Lesestoff „Menschen wollen unabhängig von ihrem sozialen Status gehört werden“

Interview über die Entstehung von demokratiefernen Einstellungen und Möglichkeiten sozialräumlicher Demokratieentwicklung

Prof. Dr. Heinz Stapf-Finé und Prof. Dr. Michael Brodowski, Ihre Studie über Demokratieentwicklung liegt nun auch in Buchform vor. Wann wenden sich Menschen von der Demokratie ab?

Stapf-Finé: Bei unseren Befragungen haben wir herausgefunden, dass die Menschen zum größten Teil der Idee der Demokratie gegenüber positiv eingestellt sind. Es gibt jedoch Kritik an der derzeitigen Umsetzung. Bei einem Teil, wir nennen sie kritische Demokrat_innen, ist  durchaus ein Potenzial für ein Engagement zur Verbesserung der kritisierten Zustände vorhanden. Bei anderen überwiegt jedoch die Unzufriedenheit oder gar die Passivität. Ein häufiger Grund zur Veränderung der Einstellung ist dabei die Diskrepanz zwischen dem, wie es sein sollte und dem, wie es im Lebensalltag erlebt wird. Der Anreiz, sich zu engagieren, ist, dass es danach wirklich spürbar besser wird. Ist das dauerhaft nicht  mehr der Fall, entfällt dieser Anreiz und die Menschen wenden sich ab. Dabei unterscheiden die wenigsten zwischen sozialem oder gesellschaftspolitischem Engagement. Je besser die Menschen gestellt sind hinsichtlich ihrer Einkommens-, Erwerbssituation und ihres Bildungsabschlusses, desto stärker befürworten sie die Demokratie sowohl als Idee als auch ihre Umsetzung. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass sich diejenigen, die die Erfahrung gemacht haben, dass der Staat bzw. die Politik soziale Sicherungsversprechen nicht oder unzureichend eingehalten haben, eher kritisch der Demokratie gegenüberstehen. Damit steigt übrigens die Anfälligkeit für menschenfeindliche Positionen wie Rassismus oder Antisemitismus, die aber auch unter Demokrat_innen verbreitet sind.

Wie entstehen dann demokratieferne Einstellungen?

Brodowksi: Das Phänomen ist vielschichtig, aber wir konnten einige Faktoren herausarbeiten. Hilfreich ist dabei ein Verständnis von Demokratie als Lebensform, also die Vorstellung, dass demokratisches Verhalten im Alltag eingeübt werden kann. In Bildungseinrichtungen – wir haben das für den Bereich von Sekundarschulen stärker in den Blick genommen – gibt es aber nach wie vor stark hierarchische Strukturen. Dies führt zu einem Gegensatz: Auf der einen Seite formales Demokratielernen, bei dem die Bedeutung der Demokratie betont wird und die Institutionen, also Demokratie als Regierungsform dargestellt werden. Zudem gibt es in der Schule formale Instanzen der Mitbestimmung für Schülerinnen und Schüler. Informell, also außerhalb des offiziellen Lehrplans, wird aber andererseits gelernt, dass das Leben in Schulen eher fremdbestimmt ist und die Mitbestimmung der Schüler_innen, nach den Aussagen der Befragten, nicht allzu weit reicht. Letztendlich erfahren sie eher, dass Engagement häufig am Umsetzungswillen der „Erwachsenen“ scheitert. Der erlebte Widerspruch kann dazu führen, dass der Gedanke vorherrscht, dass Demokratie eben so funktioniert.

Ein anderer wichtiger Punkt ist die Ausgestaltung des vorpolitischen Raums, in dem sich die Menschen im Sozialraum eher zufällig begegnen und Fragen besprechen, die für das Zusammenleben von Bedeutung sind. Der Wegfall oder das nicht ausreichende Vorhandensein von Möglichkeiten zu nachbarschaftlichen Begegnungen wirkt sich nachteilig aus. Hier wird die Bedeutung von Wohnungsbaugesellschaften und –genossenschaften zum Vorhalten entsprechender Orte deutlich. Dabei sind solche Sozialen Orte nicht nur Räumlichkeiten, sondern jegliche Art von Begegnungsmöglichkeiten wie Spielplätze, Parks oder eine Bank im Wuhletal. Zentral sind dabei die Erreichbarkeit und Gestaltbarkeit.

