Was machen Sie gerade beruflich?
Weil ich sowohl der Praxis der Sozialen Arbeit, als auch der Wissenschaft und Forschung viel abgewinnen kann, versuche ich meist beides beruflich umzusetzen. Ich arbeite derzeit als Sozialarbeiterin in einer 24h betreuten Mädchenwohneinrichtung für Mädchen* und junge Frauen* im Alter von 14-21 Jahren, die in besonders schwierigen Lebenslagen stecken, die unter anderem von (sexualisierter) Gewalt betroffen sind oder andere traumatische Erfahrungen machen mussten. Zusätzlich arbeite ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin gemeinsam mit Prof. Dr. Regina Rätz und Prof. Dr. Hans-Ullrich Krause aktuell an der Realisierung des Forschungsprojektes „Hört mir denn Keiner* zu!? Kinder als Akteure ihres Lebens verstehen. Beteiligung durch Gespräche mit Kindern in den Hilfen zur Erziehung". Wir hoffen auf eine zeitnahe umfängliche Förderung. Nebenbei haben wir auch ein Fortbildungsprogramm zum Thema „Beteiligung durch Gespräche“ konzipiert, welches sowohl bei freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe als auch bei Jugendämtern in Berlin von uns umgesetzt wird.
Wo liegt Ihr Forschungsschwerpunkt?
Im Zuge meiner Forschung versuche ich mithilfe biographisch narrativer Interviews mit Kindern im Alter zwischen 9 und 14 Jahren die Perspektiven von in der stationären Kinder- und Jugendhilfe lebenden Kindern und Jugendlichen auf ihre Lebenswelt und die „Heimunterbringung“ zu rekonstruieren. Dabei lege ich zwei Schwerpunkte. Es geht mir zum einen darum zu beweisen, dass auch schon Kinder dazu in der Lage sind selbststrukturierte biografische Erzählungen und biografische Ereignisse zu reflektieren, was ihnen in der Fachliteratur häufig noch abgesprochen wird. Obwohl Kinder seit über drei Jahrzehnten vermehrt als Expert_innen ihrer Altersspanne und Lebenswelt angesehen werden, wird noch sehr häufig über sie, statt mit ihnen gesprochen. In der qualitativen Interviewforschung und in der Biographieforschung im speziellen, werden Kinder weitgehend außen vorgelassen und als unzureichende Informant_innen aus Forschungsvorhaben ausgeschlossen, dass möchte ich gerne anders machen. Zum anderen finde ich es sehr wichtig, dass Kinder und Jugendliche, als Adressat_innen und Hauptakteur_innen der stationären Kinder- und Jugendhilfe gehört werden, denn nur sie können uns sagen, wie ihre Lebenswelt und ihr Alltag gestaltet sein muss, damit sie zufrieden, selbstbestimmt, möglichst frei von Diskriminierung und Stigmatisierung gut aufwachsen können. Wenn wir ein Umfeld schaffen wollen, in dem Kinder und Jugendliche auch außerhalb ihrer Herkunftsfamilie ein Zuhause finden können, müssen wir meiner Meinung nach die Kinder fragen, wie wir das als Fachkräfte machen können. Wir müssen unsere konzeptionellen Überlegungen und unsere sozialpädagogische Praxis auf ihre Bedürfnisse hin ausrichten und ihnen zuhören, wenn sie uns von ihren Perspektiven erzählen. Ich möchte dem adultistischen Blick auf Kinder, sowohl in der Forschungslandschaft als auch in der sozialpädagogischen Praxis, gerne etwas entgegensetzen. Ich habe auch vor zu diesem Thema und mit dieser Forschungsmethode zu promovieren, es gibt aber noch keine konkreten Pläne. Ich weiß aber, dass ich weiter biographisch narrativ gemeinsam mit Kindern forschen möchte. Ich denke nämlich nicht, dass ich Kindern durch meine Forschungsbemühungen erst eine Stimme geben muss, meine Aufgabe sehe ich eher darin, ihnen aufrichtig interessiert zuzuhören.
