Mit zunehmendem Alter steigen die gesundheitlichen Beschwerden eines Menschen und damit auch die Anzahl der eingenommenen Medikamente. Nimmt ein Patient unterschiedliche Arten von Medikamenten ein, steigt das Risiko einer Fehl- oder unangebrachten Mehrfachmedikation und damit auch die Gefahr von unerwünschten Nebenwirkungen sowie ungeplanten Notfalleinweisungen ins Krankenhaus (Braun 2012; Marcum et al. 2012).
Bisher sind Polypharmazie und Fehlmedikation bei Menschen mit Migrationshintergrund sowohl national als auch international wenig erforscht. Doch auch die Zahl älterer Menschen mit Migrationshintergrund steigt kontinuierlich an und unterliegt wie die Gesamtbevölkerung in Deutschland der demografischen Alterung. Dabei stellen türkeistämmige Menschen in Deutschland die größte Migrant_innengruppe dar.
Um Polypharmazie und Fehlmedikation zu durchbrechen und damit auch die Notaufnahmen zu entlasten, müssen Fehlverabreichungen/-einnahmen identifiziert, kommuniziert und verringert werden. Vor diesem Hintergrund zielt die Studie darauf ab, derzeitige Ressourcen und Barrieren in der medikamentösen Versorgung chronisch kranker türkeistämmiger Menschen zu erfassen und E-Health-Möglichkeiten zu entwickeln, um sowohl eine richtige und kontinuierliche Einnahme der Medikation als auch eine Verbesserung der interprofessionellen Kommunikation der Versorgenden zu gewährleisten.
Laut der WHO ist bereits der gleichzeitige Gebrauch von mehr als drei Medikamenten pro Patient_in sowie teilweise auch die Anwendung klinisch nicht identifizierter Medikamente ein Fall von Polypharmazie (WHO 2006). Insbesondere ältere, multimorbide Menschen mit einer niedrigen subjektiven Gesundheitseinschätzung und einer niedrigen gesundheitsbezogenen Lebensqualität sowie von Armut bedrohte Menschen sind von Polypharmazie häufiger betroffen (DGEM 2012). Auch die ärztliche Umsetzung von diversen Leitlinien in der Therapie kann bei multimorbiden Patient_innen dazu führen, dass z. B. eine Patientin mit fünf chronischen Krankheiten zwölf verschiedene Medikamente in 18 Einzeldosen pro Tag verschrieben bekommt (Boyd CM et al. 2005).
Insgesamt führt Polypharmazie zu erhöhten Kosten, unerwünschten Arzneimittelwirkungen und ungeplanten Krankenhausaufnahmen und als Folge davon zu erhöhter Morbidität, Mortalität und erhöhtem Sturzrisiko (Burkhardt u. a. 2007; Marcum et al. 2012, DGEM, 2012). Menschen mit einer potenziellen Vulnerabilität, wie beispielsweise ältere Menschen mit Migrationshintergrund, sind aufgrund einer geringen Gesundheitskompetenz (Quenzel & Schaeffer 2016; Schaeffer et al. 2017) und sprachlichen Kommunikationsschwierigkeiten Fehlmedikation und Polypharmazie stärker ausgesetzt (Tezcan-Güntekin 2017a).
Studienziel und -design
Das Projektziel ist die Analyse medikamentöser Versorgungspraktiken von Ärzt_innen, Apotheker_innen und Pflegefachpersonen sowie die Erhebung der Einnahmepraktiken chronisch erkrankter türkeistämmiger Menschen. Dazu werden jeweils zehn ressourcen- und problemzentrierte Interviews mit chronisch erkrankten älteren türkeistämmigen Menschen und Angehörigen durchgeführt. Darüber hinaus werden Fokusgruppen-Interviews und insgesamt 10–15 Expert_inneninterviews mit Krankenhaus- und niedergelassenen Ärzt_innen und Sozialarbeiter_innen sowie ambulanten Pflege- und Sozialdiensten durchgeführt und mittels inhaltlich strukturierender Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) ausgewertet. Anschließend wird ein webbasiertes Konzept zur interaktiven und interprofessionellen Vernetzung entwickelt, das dazu dient, die medikamentöse Versorgung chronisch erkrankter türkeistämmiger Menschen und langfristig chronisch erkrankter Menschen mit unterschiedlichsten Diversitätsmerkmalen, zu verbessern und die interprofessionelle Kommunikation der versorgenden Professionellen im Quartier zu stärken, sodass das Risiko einer Fehlversorgung und unangemessener Mehrfachmedikation verringert wird.
Kurzinformation:
Projekttitel: MedikaMig – Vermeidung von Polypharmazie bei chronisch Erkrankten mit Migrationshintergrund
Projektlaufzeit: 01.04.2019–31.03.2021
Projektleitung: Prof. Dr. Dr. Hürrem Tezcan-Güntekin (ASH Berlin), Prof. Dr. Martin von Löwis (Beuth Hochschule für Technik Berlin)
Wissenschaftliche Mitarbeiterin: Ilknur Özer-Erdogdu
Kooperationspartner-innen:
DetaMed Hauskrankenpflege, Töchter und Söhne GmbH, Charité Berlin – Leitung Krankenhaussozialarbeit
Förderer: IFAF – Institut für angewandte Forschung Berlin e. V.
Kontakt: oezer@ash-berlin.eu
Web: https://www.ash-berlin.eu/forschung/forschungsprojekte-a-z/medikamig/