Das Jahr 2020 ist maßgeblich geprägt von der Coronapandemie. In der vorliegenden Untersuchung lag der Fokus auf Familien, die bereits vor dem Lockdown Hilfen zur Erziehung (HzE) im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe gemäß SGB VIII in Anspruch genommen haben. In Kooperation mit einem Jugendamt wurde in einem Praxisforschungsprojekt im Masterstudiengang Praxisforschung in Sozialer Arbeit und Pädagogik (MA PSP) der Frage nachgegangen, wie diese Familien die Zeit des Lockdowns erlebten, wo sie sich mehr Unterstützung gewünscht hätten und was gut und was weniger gut lief.
Soziale Arbeit, welche sich an der Lebenswelt ihrer Adressaten_innen orientiert, versteht Probleme als ein Misslingen der alltäglich zu bewältigenden Aufgaben (vgl. Thiersch 2020, 88). Besonders die Hilfen zur Erziehung (HzE) nach § 27 SGB VIII sind mit ihren ambulanten und stationären Hilfen nahe an den Alltagssituationen der Familien. Die Orientierung an der Lebenswelt der Menschen wird bspw. in § 31 SGB VIII beschrieben. Thiersch (2016, 20) beschreibt für Tätigkeiten der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit das Erarbeiten von Alltagsstrukturen, wie das Gestalten gemeinsamer Mahlzeiten in der Familie, oder das Sauberhalten der Wohnung, aber auch das Planen und Durchführen von gemeinsamen Aktivitäten.
Die Hilfe zur Bewältigung des Alltags ist dabei nicht nur für die Fachkräfte in den ambulanten Hilfen von Bedeutung, in den Hilfeplanungen werden diese es auch für das Jugendamt, da hier gemeinsame Ziele der Hilfe festgehalten werden, welche sich an der Lebenswelt der Adressaten_innen orientieren.
In der Hilfeplanung muss darüber hinaus die Partizipation der Familien Berücksichtigung finden (§ 36 SGB VIII). Dadurch können die Familien den Hilfeprozess maßgeblich beeinflussen. In § 8 SGB VIII wird geregelt, dass dabei die jungen Menschen gemäß ihren Fähigkeiten an den Entscheidungen des Hilfesystems zu beteiligen sind.
Die Beteiligungsrechte der Adressaten_innen der Kinder- und Jugendhilfe sind in den §§ 1,5, 8 und 36 SGB VIII verankert.
Forschungsdesign
Die Untersuchung wurde im Rahmen eines Praxisforschungsprojektes im MA PSP im Sommersemester 2020 durchgeführt. Somit setzte sich die Gruppe der Forschenden aus der Seminarleiterin Prof. Dr. Regina Rätz und der an dem Seminar teilnehmenden Studierenden zusammen.
Die Vermittlung der Interviewkontakte erfolgte über die fallführenden Mitarbeitenden des Regionalen Sozialen Dienstes (RSD) des Jugendamtes. Diese waren jedoch aufgrund der immer noch anhaltenden coronabedingten Einschränkungen im Ablauf nur mit Verzögerung in der Lage Kontakte zu vermitteln.
Aufgrund des engen Zeitrahmens zum Durchführen dieser Erhebung innerhalb eines Semesters war es deshalb schließlich lediglich möglich, zwei Interviews mit betroffenen Familien zu führen. Interviewt wurden die Eltern der Familien. Die Interviews wurden jeweils als Fallstudien ausgewertet. Darüber hinaus wurden zwei weitere Interviews mit Familien geführt, die bis zum Zeitpunkt der Erhebung keine Hilfe zur Erziehung in Anspruch nahmen. Die Ergebnisse aus den Fallrekonstruktionen wurden miteinander kontrastiert.
Von Familien wurde dabei gesprochen, wenn eine emotionale Verbindung zwischen mindestens einem_r Volljährigen und mindestens einem_r Minderjährigen bestand. Nicht ausschlaggebend waren dabei verwandtschaftliche Verhältnisse oder ein gemeinsames Wohnen.
Die Erhebung wurde mittels narrativer Interviews durchgeführt. Die Narration ist gerade in der Jugendhilfe ein geeignetes Werkzeug, um die Familien und deren Handlungen zu verstehen (vgl. Köttig und Rätz 2017, 99).