Warum haben Sie sich mit dem Thema Gespräche mit Kindern auseinandergesetzt?
In meiner langjährigen Praxis habe ich immer wieder erlebt, wie intersektional diskriminierend Erwachsene mit Kindern umgehen, ich habe dabei sehr häufig adultistische Praxen beobachtet und eine gleichzeitige Unbeholfenheit der Erwachsenen (Fachkräfte) mit Kindern zu sprechen. Ich habe erlebt, wie Kindern nicht zugehört, ihnen über den Mund geredet und sie übergangen werden, mit dem anschließenden Fazit: Das Kind hatte leider nichts zu sagen. Auch im Hilfesystem der Kinder- und Jugendhilfe sind die Perspektiven der Kinder auf ihren Lebensort noch stark unterrepräsentiert und finden nur an wenigen Stellen Beachtung. Die Kinder sind von Adultismus betroffen, Erwachsene treffen Entscheidungen für ihr zukünftiges Leben, sie werden über diese oft nur unzureichend aufgeklärt und nur dürftig informiert – von einer aktiven Teilhabe am Hilfeplan mal ganz abgesehen, diese geschieht noch seltener. Das fängt im Kleinen in alltäglichen Situationen an, wird aber richtig brenzlich und wichtig, wenn es um so schwerwiegende Fragen wie Kinderschutz und Inobhutnahmen geht. Das wollte und will ich gerne verändern. Wir müssen dringend anfangen so mit Kindern zu sprechen, dass wir sie zu Wort kommen lassen und ihre Wahrnehmungen respektiert und wertgeschätzt werden. Ideen, wie Kinder als Subjekte zu behandeln und anzuerkennen, gibt es schon sehr lange, werden im Alltag und auch in der (sozial-)pädagogischen Praxis aber nach wie vor nicht immer umgesetzt. Vor allem, wenn es um die Gesprächsführung geht, werden Kinder meist noch sehr defizitär betrachtet, als werdend und unvollständig, als mangelhafte Erwachsene, die nicht wüssten was gut für sie ist. Einfach weil sie Kinder sind und wir die Erwachsenen, weil dies unsere gesellschaftliche Konstruktion von Kindheit ist. In meiner beruflichen Praxis habe ich jedoch sehr oft erlebt und in meiner Forschung auch bewiesen, dass Kinder sehr wohl eine eigene Perspektive auf ihre Lebenswelt haben und sehr genau wissen, was gut für sie ist. Und ich habe erlebt, dass Kinder sehr engagiert dazu bereit sind, ihre Perspektiven mit uns zu teilen. Wir müssen sie nur erzählen lassen und nicht schon die Fragen vorab selbst beantworten, die wir eigentlich den Kindern stellen müssten.
„Ganz selbstverständlich unterbrechen wir Kinder, wenn sie spielen oder sprechen, wollen aber selbst ausreden und bei der Arbeit nicht gestört werden.“
Wo liegen die typischen Probleme bei Gesprächen mit Kindern?
