastungen und Bewältigungsstrategien von Pflegefachkräften zu Beginn der COVID-19-Krise im Bereich der stationären Langzeitpflege" ist im Open Access verfügbar.

Gudrun Piechotta-Henze ist Professorin für Pflegewissenschaft.