Worum geht es in dem Forschungsprojekt „Demokratieferne Einstellungen in einer Kommune. Das Beispiel Marzahn-Hellersdorf“?
Raiko Hannemann: In unserem Forschungsprojekt wollen wir demokratieferne, aber auch positive sowie gleichgültige Einstellungen zur Demokratie im Bezirk untersuchen. Wir wollen einen besseren Einblick bekommen in die Welt der Menschen im Bezirk, der ja seit den 1990er Jahren unter einem massiv negativen Image leidet. Marzahn-Hellersdorf (MaHe) wird bis zum heutigen Tage als das Beispiel für eine typische, trostlose ostdeutsche Plattenbaustadt betrachtet. In den Vorurteilen, die bis heute medial reproduziert werden, schwingen kaum überhörbar abwertende Ressentiments gegen „die Ostdeutschen“ und die sog. „bildungsferne Unterschicht“. Die hohe Anzahl an menschenfeindlichen Übergriffen in den letzten Jahren, und noch schlimmer in den 1990er Jahren, haben MaHe zusätzlich das Image eines „Neonazi-Bezirks“ eingebracht. In unserem Projekt wollen wir nun aber, jenseits von Gefühl und Image, genauer hinschauen. Zum Beispiel wissen wir sehr wenig über das sogenannte Siedlungsgebiet im Süden des Bezirks mit seinen Einfamilienhäusern und der deutlich besseren sozialen Situation der Menschen dort.
Sie haben gerade einen Zwischenbericht vorgelegt. Was steht da drin?
Raiko Hannemann: In unserem Zwischenbericht präsentieren wir theorie- und erfahrungsgestützte Arbeitshypothesen, die wir bereits in ersten Testbefragungen von Jugendlichen im Bezirk überprüfen. Wir bewerten zudem die Ergebnisse der Berlin-Wahl vom 18. September 2016. Der Bericht sieht sich als Beitrag zur Forschungsdebatte über die besondere Situation in Ostdeutschland. Er bricht die simplifizierende Aufspaltung in „wenige aufrechte Demokraten“ auf der einen und „viele Demokratiedistanzierte“ auf der anderen Seite auf.
In dem Bericht unterscheiden Sie hinsichtlich des Verhältnisses zur Demokratie sieben Gruppen. Welche sind das?
Raiko Hannemann: Das sind Zufriedene Demokrat_innen, Kritisch-politische und Kritisch-unpolitische Demokrat_innen, Demokratieentfremdete, Demokratiegleichgültige, Rigide Demokratieverdrossene und Demokratiefeindliche. Wir beschreiben diese Gruppen anhand ihres Verhaltens in der Demokratie und anhand ihres emotionalen und kognitiven Verhältnisses zur Demokratie. Diese mehrdimensionale Differenzierung soll sowohl der Zeitgeschichte der letzten 30 Jahre als auch der Bevölkerungsvielfalt im Bezirk gerechter werden als bisherige Forschungen. Sie soll dabei helfen, zielgenauere Maßnahmen zur demokratischen Aktivierung zu formulieren; was am Ende des Berichtes auch geschieht.
Also trotz des frühen Stadiums unseres Projektes haben wir hier, bei aller Vorsicht, etwas vorgelegt, woran man bereits sehr gut in eine Debatte über Demokratie in (Ost-)Deutschland einsteigen kann. Die Stärke des Berichtes liegt in seiner theoriebasierten Interdisziplinarität (u.a. Soziologie, Sozialpsychologie, Sozialarbeitswissenschaften und Zeitgeschichte) und gleichzeitigen Praxisorientierung.
„54 Prozent der befragten Jugendlichen leben gerne oder sehr gerne in Marzahn-Hellersdorf, 63 Prozent schätzen ihre Zukunftschancen gut ein.“
Der Test des Fragebogens erfolgte unter Kindern und Jugendlichen des Bezirks in Jugendfreizeiteinrichtungen. Zu welchen Zwischenergebnissen sind Sie bisher gekommen?
