Seit einigen Jahren werden postkoloniale und intersektionale Studien und Theorien auch in der Sozialen Arbeit[1] verstärkt rezipiert. Dies hat maßgeblich dazu beigetragen, dass zunehmend auch innerfachlich die Rolle Sozialer Arbeit bei der gesellschaftlichen Reproduktion rassistischer Diskriminierung kritisiert wird und – in erster Linie qualitative – Studien zu Rassismen in der Sozialen Arbeit durchgeführt werden. Dabei werden Praxen der Konstruktion rassifizierter „Anderer“ durch Soziale Arbeit selbst, ihr Verhaftet-Bleiben im Dominanzanspruch westlicher Bildungs- und Wertvorstellungen, die Rolle Sozialer Arbeit in der Entwicklungszusammenarbeit, asymmetrische Hilfe- und Adressat_innenkonzepte u.v.m. untersucht. Auch bestimmte Theoretisierungen Sozialer Arbeit werden in diesem Zusammenhang auf neue Weise kritisch beleuchtet. Diese Entwicklung ist ebenso begrüßenswert wie unhintergehbar, bildet sie doch die Grundlage für einen wirklichen Abbau rassistischer Praxen und Strukturen innerhalb der Profession. Kaum beleuchtet sind bislang allerdings historische Hintergründe und Kontinuitäten ihrer Entstehung.
Die Gründung der modernen Sozialen Arbeit als Beruf fiel unmittelbar mit der Zeit der formalen Kolonialherrschaft Deutschlands zusammen. 1893, also nur kurz nachdem die europäischen Kolonialmächte unter Leitung des Reichskanzlers Bismarck den afrikanischen Kontinent unter sich aufgeteilt hatten und das Deutsche Reich zur drittgrößten Kolonialmacht geworden war, wurden aus dem radikalen Flügel der Berliner Frauenbewegung heraus die Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit gegründet. Aus diesem Zusammenschluss gingen etliche Organisationen und auch Methoden der professionellen Sozialen Arbeit hervor, die teilweise bis heute fortbestehen bzw. noch heute von Bedeutung sind. Prominent zu nennen ist hier Alice Salomons „Soziale Frauenschule“, die heutige Alice Salomon Hochschule Berlin. Viele Protagonist_innen in der „ersten Riege“ der Sozialen Arbeit waren zugleich auch in der kolonialen Bewegung aktiv und stellten Verbindungen zwischen den sozialen Initiativen der Frauenbewegung und kolonialen Organisationen her.
Die unterschiedlichen Formen der Beteiligung Sozialer Arbeit an der Umsetzung kolonialer Herrschaft sind bisher noch nicht systematisch erforscht. Diese zu untersuchen kann – neben einem fachhistorischen Ertrag – wichtige Antworten auf die Frage geben, ob die Soziale Arbeit – wie es die ehemalige ASH-Rektorin Christine Labonté-Roset anlässlich der Auseinandersetzung mit der Beteiligung Sozialer Arbeit an der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik einmal formulierte – „Momente hat, die ihre Inanspruchnahme als Repressions- und Selektionsapparat ermöglichten“ (Labonté-Roset 1988). Denn die koloniale Zuspitzung der von der Frauenbewegung entfalteten Idee von Sozialer Arbeit als „Kulturarbeit“ wirkte nicht nur in den Kolonien als Herrschaftsinstrument, sondern auch in den Metropolen selbst. So finden sich koloniale Narrative zum Beispiel in Beschreibungen der Lebenswelten von Adressat_innen, die häufig mit kolonialen Attributen belegt wurden, indem sie als „fremd“ und „unzivilisiert“ dargestellt wurden. Auch in Kontexten der internationalen Zusammenarbeit innerhalb der Frauenbewegung und der Sozialen Arbeit trafen Rassismus und Kolonialismus nicht gerade auf Widerstand. Soziale Arbeit konstituierte sich vielmehr als weißer Raum, in dem eurozentrische Vorstellungen von sozialer Ordnung, Bildung, Arbeit und Familienleben handlungsleitend wurden.