Für diese Methode wurde sich an den Ablauf gehalten, wie er von Schütze (1983) entwickelt und von Rosenthal (2015) weitergeführt wurde. Dort wird die narrative Gesprächsführung in drei Phasen unterteilt:
I. Erzählgenerierende Eingangsfrage und Haupterzählung (Stegreiferzählung)
II. Erzählinterner Nachfrageteil
III. Externer Nachfrageteil
In der ersten Phase wurde eine erzählgenerierende Eingangsfrage gestellt, welche explizit auf die Erfahrungen der Familien in der Zeit des Lockdowns ausgerichtet war. Externe Nachfragen wurden im Rahmen des Seminars im Vorfeld der Interviews diskutiert und verschriftlicht.
"Diese Familien sprachen von Gefühlen der Verunsicherung, des Alleingelassenseins und von Ängsten vor der Pandemie und deren Folgen."
Auswertung
Die Auswertung der mittels Datenträger aufgenommenen Interviews erfolgte dann im Rahmen der für dieses Projekt gebildeten Gruppe unter Leitung von Prof. Dr. Rätz. Die immer noch bestehenden Einschränkungen ließen ein gemeinsames Arbeiten an einem Ort nicht zu. So mussten die Interpretationen mittels Online-Videokonferenzen durchgeführt werden.
Die Auswertung erfolgte angelehnt an die Sequenzanalyse, wie sie von Oevermann (2000) entwickelt wurde. Die Sequenzierung wurde dabei anhand von thematischen Umbrüchen in der Erzählung vorgenommen. Ein als abgeschlossenes Thema gedeuteter Abschnitt bildete dabei eine zu interpretierende Sequenz. Auf der Basis der einzelnen Aussagen wurden dann abduktiv Hypothesen dahingehend gebildet, wie diese Aussagen verstanden werden könnten und was sich als Folge dieser Hypothese im Fortgang des Materials ergeben könnte (vgl. Wernet 2009). Es wurde dann sowohl danach geschaut, welche Hypothese sich mit dem Betrachten der nächsten Sequenz bestätigte oder revidierte als auch danach, welche neuen Hypothesen anhand der nächsten Sequenz gebildet werden konnten. Der Fokus lag in dem Suchen nach sich wiederholenden und sich entwickelnden Interpretationen, aus denen sich ein Muster oder eine Struktur ableiten ließen. Diese Struktur bezieht sich auf den subjektiven Sinn der Interviewten, also darauf, wie sie selbst das Geschehene verstehen und deuten sowie darauf, welche eigenen Theorien und Handlungen sie darauf basierend ableiten.
Ergebnisse
Aus dem Material konnte gelesen werden, dass der Wegfall der äußeren Rahmungen und der gewohnten Tagesstrukturierung als große Herausforderung von den Familien erlebt wurden. Fallübergreifend wurde von Verunsicherungen berichtet, die durch den Lockdown entstanden. So wurde der Verlust von Arbeitseinkommen zugunsten der Betreuung der Kinder, als auch die Gefährdung bereits erreichter Verbesserungen in der Alltags- und Lebenswelt der Familien durch den Wegbruch der äußeren haltenden Strukturen, welche u.a. durch die Hilfe zur Erziehung (HzE) aufgebaut wurden, befürchtet. Dies ging auch mit der Sorge nach möglichen Sanktionen einher, sollten sie es selbst und allein nicht schaffen.
Als Bewältigungsstrategien dieser Herausforderungen kristallisierten sich zwei unterschiedliche Handlungsmuster heraus: so versuchte ein Teil der interviewten Familien, unabhängig ob aus dem HzE-Bereich oder nicht, sich selbst eine Ordnung und eine Struktur für den Tagesablauf und dessen Bewältigung zu geben. Vor allem die Eltern mobilisierten dafür ihre eigenen Kräfte, verstanden sich als Akteure des Geschehens und übernahmen Verantwortung für ihre Kinder und für sich, also für die gesamte Familie. Dies ging allerdings mit einer beständig erlebten Unsicherheit einher, die es zusätzlich zu bewältigen galt.
