Forschung "Normalfall ist der Ausstieg aus der kriminellen Karriere"

Prof. Dr. Heinz Cornel untersucht in seinem Forschungsprojekt „Rückfälligkeit und langfristige Legalbewährung nach Vollstreckung von Jugendstrafe" seit vielen Jahren die Rückfälligkeit von jungen Menschen. Im Interview stellt er Ergebnisse vor, ordnet das häufig populistisch besetzte Thema kundig ein und formuliert Lösungsansätze.

© Sergei Preobrazhensk / Fotolia.com
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alice online: Herr Cornel, bitte beschreiben Sie das Projekt „Rückfälligkeit und langfristige Legalbewährung nach Vollstreckung von Jugendstrafe" kurz.
Prof. Dr. Heinz Cornel: Es geht in dem langfristig angelegten Forschungsprojekt um die Rückfälligkeit von jungen Menschen, die aus dem Jugendstrafvollzug entlassen wurden oder umgekehrt gesprochen um deren Legalbewährung, d.h. ob sie sich durch legales gesetzmäßiges Verhalten bewährt haben.
Wenn man Menschen nicht allein aus Rache und Vergeltung bestrafen will, was eines demokratischen Rechtsstaats unwürdig ist, wenn es nicht um archaische Straflust gehen soll, dann lässt sich eine Jugendstrafe, das Wegsperren eines Delinquenten nur legitimieren, wenn diese Zwangsmaßnahme wirksam ist, wenn Sie dem Rechtsfrieden dient, neue Straftaten verhindert und damit potentielle Opfer schützt. Insofern geht es bei dem Projekt um klassische empirische Sozialforschung, um Wirkungen und Wirksamkeit – je höher die Rückfallquote – ganz grob gesprochen – im Vergleich zu anderen Reaktionen auf Abweichendes Verhalten, umso geringer die Wirksamkeit.
Kriminalität und Kriminalpolitik sind emotional hoch besetzt, deshalb wird mit diesen Rückfallquoten – oft populistisch – Politik gemacht: Man postuliert ganz hohe Rückfallquoten, um die Delinquenten weiter zu stigmatisieren, propagiert allein Verwahrung und Weg-Schluss und lehnt differenzierte Resozialisierungshilfen zur Beeinflussung der Rückfälligkeit ab.

alice online: Ihre Studie erstreckt sich über viele Jahre. Wie hat sich die Datenlage entwickelt?
Prof. Dr. Heinz Cornel: Als ich vor 15 Jahren begann diese langfristige Studie zu planen, tauchten überall Rückfallquoten von 80 % auf, die nur schlecht belegt waren. Vorliegende Untersuchungen bezogen sich meist nur auf eine Anstalt, wenige Gefangene und über einen kurzen Beobachtungszeitraum. Es waren oft Qualifizierungsarbeiten (Dissertationen) oder zeitlich befristete Forschungsprojekte, die allein schon von ihrem Setting kaum mehr als 3-5 Jahre laufen konnten. Wenn man zusätzlich weiß, dass Daten zur Rückfälligkeit in das Zentralregister oft viele Monate oder gar Jahre brauchen, weiß man wie unzuverlässig solche Untersuchungen waren. Inzwischen gibt es statistische Auswertungen der bundesweiten Daten des Bundeszentralregisters, die natürlich keinerlei Aussagen über den Vollzug und die Sozialbiografie erlauben und eine Erhebung aus Hessen mit ganz ähnlichen Ergebnissen, aber deutlich kürzerer Laufdauer.
Ein allerletzter Punkt noch zum Projekt selbst: wer über Rückfälligkeit spricht und Daten erhebt, muss genau definieren, was er darunter versteht: wenn der Sexualstraftäter oder schwere Gewalttäter 15 Jahre nach seiner Haftentlassung beim Schwarzfahren erwischt wird, ist er per Definition Rückfalltäter. Dennoch wird man von einer erfolgreichen Resozialisierung sprechen können, wenn es vorher keinerlei einschlägige andere Delikte und Opfer gab. Ich habe deshalb in meinem Projekt sehr differenziert und über mehr als zehn Jahre Rückfälligkeit erfasst und diese mit Daten über die Lebensgeschichte und das Geschehen im Jugendstrafvollzug in Bezug gesetzt. Dies mit der größten Anzahl von Jugendstrafgefangenen – nämlich einer Totalerhebung in Berlin und Brandenburg im Jahr 2004, so wurden alle Gefangene, die zwischen dem 1. Januar und 31. Dezember entlassen wurden, erfasst, insg. 309 Personen.

