Die Reise war Teil unseres Projekts „Soziale Arbeit als koloniales Wissensarchiv?“, das am Alice Salomon Archiv der ASH Berlin angesiedelt ist. Im Team arbeiten Fallon Tiffany Cabral, Rut-Lina Gonçalves Schenck, Maex Kühnert und Dayana Lau zusammen und wir fragen, wie Soziale Arbeit historisch in koloniale Macht- und Wissensordnungen verstrickt war und welche widerständigen Perspektiven und Praktiken sich in der Geschichte finden lassen; aber auch, wer als relevante*r Akteur*in in der Geschichte der Sozialen Arbeit erinnert wird und wer nicht. Denn es geht uns auch darum, verdeckte – bisher ausgeklammerte – widerständige Schwarze (deutsche) Menschen, nicht weiße und Personen mit Migrations- oder Kolonialisierungsgeschichte als Handelnde im weiteren Kontext Sozialer Arbeit in Deutschland aufzuspüren und mitzudenken, wenn wir historiographisch arbeiten. Wir betrachten es als notwendige Aufgabe, sogenannte "hidden figures" und widerständige Organisationen sichtbar zu machen, die in dominanten Erzählungen der Sozialen Arbeit – einem meist als weiß imaginierten Arbeitsfeld – häufig nur als „passiv“, „hilfsbedürftig“ oder als „Opfer“ dargestellt werden. Damit wollen wir solche machtvollen Erzählungen gezielt unterbrechen.
Aus einer postkolonial-feministischen Perspektive untersuchen wir, wie sich soziale, pädagogische und fürsorgerische Praktiken zwischen Affirmation und Subversion bewegen: Wo wurden koloniale Narrative stabilisiert, wo aber auch kritisch irritiert oder unterlaufen? Dafür folgen wir den Spuren historischer, weißer deutscher Sozialarbeiter*innen, die sich während der Zeit der deutschen Kolonialherrschaft und auch in den folgenden Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum und überall auf der Welt kolonial verstrickt haben und Projekte initiierten, die wir als koloniale Zivilisierungsmissionen betrachten können und die zum Teil bis heute fortbestehen (vgl. Castro Varela i.E.). Einige von ihnen waren beispielsweise in den Amerikas unterwegs und haben in enger Zusammenarbeit mit lokalen, postkolonialen Eliten im Kontext von Sozialarbeitsschulen den Grundstein der heutigen Entwicklungszusammenarbeit mit dem Globalen Süden gelegt (vgl. Cabral/Lau i.E.). Andere haben sich hingegen kritisch mit den Folgen der Kolonisierung/des Kolonialismus für indigene Bevölkerungen und die Umwelt auseinandergesetzt und antikoloniale Initiativen entwickelt. Dabei versäumten sie jedoch, ihre eigene Rolle in der Aufrechterhaltung kolonialer Machtverhältnisse selbstkritisch zu reflektieren.
Als (ehemalige) Mitarbeitende und Assoziierte des Forschungsteams „Soziale Arbeit als koloniales Wissensarchiv?“ sind wir – Francis Ramírez Cervantes, Fallon Tiffany Cabral und Dayana Lau – nach Mexiko geflogen, wo sich Gertrude Duby Blom – eine Person aus unserem Sample der weißen Sozialarbeiterinnen aus dem deutschsprachigen Raum – ab 1940 rund 50 Jahre lang nach eigener Aussage der „Bewahrung“ und dem „Schutz“ der lacandonischen Selva und ihrer Bewohner*innen widmete, vor allem durch dokumentarisch-aktivistische Fotografie. Unsere Spur führte uns dorthin mit Fragen wie: Welche kolonialen Wissensordnungen, Machtasymmetrien und paternalistischen Logiken spiegeln sich in den Bildproduktionen, Schriften und dokumentierten Interventionen Duby Bloms wider bzw. werden durch diese hervorgebracht? Welche Spannungen entstehen zwischen solidarischem Engagement und der Gefahr, koloniale Narrative zu reproduzieren und Machtverhältnisse fortzusetzen? Welche (Gegen-)Narrative oder Reaktionen seitens derjenigen, die damals dargestellt wurden, sind entstanden?
Diese Spur führte uns schnell zum künstlerisch-aktivistischen Projekt „Mujeres Indígenas Fotógrafas“ (MIF) und zu den Mitwirkenden Juana López López, Martha López López und Antonia Girón Intzín, die in San Cristóbal de las Casas und in umliegenden Dörfern aktiv sind. Das Projekt versteht sich als Zusammenschluss indigener Frauen, die durch Fotografie neue, eigene Perspektiven auf ihre Lebenswelt, kulturelle Identitäten und kollektive Geschichte eröffnen. Mit ihrer künstlerischen Arbeit zeigen sie das Alltagsleben, die Traditionen und die Herausforderungen ihrer Gemeinschaften, dokumentieren lokale Kämpfe um Autonomie und treten für Sichtbarkeit weiblicher, indigener Stimmen und Narrative ein. Die Gruppe organisiert Workshops und Ausstellungen und entwickelt fotografische Bildungsformate, oft in Kooperation mit dem Chiapas Photography Project (CPP). Hier werden Bildarchive aufgebaut, Erinnerungsarbeit geleistet und lokale Akteur*innen ermächtigt, ihre eigenen Geschichten und Kämpfe sichtbar zu machen.
