In der ‚Nacht der Solidarität‘ am 29./30. Januar 2020 wurden bundesweit erstmalig wohnungslose Menschen im öffentlich zugänglichen Raum gezählt. 615 Zählteams mit insgesamt 2.601 Freiwilligen waren in dieser Nacht zwischen 22 Uhr und 1 Uhr auf den Straßen Berlins unterwegs. Ziel der Zählung war es, erstmalig valide Zahlen zu erhalten, nachdem sich Schätzungen über wohnungslose Menschen auf der Straße – meist ohne jede seriöse Grundlage – zwischen 2.000 und 20.000 Betroffenen bewegten. Die erhobenen Daten sollen die Entwicklung einer Strategie zur Überwindung von Straßenwohnungslosigkeit ermöglichen und Basis für eine verbesserte Ausrichtung des Hilfesystems an den Bedürfnissen der Betroffenen sein. Für mich persönlich war die ‚Nacht der Solidarität‘ eine der aufregendsten Erfahrungen meines bisherigen Berufslebens – obwohl ich an der Erhebung selbst gar nicht als aktives Mitglied eines Zählteams teilgenommen habe.[1] Als Mit-Initiatorin der Zählung, die als ein Teil einer dreistufigen Wohnungsnotfallstatistik für Berlin entwickelt wurde, war ich in dieser Nacht bei der Pressekonferenz in der Bahnhofsmission am Zoo und gab neben dem Regierenden Bürgermeister, der Sozialsenatorin und weiteren Beteiligten rund 20 Interviews in Fernsehkameras und Mikrofone der zahlreich erschienenen Medienvertreter_innen. Gegen 0:30 Uhr am 30.01. fuhr ich dann noch in das Projektbüro bei der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, wo wir um 2 Uhr morgens erleichtert auf die Information „Keine Vorkommnisse, alle Zählbüros sind jetzt geschlossen“ anstießen.
Im Vorfeld hatte es massive Kritik von Betroffenenvertretungen gegeben („Wohnungen statt Zählung“, „menschenunwürdig“), auf der anderen Seite hatten viele wohnungslose und ehemals wohnungslose Menschen das Verfahren mit entwickelt bzw. unterstützt. Diese Debatte wird – zu Recht! – auch die Auswertung des Verfahrens und die Interpretation der so erhaltenen Zahlen mitbestimmen.
„Es war sehr besonders, vom ersten Augenblick an. Unser Team traf auf einige Obdachlose, von denen uns eine nach anfänglichem Misstrauen und äußerst coolen Sprüchen sehr offen über ihre Geschichte berichtete – eine junge Frau mit Hund, seit elf Jahren auf der Straße. Diese persönliche Begegnung ging sehr nahe und eröffnete mir ein irgendwie „näheres“ Gefühl gegenüber Obdachlosen in der Stadt und einen anderen Blick.“ (Mitarbeiterin der ASH Berlin)
Die ASH hat sich mit vielen Freiwilligen beteiligt
Viele ASH-Studierende, u. a. aus zwei meiner Seminare (1. und 6. Semester), haben als Freiwillige an der ‚Nacht der Solidarität‘ teilgenommen, aber auch Lehrende und Mitarbeiter_innen haben mitgezählt. Darüber hinaus hat die Hochschulleitung die ASH Berlin als ein Zählbüro für den Bezirk Marzahn-Hellersdorf zur Verfügung gestellt.
In den Auswertungen zur ‚Nacht der Solidarität‘ haben die Studierenden aus meinen beiden Seminaren sehr differenzierte Rückmeldungen zur Organisation, Durchführung, aber auch ihrer Einschätzung einer solchen Zählung gegeben: „Gut organisiert, gute Absprachen, interessantes Team“, so fasste ein_e Student_in die Eindrücke zusammen.
„Das Gefühl, als eines der zahlreichen Teams nachts allein loszuziehen, war irgendwie irre (Solidarität)!“ (Student_in der ASH Berlin)
„Viel Herzlichkeit im Zählbüro“ erlebte ein_e weitere_r Student_in, aber auch von langen Wartezeiten vor dem eigentlichen Start und mangelhaften Informationen wurde seitens der Studierenden aus anderen Teilen der Stadt berichtet. Die meisten von ihnen waren sehr angetan von ihren aus ganz unterschiedlichen Menschen zusammengewürfelten Teams, ein_e Student_in hat allerdings auch eine „diskriminierende Praxis, ähnlich racial profiling“ während der Zählung erlebt.