alice online: Sie haben 2008, 2012 und 2016 Anfragen zur Rückfälligkeit gestellt. Wie sahen in jedem dieser Jahre die Rückfälligkeitsquoten aus und was ziehen Sie aus den jeweiligen Daten für Rückschlüsse?
Prof. Dr. Heinz Cornel: Man muss zunächst wissen, dass im Bundeszentralregister alle Straftaten und selbst Informationen über eingestellte Strafverfahren registriert werden, die mir nur mit einer ganz besonderen Erlaubnis des Datenschutzbeauftragten zu Forschungszwecken zugänglich waren. Dazu bedurfte es einer komplizierten Datenschutzkonzeption – ich selbst habe die Namen niemals gespeichert.
Man muss auch wissen, dass Daten gelöscht werden, wenn fünf Jahre keine neue Meldung hinzukommt. Für eine langfristige Rückfallstudie hätte es deshalb nicht genügt, einfach zehn oder zwölf Jahre abzuwarten und dann die mehr als 300 Fälle abzufragen, denn dann hätte man über alle Rückfälle direkt nach der Entlassung nichts mehr erfahren, wenn der Straffällige anschließend fünf Jahre rückfallfrei geblieben wäre. Deshalb habe ich alle vier Jahre abgefragt, sodass ich alle Fälle erfasst habe. Und ich habe genau differenziert: Welche Art von Rückfalldelikt nach welcher Art von Anlassdelikt. Wie einschlägig war das Delikt? Kam es nur zu einer Geldstrafe, einer zur Bewährung ausgesetzten Strafe, die meistens dann nicht zu erheblich war, oder wirklich zu einer neuen unbedingten Freiheitsstrafe und einer erneuten Inhaftierung in Strafhaft.
Nach einem Jahr waren etwa 12 % erneut zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt und ein Drittel wegen irgendetwas verurteilt – das waren oft Ladendiebstähle, Fahren ohne Führerschein oder Schwarzfahren. Ein Jahr später waren es schon 26 % mit unbedingten Freiheitsstrafe und insgesamt mehr als 50 % mit Verurteilungen. All die Studien, die jetzt den Erhebungszeitraum beenden und den Abschlussbericht schreiben, erfassen nur einen kleinen Teil der Realität. Denn die Quoten stabilisieren sich erst etwa nach dreieinhalb bis vier Jahren, also 40 Monaten. Dann sind etwa 38 % erneut zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt und 70 % irgendwie verurteilt. Diese Quoten steigen dann kaum noch – und wenn sie sieben, acht, neun oder zehn Jahre nach der Haftentlassung noch minimal ansteigen, weiß man nicht, ob dieser Anstieg größer ist, als in der Durchschnittsbevölkerung.

alice online:  Warum zeigen sich neue Delikte häufig erst nach drei Jahren?
Prof. Dr. Heinz Cornel: Zunächst muss man darauf hinweisen, dass direkt nach der Haftentlassung manche Hilferessourcen ganz gut funktionieren (Haftentlassenenhilfe, Übergangsmanagement, Bewährungshilfe, Angehörige), weshalb es subjektive Hoffnungen auf einen Neustart gibt. Wenn dann doch ein neues Delikt begangen wird, dauern die polizeilichen Ermittlungen, das Anklageverfahren, das Hauptverfahren und die Erstellung des Urteils. Erst danach teilt die Geschäftsstelle des Gerichts die Verurteilung dem Bundeszentralregister mit. Es gab durchaus schon Verurteilungen nach zwei und vier Monaten – aber so richtig ging es erst nach 16 Monaten los, da gab es einen kleinen Sprung. Aber auch 3 Jahre sind realistisch – vor allem bei schweren Rückfällen mit aufwändigen Strafverfahren.