Andrea Metzner: Zunächst einmal überraschte uns die hohe Bereitschaft zur Teilnahme – sowohl seitens der Einrichtungen als auch bei den Kindern und Jugendlichen selbst. Wir haben Fragebögen für die Kinder- und Jugendlichen entwickelt und die Befragung fand jeweils vor Ort in den Jugendfreizeiteinrichtungen (JFE) statt. Ergänzend haben wir auch mit den Mitarbeiter_innen gesprochen. Wir haben bisher nur einen ersten Teil ausgewertet, weil die Datenerhebung noch nicht abgeschlossen ist. Für Vergleiche mit anderen Bevölkerungsgruppen oder Forschungsergebnissen anderer Untersuchungen ist es daher momentan noch zu früh. Es ist aber festzustellen, dass unter den Befragten die AfD weniger erfolgreich ist/wäre, als im Bezirk Marzahn-Hellersdorf insgesamt. Bei einigen Fragebögen sind auch demokratieferne Einstellungen festzustellen, z. B. äußern sich einige gegen geflüchtete Menschen oder gegen Homosexuelle. Aus den Gesprächen mit den Mitarbeiter_innen wurde deutlich, dass demokratiefeindliches Handeln und Sprechen nicht geduldet wird. Hausordnungen aber auch ungeschriebene Regeln tolerieren diskriminierendes Verhalten nicht (direkt oder indirekt). Kommt es dennoch dazu, wird – je nach Situation mit den Jugendlichen geredet aber es können auch (zunächst zeitlich begrenzte) Hausverbote ausgesprochen werden.
Was hat Sie noch überrascht?
Andrea Metzner: Spannend ist, dass fast die Hälfte der Kinder und Jugendlichen (44 %) die Frage, für wen oder was sie sich engagieren, unbeantwortet lassen oder explizit sagen, dass sie sich für nichts/niemanden engagieren. Gleichzeitig haben sie in den JFE sehr viele Möglichkeiten sich einzubringen und tun dies auch. Außerdem gefällt es vielen der Befragten gut in Marzahn-Hellersdorf (54% leben gerne oder sehr gerne hier) und sie blicken optimistisch in die Zukunft (63 % schätzen ihre Zukunftschancen gut ein).
Können Sie die besondere Gruppe der Demokratieentfremdeten näher bestimmen?
Raiko Hannemann: Diese in der Tat besondere Gruppe ist schwer zu bestimmen. Wir vermuten, dass es im Bezirk Menschen gibt, die sich aus verschiedenen Gründen (kränkende Wendeerfahrungen, sozialer Abstieg, Diskriminierung, kulturelle Marginalisierung, alltägliche Kränkungen durch Rassismus, Sozialchauvinismus, Sexismus, Übersehen von Politik, Medien und Verwaltung etc.) ins Private zurückziehen mussten, obwohl sie der Demokratie gegenüber potentiell positiv eingestellt sind. Gegenwärtig treten diese Menschen weder als aktive Demokrat_innen noch als Demokratiegegner_innen in Erscheinung. Sie besitzen eine potentielle Affinität zur Demokratie, leben andererseits aber in Distanz zur demokratischen Praxis. Es haben also in ihren Biografien Entfremdungsprozesse stattgefunden. Einsamkeit spielt hierbei vermutlich eine große Rolle.
Welche Maßnahmen für die besondere Gruppe der Demokratieentfremdeten empfehlen Sie?
Raiko Hannemann: Wir glauben, dass wir die Lebenswege dieser Menschen und ihren Alltag mit dem Staat und der Gesellschaft nachvollziehen müssen, um zu verstehen, wie es zur Entfremdung von der bundesrepublikanischen Demokratie kommen konnte. Wir glauben, dass „das System“ auf diese Menschen zugehen muss, da es sie einst verprellt hat oder noch immer verprellt. Ob die inzwischen seit Jahrzehnten andauernde öffentliche Abwertung Marzahn-Hellersdorfs (im Stile der Cindy aus Marzahn) und die Pauschalisierung der Ostdeutschen als „Demokratieanfänger“ hilfreich ist, kann klar bezweifelt werden. Es gibt im Bezirk ganz spezifisch ostdeutsche Erfahrungen mit persönlichem Engagement und Zivilgesellschaft, mit Aufbruch, Krise und Zusammenbruch. Diese Erfahrungen sollten wahrgenommen, wertgeschätzt und als demokratische Ressource gehoben werden.