Ein Blick auf den radikalen Flügel der Berliner Frauenbewegung zeigt, dass von hier aus nicht nur initiale Impulse für die Berliner Sozialarbeit hervorgegangen sind. Minna Cauer (1841-1922), Frauenrechtlerin und Co-Gründerin der schon erwähnten „Mädchen- und Frauengruppen“ setzte sich für die Auswanderung von gebildeten Frauen in die afrikanischen Kolonien ein. Sie schrieb: „Es liegt hier [in der Kolonisation, DL] allerdings ein Thätigkeitsfeld für die Frauen vor. [… Sie] würden gewiß bereit sein, in einer so wichtigen Frage mitzuarbeiten, wenn sie überzeugt würden, […] daß man von Anfang an auf ihre Mitwirkung rechnet bei der Lösung der kulturellen Aufgaben in den Kolonien.“ Die „kulturellen Aufgaben“ präzisierte sie wie folgt: „Die bisherigen Erfahrungen haben leider bewiesen, daß Barbarentum, Interessenwirtschaft und altgewohnte Ansichten dort drüben entsetzliche Verrohung herbeigeführt haben.“ (Cauer 1898). Diesen Missstand zu verbessern betrachtet sie, ganz in der Tradition der sozialarbeitsbegründenden Idee der „Geistigen Mütterlichkeit“, als Aufgabe deutscher Frauen.
Ein weiteres Beispiel ist die Unternehmerin Hedwig Heyl (1850-1934), die in unmittelbarer Nachbarschaft zur Salomon’schen Sozialarbeitsschule eine Koch- und Haushaltungsschule leitete und das sozialpädagogische Jugendheim Charlottenburg gegründet hatte. Die nationalistisch-rechtskonservative Heyl war 10 Jahre lang Vorsitzende des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft und hat in dieser Funktion für tragfähige Verbindungen zwischen den verschiedenen Organisationen gesorgt. Sie sah in der kolonialen „Kulturarbeit“ von Frauen nicht – wie Cauer – eine Chance auf rechtliche und politische Gleichstellung für Frauen, sondern die Möglichkeit, einen wesentlichen Beitrag zum Auf- und Ausbau der deutschen Kolonialmacht und für den Erhalt „deutscher Kultur“ zu leisten. Inspiriert von britischen Vorbildern träumte sie auch davon, Heimkinder zu einer neuen Kolonistengeneration heranzuziehen und in die Kolonien zu verschicken:
„Mich hatte in England Bernardos [sic] Kinderheim tief beeindruckt. Dasselbe erzog besonders uneheliche Kinder zu Ansiedlern und Hilfen in den englischen Kolonien; die Methoden schlossen sich eng an meine im Jugendheim verwirklichten Bestrebungen“ (Heyl 1925).[2]
Heyl schuf ein dichtes, leistungsfähiges Netzwerk kolonialer Organisationen in den Kolonien – hauptsächlich im sogenannten „Deutsch-Südwest“ im Gebiet des heutigen Namibia – und in der Metropole Berlin, das sozial und hauswirtschaftlich vorgebildete weiße deutsche Frauen in die Kolonien verschickte. Diese Frauen hatten den Auftrag, das „Deutschtum“ in den Kolonien zu erhalten und zu fördern. Dazu gehörte unter anderem die sozialpädagogische Arbeit mit den Kindern der weißen Siedler_innen. Zu diesem Zweck wurde in Lüderitzbucht ein Jugendheim nach einem Berliner Vorbild gegründet. Dieses diente dazu – so die Propagandistin des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft Else von Boetticher – „für die kleinen, von ihren hauswirtschaftlich stark in Anspruch genommenen Müttern nur wenig beaufsichtigten Kinder der deutschen Bevölkerung einen Sammelpunkt zu schaffen und sie Heimatart und deutsche Sitte zu lehren“ (Boetticher 1914). Darüber hinaus bot das Heim einwandernden deutschen Frauen Unterkunft für ihre Durchreise und einen regelmäßigen Sammelpunkt. Auf diese Weise sollte ein „Hort deutschen Wesens“ entstehen.