Wie eben schon angesprochen, werden die Perspektiven von Kindern auf ihre Lebenswelt meist gar nicht ernst genommen, belächelt oder heruntergespielt. Ganz selbstverständlich unterbrechen wir Kinder, wenn sie spielen oder sprechen, wollen aber selbst ausreden und bei der Arbeit nicht gestört werden. Unsere Wahrnehmung ist meist per se richtig und die der Kinder wird schnell infrage gestellt. Oft amüsieren wir Erwachsenen uns, wenn Kinder sich verhaspeln, verniedlichen die Sprache des Kindes oder ahmen es sogar nach, wir negieren die Meinung des Kindes und stellen unsere Perspektive als die einzig richtige dem gegenüber. Das ist eine ziemlich paternalistische und adultistische Praxis mit Kindern umzugehen, die ein Machtgefälle reproduziert, welches auch die Kinder wahrnehmen und verinnerlichen, was ein Gespräch auf Augenhöhe fast unmöglich macht. Auch die Kinder haben diese Machtungleichheit bereits früh internalisiert und stabilisieren die Macht der Erwachsenen durch das Einfügen in die Verteilung von Rechten, Pflichten und Ressourcen. Dies zeigt sich in Gesprächen häufig daran, dass Kinder zu sozial erwünschten Antworten neigen, mögliche Erwartungen der Erwachsenen erfüllen wollen und sich am Relevanzsystem des erwachsenen Gegenübers orientieren. Ein ganz natürliches Phänomen innerhalb von Macht und Herrschaft, welches Pierre Bourdieu als Komplizenschaft bezeichnet. Es braucht auf beiden Seiten Akteur_innen, welche die vorherrschenden Machtstrukturen annehmen und reproduzieren. Gespräche zwischen Kindern und Erwachsenen können also niemals ohne das Machtgefälle der generationalen Ordnung gedacht werden, in welches diese immer eingebettet sind. Die generationale Ordnung beschreibt dabei die Einteilung einer Gesellschaft in jüngere und ältere Generationen und ein daraufhin legitimiertes Machtungleichgewicht innerhalb einer Gesellschaft. Es muss aus der Sicht eines Kindes wahnsinnig schwer sein, die eigenen Bedürfnisse zu kommunizieren und sich frei zu äußern, vor allem wenn es darum geht einer erwachsenen Person zu widersprechen und bei der eigenen Wahrnehmung zu bleiben.
Was machen Erwachsene oft falsch?
Wir reden meist von oben herab, auch körperlich, stellen unsere Aussagen und Wahrnehmungen über die des Kindes, üben so bewusst oder unbewusst Macht aus und projizieren unsere eigenen Bedürfnisse und Bilder auf das Kind uns gegenüber. Auch trauen wir Kindern häufig Gespräche über schwierige Themen nicht zu, verheimlichen ihnen aus einem vermeintlichem Schutzgedanken heraus wichtige Aspekte ihres Lebens, so bleiben Kinder oft auch bei sie betreffenden Themen außen vor und uninformiert, was eine eigene selbstbewusste Entscheidung auf Grundlage aller Fakten sehr schwierig macht. Was wiederum dazu führt, dass wir Erwachsenen Kinder gar nicht erst Fragen oder miteinbeziehen, sondern für sie entscheiden oder mehr über statt mit ihnen reden. Auch haben die Kinder in meiner Forschung mitgeteilt, dass ihnen oft gar nicht erst zugehört wird, sie waren alle überrascht, dass ich mir als erwachsene Person so viel Zeit nehme mit ihnen zu sprechen, dass ich ihre Perspektive überhaupt interessant und wichtig finde. Das ist schon sehr bemerkenswert finde ich. Die von mir befragten Kinder erleben sich in ihrem Alltag also gar nicht erst als gleichwertige Gesprächspartner_innen.
„Wir müssen unser defizitorientiertes Bild vom Kind hinterfragen und im besten Falle verändern.“
Was können Erwachsene besser machen?
Zuallererst möchte ich alle Erwachsenen dazu anregen die eigenen Privilegien und Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, welche wir gegenüber Kindern und innerhalb der generationalen Ordnung haben und in Begegnungen mitbringen. Unsere eigenen Machtstrukturen zu erkennen und unser Verhalten daraufhin zu überprüfen, wie wir bewusst oder unbewusst Macht ausüben um beispielsweise unseren Willen, unsere Wahrnehmung oder unsere Perspektive durchzusetzen, ist ein erster wichtiger Schritt, um Kindern auf Augenhöhe in einem Gespräch zu begegnen. Wir müssen unser defizitorientiertes Bild vom Kind hinterfragen und im besten Falle verändern. Dann können wir auch ganz konkret erst einmal ganz kleine Sachen in unseren Begegnungen verändern, um Gespräche gleichberechtigter zu gestalten. Wir können auch körperlich auf Augenhöhe gehen, uns hinhocken, Kinder ausreden lassen und das was wir an Gesprächscodes von ihnen erwarten auch selbst einhalten. Wir sollten beispielsweise aufhören die Sätze des Kindes zu beenden, wenn es uns zu lange dauert. Auch ein Weg Machtverhältnisse aufzubrechen ist es eigene Fehler offen anzusprechen und Kindern gegenüber zuzugeben. Wenn ich mal nicht die Geduld oder die Zeit habe ausführlich zuzuhören, ist das mein Problem oder ein strukturelles, aber sicher nicht die Schuld des Kindes. Das kann ich dem Kind gegenüber ganz offen sagen. So fühlt es sich auch wertgeschätzt, wenn ich keine Zeit habe und wird nicht verunsichert, weil ich ständig auf die Uhr gucke und ungeduldig werde, wenn das Kind eigentlich gerade mit mir sprechen möchte.