Ich denke da besonders an die Generation der heute über 50-Jährigen, die im Marzahner und Hellersdorfer Großsiedlungsgebiet seit der Erbauung in den 70er und 80er Jahren leben.
Was für einen Einfluss hat der Zusammenbruch 1989 auf diese Menschen?
Raiko Hannemann: Es hat 1989, wie in der gesamten DDR, einen ungeheuren demokratischen Aufbruch auch in Marzahn-Hellersdorf gegeben. Dies betraf übrigens auch die Mitglieder der SED oder andere Funktionäre der DDR. Sie haben in der Wendezeit z.T. ganz neue, innovative Formen von demokratischem Engagement in allen Bereichen der Gesellschaft ausprobiert. Hoch motivierte Menschen gingen in die Lokalpolitik und Verwaltung, um alles neu und besser zu machen. Doch dieser Aufbruch brach jäh ab. Die Überstülpung der bundesdeutschen Ordnung (auch auf kommunaler Ebene) und die Abwicklung der DDR-Wirtschaft hatten auch tiefe Spuren in MaHe gezogen. Zu Beginn der 1990er Jahre engagierten sich tausende gegen die Deindustrialisierung Ostdeutschlands – ohne Erfolg. Dieser Absturz, den man nicht beeinflussen konnte, die Ohnmachtserfahrung im neuen System, nachdem man gerade mit Zivilgesellschaft die autoritäre DDR rasant demokratisiert hatte, führte zu hartnäckigem Rückzug und wirkt vermutlich bis heute nach.
Was für Erfahrungen machen die Menschen heute in MaHe?
Raiko Hannemann: Ohnmachtserfahrungen sowie mangelnde Wertschätzung sind auch heute Alltag für viele Menschen. Diese Erfahrungen kann man mit Medien machen oder in den Bürgerämtern oder Jobcentern. Diese Erfahrung macht man auch, wenn Qualifikationen aus der DDR-Zeit oder aus der Zeit in der Sowjetunion nicht anerkannt werden. Es leben in MaHe ca. 30.000 Spätaussiedler, die einst nach Deutschland kamen, durchaus mit großen Erwartungen an die demokratischen Verhältnisse hier. Sie machen heute neben den erwähnten sozialen Abwertungen zusätzlich Erfahrung mit rassistischer Diskriminierung.
„Die Leitmedien sollten ihre Berichterstattung über Marzahn-Hellersdorf selbstkritisch hinterfragen.“
Ich glaube, dass die Demokratieentfremdeten die entscheidende Gruppe sind, die die häufig vermisste Zivilgesellschaft in Ostdeutschland, die bspw. Rechtsextreme zurückdrängt und „nationalbefreite Zonen“ unmöglich macht, wiederbeleben kann.
Dazu lohnt es sich, diese Menschen nicht nur wahrzunehmen, sich z.B. ihre (Leid-)Geschichten anzuhören. Es müssen auch Maßnahmen gegen Diskriminierungen und Kränkungen getroffen werden, auch in den Ämtern. Die Leitmedien sollten ihre Berichterstattung über MaHe selbstkritisch hinterfragen. Dabei sollen rechtsextreme Vorfälle nicht verschwiegen werden. Aber es sollten auch die zahlreichen und seit Jahrzehnten engagierten demokratischen Kräfte im Bezirk wertgeschätzt werden, statt sie zu ignorieren oder zu belächeln, nur weil dies besser ins jahrelang gepflegte Vorurteil passt.
„Den Menschen in Marzahn-Hellersdorf muss eine Chance gegeben werden, wieder mit der Gesellschaft zurechtzukommen, sich wertgeschätzt und wohl zu fühlen.“
Welche Maßnahmen müssen getroffen werden, um die Gruppe der Demokratieentfremdeten zu erreichen?