Unser Dank gilt den Aktivist*innen und Künstler*innen des MIF für Vertrauen, Austausch und ihre Zeit sowie den Kolleg*innen des Forschungs- und Kulturzentrums Na Bolom in San Cristóbal de las Casas für den Zugang und die Unterstützung im Fotoarchiv von Duby Blom. Besonders hervorheben möchten wir den Beitrag von Francis Ramírez Cervantes, der für den Erfolg der Forschungsreise nach Chiapas zentral war. Die Forschung in den Archiven, insbesondere die Gespräche in San Cristóbal de las Casas, wären ohne die Expertise und die kritischen Analysen unserer ehemaligen Kollegin und Assoziierten Francis Ramirez Cervantes nicht in gleichem Maße erfolgreich gewesen. Ihr intersektionales Wissen über lateinamerikanische Geschichte(n), lokale Politiken – insbesondere im mexikanisch-peruanischen Vergleich – sowie ihre muttersprachlichen Spanischkenntnisse waren hierfür von großer Bedeutung. Dies war umso relevanter, als die Differenzen im Erfahrungs- und Navigationswissen innerhalb der Reisegruppe, insbesondere im Hinblick auf den lateinamerikanischen Kontext, deutlich variierten. Theoriewissen und Reflexionen über das eigene Weißsein oder über eigene Rassismuserfahrungen – etwa als weiße (Lau) oder südasiatisch-diasporische (Cabral), in Deutschland geborene und sozialisierte Personen – stellen notwendige analytische Ressourcen dar. Gleichwohl markieren sie unseren begrenzten Zugang zu den komplexen, historisch verorteten Erfahrungen von Kolonialität und Rassismus in Lateinamerika. Diese Grenzen werden wir als epistemische Bedingungen unserer Positioniertheiten bei der Auswertung der Daten und der Reflektion unserer Erfahrungen auf der Reise berücksichtigen müssen.
Als Forschungsteam ist uns bewusst, dass unsere Spurensuche nach Gertrude Duby Blom nicht nur die Gefahr erneuter Zentrierung birgt, sondern dass wir selbst – als divers positioniertes Team von mehrheitlich in Deutschland verorteten Forscher*innen – in koloniale Wissensordnungen, akademische Machtasymmetrien und globale Ungleichheitsverhältnisse eingebunden sind. Unsere Perspektiven, Sprachwahl und methodischen Zugänge sind nicht neutral, sondern prägen, was sichtbar gemacht und wie es gerahmt wird. Damit verbunden ist die Gefahr, dass wir – auch im Modus kritischer Analyse – koloniale Narrative (re)produzieren oder indigene Stimmen und Erfahrungen (erneut) durch unsere eigenen Deutungen überlagern. Diese Ambivalenz wirft Fragen nach dem Zweck unserer Forschung auf: Wessen Interessen und Kämpfen dient unsere Wissensproduktion? Welche Effekte hat sie für diejenigen, über die, mit denen oder für die wir sprechen und schreiben? Unser Anliegen ist es, Räume für Gegen-Narrative sichtbar zu machen und solidarische Verbindungen zu stärken – wohlwissend, dass auch dies in hegemoniale Diskurse eingeschrieben bleibt.
Gleichzeitig verstehen wir unsere Auseinandersetzung auch als Teil eines lehrforschenden Prozesses. Die kritische Reflexion eigener Verstrickungen und Ambivalenzen ist nicht nur für unsere aktuelle Forschung zentral, sondern birgt auch Potenzial für die Ausbildung und Professionalisierung künftiger Sozialarbeiter*innen: Sie eröffnet Räume, um über koloniale Kontinuitäten, epistemische Ungleichheiten und die politische Dimension Sozialer Arbeit ins Nachdenken zu kommen. In diesem Sinne dient die Forschung nicht allein der akademischen Wissensproduktion, sondern auch der Entwicklung einer Haltung, die Machtasymmetrien erkennt, hinterfragt und praktische Konsequenzen für solidarisches Handeln in der Sozialen Arbeit und „helfender“ Professionen im weiteren Sinne erwägt.
So ergibt sich daraus ein Plädoyer für historisch-machtkritisches Lernen und erinnerungspolitische Reflexion historischer Verstrickungen in koloniale und rassistische Macht- und Herrschaftsverhältnisse der Profession als ein zentrales Fundament im Sozialarbeitsstudium. Dies knüpft an unsere Lehrforschungsangebote an, in dem Studierende im Rahmen ihrer Grundausbildung eigene Zugänge zur Frage entwickeln können, wie Soziale Arbeit als „koloniales Wissensarchiv“ kritisch befragt und in gegenwärtige Handlungsfelder rückgebunden werden kann. Ab dem Wintersemester 2025/26 wird diese Spur in einem Projektseminar mit dem Titel „Dekoloniale und feministische Perspektiven auf Theorie, Widerstand und Praxis der Sozialen Arbeit“ (BA Soziale Arbeit mit Maria Fernanda Sarmiento Castano und Dayana Lau) über vier Semester weiter vertieft. Solche Verbindungen zwischen Forschung, Lehre und Praxis können Möglichkeiten für weitere Kooperationen sowohl mit lokalen Projekten wie MIF als auch mit Studierenden und Praktiker*innen eröffnen, die sich an der Schnittstelle von sozialer Arbeit, Kunst, Aktivismus und postkolonial informierter, (selbst-)kritischer Wissensproduktion bewegen.
Kontakt: kol-lab@ ash-berlin.eu