Ein dritter Einflussfaktor ist im Osten Deutschlands bemerkbar. Die Wende- und Nachwendezeit wurde von vielen Menschen als sozialer Abstieg erlebt, viele haben sich auf das Berufsleben konzentriert oder sich im Privatleben eingerichtet. Das Gemeinwesen wird eher als der Raum gesehen, in dem man private Kontakte und Freundschaften schließen und aufrechterhalten kann. Die Gestaltung des Gemeinwesens wird dabei als Dienstleistung von Vereinen und Politik verstanden.

 

„Demokratie als Lebensform, die im alltäglichen Zusammenleben vor allem informell praktiziert wird, wird ganz anders erlebt als formale Demokratie in Versammlungen, Ausschüssen oder Gremien."

 
Wie kann die Bereitschaft erhöht werden, sich zu engagieren?

Stapf-Finé: Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass die Frage, wer eigentlich die „Unerreichbaren“ sind, umgedreht werden muss. Vielfach wird ja behauptet - und das schwingt ja bei der Antwort auf die Frage nach der Entstehung von Demokratieferne möglicherweise mit - sozial Abgehängte seien für Demokratie und Politik schwer erreichbar. Wir haben jedoch herausgefunden, dass die Menschen unabhängig von ihrem sozialen Status gehört werden wollen. Sie haben es jedoch vielfach aufgegeben, weil Verwaltung und Politik für sie schwer erreichbar sind. Demokratie als Lebensform, die im alltäglichen Zusammenleben vor allem informell praktiziert wird, wird ganz anders erlebt als formale Demokratie in Versammlungen, Ausschüssen oder Gremien. Viele der offiziellen Angebote sind eben sehr hochschwellig. Das bedeutet, dass Formen von Bildung und Mitwirkung an der Selbstintention der Menschen ansetzen muss. Was ihnen im Stadtteil wichtig ist, gilt es herauszufinden. Dann ist es nicht Aufgabe der politischen, formalen Demokratie, dies umzusetzen sondern den Weg zu bereiten, dass die Menschen es selbst umsetzten können. Und das können sie, wenn man sie ihre eigenen Wege finden lässt.

Wie sehen direkte Formen der Mitwirkung aus?

Brodowksi: Es gibt nicht das Modell, das auf alle Bereiche übertragen werden kann. Bürgerräte mit zufällig Ausgewählten können gut funktionieren um die Entscheidungsfindung bei Projekten der Stadtentwicklung voranzubringen. Bürgerforen mit interessierten Menschen aus dem Stadtteil, wie wir sie im Rahmen unseres Projektes im Rahmen der Förderlinie „Sozialen Zusammenhalt stärken“ ausprobiert haben, sind eine gute Methode Probleme der Menschen sichtbar zu machen und in den Prozess der politischen Entscheidungsfindung einzubringen. Aber auch wichtige Rahmenbedingungen müssen stimmen: Soziale Orte, Orte der Begegnung im vorpolitischen Raum müssen vorhanden sein. Bildungseinrichtungen müssen Demokratie auch durch Erleben erfahrbar machen. Und auch politische Bildung muss stärker aufsuchend sein, die Landeszentrale für politische Bildung erprobt das derzeit in Kooperation mit Akteuren im Sozialraum bspw. mit Nachbarschaftszentren, die näher an den Menschen dran sind und diese besser erreichen können. Salopp formuliert müsste die Antwort auf die Frage der Anwohnerinitiative, die den Spielplatz neu gestalten will,  - „…was braucht ihr bis wann und wer holt es ab“ – heißen und nicht „…im Herbst können wir auf der BVV über euren Antrag beraten“.

 

Sozialen Zusammenhalt stärken
Entstehung von demokratiefernen Einstellungen
und Möglichkeiten sozialräumlicher Demokratieentwicklung
Michael Brodowski und Heinz Stapf-Finé (Hrsg.)
Verlag Barbara Budrich 2022
393 S., 48 Euro
ISBN: 978-3-8474-2531-1