Raiko Hannemann: Es bedarf einer Erinnerung an den demokratischen Aufbruch um 1989 herum: Welche Formen der Demokratisierung hat es damals gegeben und könnten heute wieder interessant sein? Es bedarf einer kritischen öffentlichen Aufarbeitung der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Abwicklung der DDR-Gesellschaft in den 1990er Jahren. Dies ist auch eine Aufgabe der Forschung und des Journalismus.
Demokratische Parteien sollten selbstkritisch überprüfen, ob in ihren Wahlprogrammen und in ihrer jeweils aktuellen politischen Agenda die Interessen und Bedürfnisse dieser Menschen vorkommen, oder ob man sie überhaupt kennt. Es sollten Formen der Partizipation ermöglicht oder ausgebaut werden, die Selbstwirksamkeitserfahrungen gestatten. Verantwortliche im Bereich Stadtentwicklung sollten immer auch mitbedenken, dass der Abriss eines Gebäudes, den persönlich-emotionalen Erinnerungsraum vieler Menschen zerstören kann. Es sei an den Abriss des Sojus-Kinos für einen Supermarkt am Helene-Weigel-Platz erinnert. Ganz verschiedene Maßnahmen, auf allen politischen Ebenen sind denkbar. Diesen Menschen muss eine Chance gegeben werden, wieder mit der Gesellschaft zurechtzukommen, sich wertgeschätzt und wohl zu fühlen. Sie brauchen ein Gefühl der Sicherheit und sie brauchen schlicht Zeit für demokratisches Engagement. Insofern ist für eine demokratische Zeitpolitik zu plädieren. Unser Bericht gibt zahlreiche weitere Empfehlungen.
Wie sieht es mit der demokratiedistanzierten Gruppe aus?
Raiko Hannemann: Bei Demokratiegleichgültigen, rigiden Demokratieskeptischen und bei Demokratiefeinden gehen wir von einer unterschiedlich ausgeprägten mentalen Distanz zur Demokratie aus. Aus diesem Grunde sind hier spezifische Maßnahmen zu bedenken.
Demokratiefeindlichkeit und Menschenfeindlichkeit sollte in jeder öffentlichen Situation zurückgewiesen und isoliert werden. Es sollte nie der Eindruck entstehen, dass menschenfeindliche Positionen „nur eine legitime Meinungen unter vielen“ seien. Das ist ein Thema, das alle betrifft, die in der Öffentlichkeit agieren: Parteienvertreter_innen, Journalist_innen, etc.
Aber auch andere öffentliche Behörden, wie Polizei und Justiz, können dazu beitragen, Demokratiefeindlichkeit gesellschaftlich zu isolieren. Die Bevölkerung ist vor Demokratiefeindlichkeit und Angriffen zu schützen.
Wie groß ist denn die Gruppe der Demokratiefeinde in MaHe?
Raiko Hannemann: Unsere These ist, dass Demokratiefeinde in MaHe eine kleine Minderheit bilden. Eine Veränderung des gesellschaftlichen Diskurses hin zu einer vermeintlichen Normalität menschenfeindlicher Positionen ist besonders dann gefährlich, wenn andere Gruppen den Eindruck gewinnen, Menschenfeindlichkeit sei nun akzeptabler Mainstream.
Dem können Demokrat_innen im Bezirk bspw. effektiv entgegenwirken, indem sie den öffentlichen Raum besetzen. Eine Belebung des öffentlichen Raumes auch außerhalb von Wahlkampfzeiten kann ein probates Mittel sein.
Wichtig ist es auch, deutlich zu machen, dass Politik etwas mit dem Alltag, mit dem eigenen privaten Leben zu tun hat. Wir vermuten, dass Menschen, die der Demokratie gegenüber gleichgültig eingestellt sind, häufig gar nicht wissen, wie sehr eine demokratische Ordnung ihr Leben (positiv) beeinflusst. Politik sollte nicht als etwas erscheinen, das jenseits des alltäglichen Erlebens „irgendwo in Berlin-Mitte“ von Expert_innen gemacht wird.