alice online:  Wie ermitteln Sie den sozialen Hilfebedarf?
Prof. Dr. Heinz Cornel: In dieser Studie habe ich keine qualitative Erhebung zum Hilfebedarf der Haftentlassenen durchgeführt. Aber in einer ganzen Reihe von anderen Studien habe ich dazu Betroffene in der Untersuchungshaft, Strafhaft und nach der Haftentlassung, Bewährungshelfer und Bewährungshelferinnen, freie Träger der Straffälligenhilfe, Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen im Justizvollzug und bei bezirklichen Sozialämtern befragt sowie neu installierte Hilfeprojekte wissenschaftlich begleitet und so erfasst, welche Hilfen von wem angenommen werden.
Ich habe aber zu jedem der 309 Fälle auch die Sozialbiografie und Legalbiografie erhoben. Im Jahr 2004 habe ich jede Woche in den Vollzugsgeschäftsstellen der Jugendstrafanstalten in Berlin und Brandenburg jede einzelne Gefangenenpersonalakte mit den Berichten der Jugendgerichtshilfe, den Urteilen sowie alle Informationen über die Zeit der Strafvollstreckung ausgewertet. Ich habe Daten über die Verschuldung, Sucht und persönlichen Kontakte, über den Bildungsweg sowie schulische und berufliche Ausbildung sowie Arbeiten während der Haftzeit und kann diese mit der Rückfälligkeit, deren Intensität und Zeitpunkt korrelieren. Damit lässt sich durchaus etwas darüber sagen, was eher gelungen war und was nicht, wer bessere und wer schlechtere Chancen hat.

alice online: Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit Jugendlichen ein langfristiger Ausstieg aus kriminellen Karrieren gelingt?
Prof. Dr. Heinz Cornel: Inhaftierte und Haftentlassene sind so vielfältig und unterschiedlich wie Sie und ich – und was können wir schon prognostizieren über unser Leben in zwei, fünf oder zehn Jahren? Vor allem wenn wir uns noch in der Spätadoleszenz befänden, eventuell sogar mit einigen Reifeverzögerungen. Zunächst mal muss man festhalten, dass der Normalfall der Ausstieg aus der kriminellen Karriere ist. Auch mehrfach vorbestrafte schwere Gewalttäter werden in ihrer Mehrheit nicht wieder einschlägig rückfällig. Das sieht ein wenig schwieriger aus, wenn eine schwere Suchterkrankung das Leben bestimmt – aber auch dann gibt es noch viele Aussteiger, oft erst beim dritten, vierten oder fünften Versuch.
Manchmal sind gar nicht so große persönliche und materielle Hilfen notwendig, sondern eher eine Begleitung bei problematischen Übergängen. Der junge Mann findet sich beispielsweise zurecht und bleibt straffrei solange er im Elternhaus wohnt, zur Schule geht oder einen Ausbildungsplatz hat, aber wenn etwas wegbricht, ist er orientierungslos und gerät in Krisen. Soziale Arbeit kann helfen, solche Übergänge zu gestalten. Wichtig ist es, die vorhandenen Ressourcen zu mobilisieren und Hilfen kontinuierlich zu leisten. Zur kontinuierlichen Hilfe gehört die Rollenklarheit, damit nicht als Hilfe verkauft wird, was letztlich Repression ist. Es braucht Ressourcen, die sicherstellen, dass solche Hilfen auch flächendeckend und niederschwellig vorhanden sind. Letztlich bedarf es dazu einer gesetzlichen Grundlage, eines Resozialisierungsgesetzes, für das ich mich seit langem einsetze. Ich habe im vorletzten Jahr mit vier Kolleginnen und Kollegen einen Diskussionsentwurf eines solchen Gesetzes mit Begründung erstellt, der in vielen Bundesländern diskutiert wird. Darin geht es um die Menschenrechte der straffällig gewordenen Personen, um ihre Ansprüche auf Hilfe. Darin werden 16 Hilfeformen entwickelt und Organisationsstrukturen, die dafür sorgen sollen, dass ein langfristiger Ausstieg aus kriminellen Karrieren möglich ist.

alice online: Wie sieht Ihr aktuelles Zwischenergebnis aus?
Prof. Dr. Heinz Cornel: Betrachtet man die Rückfallquote, die tatsächlich mit dem bekannten Drehtüreffekt zurück ins Gefängnis führt, sind es nicht 80 % sondern etwa 40 %. Das ist immer noch viel, zumal wenn man weiß, dass ohne Haftstrafen oder bei kürzeren Haftstrafen, mehr resozialisierende Hilfen oder mehr offenem Vollzug die Quote niedriger wäre. Oft gelingt es im zweiten Anlauf. Keinesfalls darf man annehmen, dass die Biografie des rückfälligen Zwanzigjährigen schon zu prognostizieren sei. 40 % von 40 % sind 16 % - so bleiben 84 % ohne Rückfall, der in den Strafvollzug führt. Das mag hier etwas zu schematisch gerechnet sein – soll aber etwas von der Gewissheit nehmen, mit der manche meinen, sie könnten sichere Prognosen stellen, wo sie doch nur weiter stigmatisieren und ausgrenzen.