„Mich haben die große Anzahl an Freiwilligen in den Teams und die Freundlichkeit der angetroffenen obdachlosen Menschen sehr beeindruckt.“ (Professor_in der ASH Berlin)
Ein_e Student_in „hätte es schön gefunden, wenn wir [den wohnungslosen Menschen, SG] einen Tee oder Kaffee hätten anbieten können, als kleines Dankeschön“.
Als Beraterin der Senatsverwaltung für die Wissenschaftlichkeit des Verfahrens kann ich heute schon sagen: Verbesserungspotenzial bei der Organisation gibt es natürlich, aber sowohl in der Planung als auch in der Durchführung wurden alle Standards sozialwissenschaftlicher Forschung eingehalten, inklusive ihrer ethischen Richtlinien.[2] Die nächste Zählung soll im Frühjahr/Sommer 2021 erfolgen, um die Entwicklung der Zahlen im Zeitverlauf und unter anderen Witterungsbedingungen beobachten zu können. Ergänzt werden sollen die Ergebnisse der Straßenzählungen zudem mit regelmäßigen Erhebungen bei den niedrigschwelligen Hilfeangeboten freier Träger, sodass auch (dem Hilfesystem bekannte) couchsurfer erfasst werden können sowie Menschen, die beispielsweise in Kellern oder auf Dachböden nächtigen.
Erste Ergebnisse der Zählung
Am 07.02.2020 wurden in einer zweiten Pressekonferenz die Ergebnisse der Zählung vorgestellt: Insgesamt wurden 807 auf der Straße lebende Menschen angetroffen. Darüber hinaus wurden 1.169 Menschen in den Notübernachtungen, U- und S-Bahnstationen sowie Rettungsstellen der Krankenhäuser gezählt. In vielen Zählteams wurde niemand auf der Straße angetroffen: „Kein einziger Obdachloser* in Sichtweite“ (Student_in der ASH Berlin). Es wird vermutet, dass sich einige Betroffene versteckt haben, weil sie Angst vor Konsequenzen wie dem Verrat ihrer Schlafplätze hatten: Die Zählung war aus ethischen Gründen etwa vier Wochen vorher über mehrsprachige Plakate in den niedrigschwelligen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe angekündigt worden. Die Gesamtzahl von 1.976 Gezählten sowie ihre Zusammensetzung nach Geschlecht, Alter, Nationalität, Dauer der Wohnungslosigkeit, aber auch ihr Zusammenleben auf der Straße mit anderen Menschen und Haustieren wird nun weiterhin die Praxis, Betroffene, Politik und Wissenschaft beschäftigen.[3] So muss aus meiner Sicht dringend (mehr) aufsuchende und muttersprachliche Beratung für die auf der Straße lebenden Menschen aus anderen EU-Staaten geleistet werden, und auch den auf der Straße angetroffenen Paaren und Menschen mit Haustieren müssen adäquate Unterkunftsangebote gemacht werden. Qualitative Studien zu den Gründen der Nicht-Nutzung vorhandener Angebote sind erforderlich. Last but not least muss das Ziel natürlich sein, das Menschenrecht auf Wohnen umzusetzen, d. h. bezahlbaren Wohnraum auch für ökonomisch und sozial benachteiligte Menschen zu schaffen. Ein in Berlin zurzeit erprobter und von der ASH Berlin evaluierter Ansatz ist das Konzept ‚Housing First‘, mit dem wohnungslose Menschen mit multiplen Problemlagen bedingungslos in mietvertraglich abgesicherten Wohnraum vermittelt werden und parallel Unterstützung nach ihren eigenen Bedürfnissen und Prioritäten angeboten bekommen.
Zum Weiterlesen: Exemplarische Berichterstattung in den Medien inklusive Informationen über das Verfahren, die Ergebnisse und die Einschätzungen der unterschiedlichen Akteur_innengruppen
Beitrag im Deutschlandfunk
Beitrag im Tagesspiegel
Beitrag im der Zeit
[1] Meine Erfahrungen bei der Zählung 2019 in Paris siehe alice Nr. 37, S. 94-95.
[2] Für Interessierte die vollständige wissenschaftliche Einordnung der Daten zum Nachlesen: www.ash-berlin.eu/hochschule/presse-und-newsroom/news/news/nacht-der-solidaritaet/
[3] Näheres zu den Ergebnissen siehe www.berlin.de/nacht-der-solidaritaet/ergebnisse/