„Kurzzeitig öffentlich aufflammender Frust – etwa bei „Pegida“ – wird häufig durch ein unverstandenes Unbehagen verursacht.“
Was empfehlen Sie für die Demokratieskeptiker_innen?
Raiko Hannemann: Bei rigiden demokratieskeptischen Menschen, die von Demokratiefeinden zu unterscheiden sind, ist es schwierig mit sachlichen Argumenten zu überzeugen. Ihr meist kurzzeitig öffentlich aufflammender Frust – etwa bei „Pegida“ – wird häufig durch ein unverstandenes Unbehagen verursacht. Das heißt Emotionen spielen eine große Rolle. Daher ist zu vermuten, dass Maßnahmen hilfreich sind, die Angst, Unsicherheit und Aggression abbauen. Dies ist in der Sozialpolitik ebenso anzugehen, wie in der politischen Bildung und Medienberichterstattung.
Manchmal können bereits infrastrukturelle und ästhetische Verbesserungen im konkreten Sozialraum weiterhelfen. Ein gesellschaftliches Klima, das durch soziale Unsicherheit im „Wettbewerb aller gegen alle“ und durch ständige Krisenberichterstattung geprägt ist, kann negative Folgen für die demokratische Ordnung haben.
Aber auch hier können Selbstwirksamkeitserfahrungen in demokratischen Prozessen äußerst hilfreich sein. (Trügerische) Selbstwirksamkeit bieten nämlich auch undemokratische Akteure an. Daher ist es wichtig, einerseits auf allen Ebenen Kränkungen und Unsicherheit zu vermeiden und andererseits gerade auf lokaler Ebene Angebote zu unterbreiten, die Menschen das Gefühl geben, sie können über ihr Lebensumfeld (mit-)bestimmen. Das gegenteilige Gefühl, fremdbestimmt zu sein, kann bedenkliche Auswirkungen haben.
Welche ersten Empfehlungen haben sie für die Politik zur Zielgruppe der Jugendlichen?
Andrea Metzner: Viele der Befragten interessieren sich kaum für Politik (39 % hat wenig oder gar kein Interesse an Politik) und fast die Hälfte schätzt die eigenen Einflussmöglichkeiten auf die Politik als (sehr) gering ein (46 %). Diese jungen Menschen werden kaum von sich aus mit ihren Wünschen, Sorgen aber auch Ideen auf Politiker_innen zugehen. Um Jugendlichen zu signalisieren, dass die Politik sich auch für ihre Lebenssituation und daraus resultierende Interessen und Bedürfnisse interessiert, müssen Politiker_innen dahin gehen, wo Jugendliche sind (z. B. Bürger_innensprechstunden in den JFE).
„39 Prozent der befragten Jugendlichen hat wenig oder gar kein Interesse an Politik.“
Wie kann das Interesse der Jugendlichen geweckt werden?
Andrea Metzner: Um Jugendlichen ihre Einflussmöglichkeiten deutlich zu machen, sollte ihr Engagement stärker gewürdigt werden. Sie sollen erfahren, dass auch scheinbar kleinere und unspektakuläre Handlungen wie Wände in der JFE streichen, Nachbarschaftshilfe oder eine Sportgruppe leiten anerkennenswertes Engagement sind, welches das Zusammenleben prägt.
Außerdem empfehlen wir Politiker_innen, sich klar gegen rechtextreme und rechtspopulistische Haltungen und Handlungen zu positionieren. In den JFE wird dies über die Hausordnungen und über Gespräche aber auch über Aktionen getan. Unter den Befragten Jugendlichen ist die AfD zwar die zweitbeliebteste Partei (12 %) dennoch liegt das Ergebnis deutlich unter den Wahlergebnissen vom letzten Herbst und keine_r der Befragten gibt an, die NPD wählen zu wollen.
Welche Aufgaben haben Politik und Bildung noch?
Andrea Metzner: Auffällig ist, dass unter den Befragten der Anteil an Demokratiedistanzierten recht hoch ist (52 %). Hier haben Politik und Bildung – schulische und außerschulische – die Aufgabe, jungen Menschen die Vorteile von Demokratie und eigene Einflussmöglichkeiten deutlich zu machen.