"Allen Familien war gemein, dass die Pandemie als belastende persönliche Krise empfunden wurde."
Andere Familien suchten nach mehr Informationen und Ratschlägen von öffentlichen Stellen, um die Krise besser bewältigen zu können. Sie äußerten, zu wenig informiert worden zu sein. Diese Familien sprachen von Gefühlen der Verunsicherung, des Alleingelassenseins und von Ängsten vor der Pandemie und deren Folgen. Es fiel auf, dass ihnen eine richtungsleitende Orientierung und Halt fehlte.
Weiterhin wurde fallübergreifend von den Familien mit HzE beschrieben, dass der Wegfall von Kommunikationsmöglichkeiten oder gar der gesamte Wegfall von Hilfeangeboten als besonders gravierend erlebt wurde.
Anregungen und Wünsche der Eltern wurden von den Fachkräften, vor allem aufgrund der Nichterreichbarkeit dieser, nicht mehr berücksichtigt. Diese Erfahrung wurde als besonders irritierend von den Familien erlebt, da die Beteiligung und Mitwirkung für den Hilfeverlauf vor der Krise gegeben war und als Standard im Hilfeprozess verstanden wurde. Die Familien erlebten stattdessen die Entscheidungen des Hilfesystems als bevormundend und machtvoll und sich selbst als von diesen abhängig.
Auch wurde davon berichtet, dass sie sich mehr Informationen und Orientierung von Seiten des Hilfesystems gewünscht hätten. So kamen zu den durch den Lockdown hervorgerufenen Ängsten und Verunsicherungen auch noch Befürchtungen hinzu, die bisherigen Erfolge im Hilfeverlauf könnten zunichte gemacht werden. Besonders gravierend wurde der Wegfall der Kommunikation mit dem Jugendamt empfunden, da dieses als fallführende Institution als Entscheidungsträger angesehen wird und auch deshalb eine hohe Abhängigkeit vom Jugendamt besteht.
Allen Familien war gemein, dass die Pandemie als belastende persönliche Krise empfunden wurde. Dabei stand jedoch nicht die Angst vor einer möglichen Infektion im Vordergrund, vielmehr war die Bewältigung des Alltags als für die Familien belastend auszumachen. Dazu zählen neben den oben bereits genannten Faktoren auch: die Vereinbarkeit von Beruf und Homeschooling, die Gestaltung der Tagesstruktur und finanzielle Ängste.
Folgerungen für die Praxis
Die Ergebnisse zeigen eindeutig, dass die Schwerpunkte in der Bewältigung des Alltags der Familien und der beständigen Partizipation am Hilfeprozess zu verorten sind. Offenbar konnten hier vertraute Handlungspraktiken und Strategien nicht mehr oder nur noch unzureichend angewandt werden. Unter Berücksichtigung von Thiersch (2020, 88) sind Probleme bei der Alltagsbewältigung aber bereits zu Beginn der Hilfen ein wichtiger Bestandteil der Problemsituation.
Es ist also davon auszugehen, dass Familien, die keine oder kaum Schwierigkeiten in der Alltagsbewältigung haben, besser gewappnet in die Coronakrise gegangen sind als diejenigen mit eben diesen. Familien, in denen entsprechende Ressourcen bereits vor der Coronakrise fehlten, waren in dieser Situation demzufolge doppelt belastet. Zu den bereits beschriebenen geringen oder fehlenden Ressourcen bei der Alltagsbewältigung kamen durch den Lockdown noch weitere, bisher unbekannte Anforderungen hinzu. Damit scheint es für die Familien besonders wichtig gewesen zu sein, sich mit ihren Fragen an die für sie zuständige Fachkraft wenden zu können, um sich von dieser Rat und Hilfe einholen zu können. Durch das ‚Herunterfahren‘ der Aktivitäten der Jugendämter und der ambulanten Hilfen waren diese jedoch nicht im nötigen Umfang erreichbar. Die Familien hatten somit niemanden oder nur begrenzt jemanden, an den sie sich mit den Problemen in ihrem Alltag wenden konnten.