Dieses Verständnis von Sozialer Arbeit als koloniale und nationale Kulturarbeit hatte tiefgreifende Folgen für die Entwicklung der Profession. Daher ist es auch für die Gegenwart Sozialer Arbeit relevant danach zu fragen, wie dies innerhalb der Profession tradiert wurde, ob und wie es gebrochen wurde bzw. welche Alternativen ihm entgegengesetzt wurden. Diesen Fragen geht das Alice Salomon Archiv der ASH Berlin gemeinsam mit Kooperationspartner_innen vom Pestalozzi-Fröbel-Haus Berlin, den Universitäten Hildesheim und Marburg und der Hochschule Rhein-Main in einem BMBF-geförderten Forschungsprojekt mit einer Laufzeit vom 1.1.2023-31.12.2026 nach. Im Projekt geht es insbesondere darum, die Rolle der Berliner Sozialarbeitsinitiativen im deutschen Kolonialismus aufzuarbeiten und Formen der (Re-)Produktion kolonialen und rassistischen Wissens in historischen Quellen der frühen Sozialen Arbeit zu analysieren. Ein Herzstück der Studie bildet eine Reihe von Lehrforschungsprojekten, die in Studiengängen der beteiligten Hoch- und Fachschulen durchgeführt werden. Darin werden die Quellenstudien mit Erhebungen zur kolonialrassistischen Gegenwart von (Sozial)Pädagogik und Sozialer Arbeit ergänzt und die Erkenntnisse dieser Untersuchungen zueinander in Beziehung gesetzt.
Informationen zum Projekt
Projektname: „Soziale Arbeit als koloniales Wissensarchiv? Ein Geschichtslabor zum (post-) kolonialen Erbe Sozialer Arbeit als Modell historiographischer Lehrforschung“
Projektlaufzeit: 01.01.2023 bis 31.12.2026
Projektleitung: Dr. Dayana Lau
Gefördert durch: Bundesministerium für Bildung und Forschung, Richtlinie „Aktuelle und historische Dynamiken von Rechtsextremismus und Rassismus“
Projektpartner_innen: Sabine Sander und Silke Bauer, Pestalozzi-Fröbel-Haus Berlin; Dr. Z. Ece Kaya, Universität Hildesheim; Prof. Dr. Wiebke Dierkes, Hochschule Rhein-Main; Prof. Dr. Susanne Maurer (i.R.), Universität Marburg
Webseite: https://www.alice-salomon-archiv.de/projekte/
Quellenangaben
- Boetticher, Else von (1914): Das Heimathaus in Ketmannshoop und das Jugendheim in Lüderitzbucht, die Adda-v.-Liliencron-Stiftung. Berlin. (Broschüre)
- Cauer, Minna (1898): Zur Frauen-Kolonisationsfrage, in Die Frauenbewegung, 4 (7): 77–8.
- Heyl, Hedwig (1925): Aus meinem Leben, Berlin: Verlagsbuchhandlung Schwetschke & Sohn.
- Labonté-Roset, Christine (1988): Vorwort. In: FHSS Sonderinfo Mai 1988, S. 1-3
- Liebel, Manfred (2016): Koloniale und postkoloniale Staatsverbrechen an Kindern. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung /Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research, 11(3), 363-368.
[1] Hier und im Folgenden sind in der inzwischen gängigen Fassung von Sozialer Arbeit sowohl sozialpädagogische als auch sozialarbeiterische Berufe gemeint.
[2] Die ab Mitte des 19. Jahrhunderts in England gegründeten Kinderheime des Thomas John Barnardo (1845-1905) waren Teil eines organisationalen Netzwerks, das bis in die 1970er Jahre insgesamt bis zu 150.000 Kinder, die gesellschaftlich als „unnütz“ betrachtet wurden, in die britischen Kolonien deportierte – als billige Arbeitskräfte und als weiße Kolonist*innen dienten sie gleichsam als „Bausteine für das Empire“ (Liebel 2016, S. 364).