JFE leisten hier einen wichtigen Beitrag. Sie sind Orte des Demokratie-Lernens, die auch helfen können, soziale Benachteiligung und Bildungsdefizite ein Stück weit aufzufangen. Die Mitarbeiter_innen, die wir getroffen haben, waren wirklich engagiert. Sie bemühten sich z. B. um eine aktive Einbindung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen, damit diese auch die Angebote der Einrichtungen nutzen können aber auch, um angestammten Besucher_innen Begegnungsmöglichkeiten zu bieten und so zum Abbau von Berührungsängsten und Ressentiments, die durch rechte Propaganda geschürt wurden, beizutragen. Diese wichtigen Aufgaben brauchen natürlich Zeit und Ressourcen – finanzielle und personelle.
„Gute Arbeits- und Sozialverhältnisse für alle Menschen stabilisieren und unterstützen eine Demokratie.“
Welche politischen Schwerpunkte empfehlen Sie noch?
Andrea Metzner: Ein weiterer Schwerpunkt sollten sicher die Zukunftschancen sein. Es ist begrüßenswert, dass die Kinder und Jugendlichen ziemlich optimistisch sind. Dieser Optimismus sollte so wenig wie möglich enttäuscht werden. Junge Menschen sollten also bei der Wahrnehmung ihrer Zukunftschancen Unterstützung erfahren. Soziale Benachteiligung darf dabei nicht aus dem Blick geraten. Es haben nicht alle Kinder und Jugendlichen die gleichen Chancen. Es ist Aufgabe der Politik, hier Ungleichheit zu reduzieren, z. B. durch sozialpädagogische Unterstützungsangebote.
Raiko Hannemann: Ein weiterer wichtiger politischer Schwerpunkt sollte demokratische Zeitpolitik sein. Ich meine damit eine Politik, die Menschen mehr Zeit und mehr Sicherheit sowie persönliche Stabilität für demokratisches Engagement ermöglicht. Die Arbeits- und Sozialpolitik hat hier daher einen zentralen Stellenwert. Gute Arbeits- und Sozialverhältnisse für alle Menschen stabilisieren und unterstützen eine Demokratie.
Wie geht es jetzt weiter im Projekt?
Andrea Metzner: Die nächste große Aufgabe für das Projekt ist die Entwicklung eines Fragebogens, der sich allgemeiner an die gesamte Bevölkerung des Bezirks richtet. Wir wollen herausfinden, ob sich die aus Theorie und vorangegangenen Studien entwickelten Typen wiederfinden lassen, Zusammenhänge untersuchen und mögliche Erklärungen für demokratiedistanzierte aber auch demokratieaffine Haltungen finden. Eine Herausforderung wird es sicher sein, möglichst viele unterschiedliche Menschen dazu zu bewegen, sich an der Befragung zu beteiligen. Später werden wir auch noch (Gruppen-)Interviews führen. Uns interessieren dabei nicht nur demokratieferne Einstellungen, sondern auch, was Menschen dazu bewegt, demokratische Werte zu leben und sich dafür zu engagieren und wie diese Menschen aber auch Institutionen dabei unterstützt werden können. Wir hoffen außerdem, dass wir Möglichkeiten finden, weitere Forschung zu finanzieren, z. B. um zu untersuchen, wie Demokratieförderung in einer Kommune funktionieren kann.
Info-Kasten
Projekttitel: Demokratiefeindliche Einstellungen in einer Kommune. Das Beispiel Marzahn-Hellersdorf
Projektlaufzeit: März 2017 - Dezember 2018
Projektleitung: Prof. Dr. Heinz Stapf-Finé, Prof. Dr. Michael Brodowski
Kooperationspartner: 4K Concept Gesellschaft für Projektentwicklung mbH, Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf
Förderer: Lotto-Stiftung Berlin, Friedrich-Ebert-Stiftung
Kontakt: hannemann@ ash-berlin.eu, metzner@ ash-berlin.eu