Die Familien, welche interviewt wurden, befanden sich am Ende ihrer jeweiligen Hilfemaßnahme. Es kann zwar davon ausgegangen werden, dass in solchen Fällen bereits Fähigkeiten und Strategien zur selbstständigen Alltagsbewältigung erworben wurden; die durch die Coronapandemie entstandenen Verunsicherungen sind jedoch so gravierend, dass ein Bewältigen der neuen Alltagsprobleme nicht als gegeben angenommen werden kann. Wie sich in den kontrastierenden Fällen zeigte, kamen auch Familien, welche offenbar vor dem Lockdown keine Schwierigkeiten mit der Bewältigung des Alltag hatten, mit den neuen Bedingungen teilweise an ihre Belastungsgrenzen.
Durch die erschwerte Erreichbarkeit der im Hilfesystem tätigen Fachkräfte war es den interviewten Eltern auch nicht möglich an Entscheidungen zu partizipieren und ihre, durchaus vorhandenen, Lösungsvorschläge einzubringen. So entstand bei ihnen ein Gefühl, dass über sie entschieden wird und nicht mit ihnen gemeinsam an Lösungen für auftretende Probleme gearbeitet wurde.
Was sollte bei einem weiteren Lockdown anderes gemacht werden?
Nach aktuellem Kenntnisstand ist ein Ende der Coronapandemie in Europa bisher noch nicht abzusehen. Auch weitere Lockdowns mit Kita- und Schulschließungen sowie tiefgreifenden Eingriffen in das Hilfesystem sind nicht auszuschließen. Diese Maßnahmen sind nicht nur für Familien, die HzE in Anspruch nehmen, eine große Herausforderung. Auch das Hilfesystem wird vor bisher unbekannte Anforderungen gestellt. Viele der Fachkräfte im Hilfesystem haben selbst Familien, um die sich im Falle einer Kita- und Schulschließung gekümmert werden muss. Auch konnten die Fachkräfte bisher auf keinerlei Erfahrungen in solchen Situationen zurückgreifen.
Dennoch ist es gerade in solchen Ausnahmesituationen, wie dem pandemiebedingten Lockdown, wichtig die Hilfen aufrecht zu erhalten und ggf. für einen begrenzten Zeitraum auszubauen. Ebenfalls wichtig ist es dabei, die Beteiligung der Familien an ihrem eigenen Hilfeprozess nicht zu vernachlässigen bzw. aufrecht zu erhalten. Auch in dieser Zeit sind es die Adressaten_innen der Hilfen, die am ehesten wissen, was sie benötigen und dies auch artikulieren können. Von daher steht an erster Stelle die Kommunikation zwischen den Beteiligten aufrecht zu erhalten!
Literatur:
Oevermann, U. (2000). Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der klinischen und pädagogischen Praxis. In K. Kraimer (Hrsg.), Die Fallrekonstruktion: Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung (1. Aufl). Suhrkamp.
Rätz, R., & Köttig, M. (2017). Rekonstruktive Fallbearbeitung in der Kinder- und Jugendhilfe. Dialogische Biografiearbeit in institutionellen Kontexten. In B. Völter & U. Reichmann (Hrsg.), Rekonstruktiv denken und handeln: Rekonstruktive Soziale Arbeit als professionelle Praxis. Verlag Barbara Budrich.
Rosenthal, G. (2015). Interpretative Sozialforschung: Eine Einführung (5., aktualisierte und ergänzte Auflage). Beltz Juventa.
Thiersch, H. (2016). Zur Einleitung: Lebensweltorientierung in der sozialpädagogischen Familienhilfe. Eine exemplarische Fallgeschichte. In K. Grunwald & H. Thiersch (Hrsg.), Praxishandbuch lebensweltorientierte soziale Arbeit: Handlungszusammenhänge und Methoden in unterschiedlichen Arbeitsfeldern (3., vollständig überarbeitete Auflage). Beltz Juventa.
Thiersch, H. (2020). Lebensweltorientierte Soziale Arbeit - revisited: Grundlagen und Perspektiven. content-select.com/index.php.
Wernet, A. (2009). Einführung in die Interpretationstechnik der objektiven Hermeneutik (3. Auflage). VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Robert Wirth ist Student im Masterstudiengang PSP.
Kontakt: robert.wirth@ ash-berlin.eu