Wie gelingen gute Gespräche mit Kindern?
Suggestivfragen sollten vermieden werden, weil die gewünschte Antwort in diesen schon implizit ist, auch Ja-Nein Fragen führen meist nicht wirklich zu einem flüssigen Gespräch und sind an den Konstruktionen der fragenden Person ausgerichtet. Offene Fragen, die Kinder zu Erzählungen ermutigen, eignen sich da schon viel eher, um die Perspektive eines Kindes zu erfahren. Wenn wir beispielsweise herausbekommen wollen, ob ein Kind Gewalt erlebt, können wir es fragen und das Kind kann mit „ja“ antworten. Wir wissen dann aber nicht, worunter das Kind konkret leidet, was es erlebt. Wir haben dann eher unsere eigenen Bilder zu Gewalt im Kopf, die stark von der Realität des Kindes abweichen können und fragen dann an unseren Konstruktionen orientiert weiter nach, meist mit weiteren Ja-Nein Fragen. Wenn wir das Kind aber ermutigen von gewalttätigen Situationen zu erzählen, dabei benutze ich ganz bewusst das Wort „erzählen“, bekommen wir selbststrukturierte Erzählungen, Geschichten und konkrete Bilder von Ereignissen, die sich ausschließlich an den Relevanzen und dem Erleben des Kindes orientieren. Das Kind teilt die eigenen Erfahrungen und Bilder zur belastenden Situation mit uns und wir bekommen einen Einblick in die Lebenswelt und Perspektive des Kindes. Kinder sind die Expert_innen ihrer Biografien, ihres Erlebens und ihrer Bedürfnisse, es muss nur ein Umfeld geschaffen werden, dass Kinder als Expert_innen auch anerkennt und ernst nimmt. Es muss eine Gesprächspraxis implementiert werden, in der nicht paternalistisch über Kinder geredet und entschieden wird, sondern in der Erwachsene interessiert zuhören und die tiefgründigen und differenzierten Perspektiven der Kinder anerkennen und wertschätzen. Wir müssen meiner Meinung nach eine Dialogkultur außerhalb der herrschenden Machtverhältnisse entwickeln, in der Kinder sich auch trauen den Erwachsenen gegenüber ihre Bedürfnisse und Wahrnehmungen mitzuteilen. Schon Bell Hooks hat angemerkt, dass Kinder viel zu häufig bestraft werden, weil sie ehrlich auf die Fragen von Autoritätspersonen antworten. Das sollte sich endlich ändern!
Sarah Rüge
Nach einer Erzieher_innenausbildung arbeitete sie viele Jahre in der Kinder- und Jugendhilfe, unter anderem im stationären Bereich. Neben ihrer Berufstätigkeit studierte sie 2014 bis 2018 den Bachelor Soziale Arbeit an der ASH Berlin und anschließend in Vollzeit den Master Praxisforschung in Sozialer Arbeit und Pädagogik, den sie im Frühjahr 2021 abgeschlossen hat. Beim Bundesweiten Methodenworkshop des Netzwerk Rekonstruktive Soziale Arbeit hat sie am 15. September 2022 an der ASH Berlin einen Workshop zu Gesprächsführung mit Kindern angeboten.