Was meint „queer“? Können gleichgeschlechtliche Paare richtig heiraten? Wie lebt eine Regenbogenfamilie? Was heißt eigentlich heterosexuell? Woher weißt du, ob jemand trans* ist? Kinder und Jugendliche stellen viele Fragen, wenn sie sich der vielfältigen Lebensweisen in ihrem sozialen Umfeld bewusst werden. Kluge Antworten zu geben, ist selbst für erfahrene Pädagog_innen nicht immer einfach, sei es in Kindertagesstätten, Museen oder Schulen. Dass es zu dem Themenfeld bis heute keine empirische Untersuchung gibt und kaum wissenschaftlich aufgearbeitete Erfahrungen, war der Grund für Prof. Dr. Tobias Nettke und Prof. Dr. Jutta Hartmann, ein gemeinsames Forschungsvorhaben zu initiieren. Seit April 2016 begleiten sie das Modellprojekt „ALL INCLUDED! Museum und Schule gemeinsam für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt“ des Jugend Museums Schöneberg.
Warum halten Sie es für wichtig, sich mit dem Thema zu beschäftigen?
Prof. Dr. Hartmann: Kinder und Jugendliche erfahren und beobachten tagtäglich, dass es vielfältige geschlechtliche und sexuelle Lebensweisen gibt. Sie sind neugierig, stellen Fragen, entwickeln ihre eigene Identität. Viele Pädagog_innen sind sich entweder unsicher, wie sie das Thema aufgreifen können, oder sie tun es entgegen besserer Absicht in einer Weise, die ein hierarchisches Verhältnis zwischen den Lebensweisen reproduziert, statt dieses aufzulösen.
Pädagogik soll aber so früh wie möglich jedweder Diskriminierung entgegenwirken. Es ist letztlich eine Frage der sozialen und kulturellen Gerechtigkeit, ob und wie vielfältige Lebensweisen auch in der Bildungsarbeit sichtbar werden und Kinder und Jugendliche darin bestärkt, dass gerade diese Vielfalt im Miteinander gut und wichtig ist. Unsere empirisch fundierten Empfehlungen, wie das Thema bearbeitet werden kann, sollen dazu beitragen.
Sie untersuchen das Thema am Beispiel eines Modellprojekts, das für seine Arbeit schon ausgezeichnet wurde. Es heißt „ALL INCLUDED!“ und wurde vom Jugend Museum Schöneberg entwickelt. Was passiert da konkret?
Prof. Dr. Nettke: Wir machen klassische Praxisforschung. Das heißt: Wir begleiten z.B. das Museumsteam, wenn es mit seinem mobilen Museum in die Schulen fährt. Der bunt bemalte Bauwagen enthält interessante Exponate, die Kinder und Jugendliche an das Thema heranführen. Ein Beispiel: Zwei Fotos in einem Rahmen zeigen links einen Mann mit einem Mann im Arm, rechts denselben Mann im gleichen Ambiente mit einer Frau im Arm. Der Betrachter bzw. die Betrachterin wird aufgefordert, den Fehler im Bild zu finden. Der Fehler liegt im verkehrt aufgestellten Porzellanpferd auf dem Couchtisch. Wir beobachten die Interaktionen der Pädagog_innen mit den Schüler_innen, machen Interviews, werten sie aus und lassen die Ergebnisse wiederum in das Projekt einfließen. Gemeinsam mit den Pädagog_innen entwickeln wir dann neue Ideen und Ansätze, mit denen es noch besser gelingen kann, die besagte Vielfalt geschlechtlicher und sexueller Lebensweisen zu vermitteln. Da lernen beide Seiten voneinander.
Warum tun sich für das Projekt eine Wissenschaftlerin und ein Wissenschaftler von zwei verschiedenen Hochschulen zusammen?
Prof. Dr. Hartmann: Weil es fachlich hervorragend passt. In der Didaktik gehören das Was und das Wie zusammen. Als Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit interessiert mich insbesondere, was genau aus welcher Perspektive mit welchen Zielen thematisiert wird. Der Kollege der Museumspädagogik kümmert sich vor allem darum, in welchen Formaten dies geschieht.
Wer soll von Ihren Erkenntnissen und Empfehlungen profitieren?
Prof. Dr. Hartmann: Zunächst einmal Pädago_innen und Fachkräfte in der Bildungsarbeit vor Ort. Wir können und wollen ihnen zwar keine Patentrezepte bieten, aber wichtige Impulse für geeignete Inhalte und eine kreative Beschäftigung in der Praxis geben. Dann auf jeden Fall auch die Kinder und Jugendlichen, die ein Recht auf Schutz vor Diskriminierung haben wie auf das Kennenlernen vielfältiger Lebensgestaltungsmöglichkeit. Und last but not least unsere Gesellschaft, in der ein Mehr an sozialem Frieden möglich ist. Im Januar 2018 werden wir unsere Erkenntnisse der Fachöffentlichkeit präsentieren und mit Kolleg_innen aus Pädagogik und Museen diskutieren.
Prof. Dr. Nettke: Bei der Tagung sind wir auch gespannt auf die Vertreter_innen des Victoria & Albert Museums sowie des British Museums, denn in England ist die Museumslandschaft zu Fragen queerer Lebensweisen ein gutes Stück weiter. Wir selbst müssen unsere Empfehlungen dann im Museumskontext bekannt machen. Ich empfinde das auch als demokratische und politische Verpflichtung. Denn Museen sind ja keine neutralen Orte mit quasi natürlichen Beständen. Sie wählen immer aus, was sie ausstellen und wie sie das tun. Dabei sollten sie in Zukunft auch die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt der Lebensweisen im Blick haben. Im Idealfall unterzieht man auch bestehende Sammlungen und Konzepte noch einmal einer kritischen Sichtung.
© HTW Berlin, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Das gemeinsame Forschungsprojekt von Prof. Dr. Jutta Hartmann (Alice Salomon Hochschule Berlin) und Prof. Dr. Tobias Nettke (HTW Berlin) heißt „VieL*Bar: Vielfältige geschlechtliche und sexuelle Lebensweisen in der Bildungsarbeit“. Die Wissenschaftlerin und der Wissenschaftler kooperieren dabei mit dem Jugend Museum Schöneberg, dem Schwule Museum*, der Bildungsinitiative QUEERFORMAT sowie dem ifgg – Institut für genderreflektierte Gewaltprävention.
Tagung im Januar:
18. Januar 2018 um 19 Uhr, Jugendmuseum
19. Januar 2018 um 10 Uhr (Akkreditierung ab 9 Uhr), HTW Berlin, Campus Wilhelminenhof
Link zum Forschungsprojekt: www.ifaf-berlin.de/projekte/viel*bar/
Link zum Tagungsprogramm: www.htw-berlin.de/vielbar