Terroranschlag Breitscheidplatz Hand in Hand

Forschung und Organisationsentwicklung bewirken Chancen und Risiken für die Forschungspartner – ein Rückblick auf das Forschungsprojekt zur Psychosozialen Notfallversorgung infolge des Anschlags auf dem Breitscheidplatz

Ein Mann mit einer Weste von PSNVNET steht vor der Treppe der Gedächtniskirche mit Kerzen auf dem Boden
Christian Pérez

Persönliches Vorwort

Auf meiner Internetpräsenz steht seit Beginn meiner Tätigkeit an der ASH Berlin, dass ich „Praxis als Ort der Theorieentstehung und -entwicklung“ verstehe. Ich dachte immer, dass das nichts Besonderes sei, werde allerdings häufiger von Praxispartnern, aber auch von Studierenden darauf angesprochen. Hier möchte ich gemeinsam mit Gabriele Besser Einblick geben, vor welchen Herausforderungen wir als Forschende mit einer solchen Anwendungsorientierung stehen. Frau Besser ist Diplomsoziologin, Supervisorin und Organisationsentwicklerin und war bis 31. März 2020 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im nun beendeten Forschungsprojekt zur Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) infolge des Anschlags auf dem Breitscheidplatz 2016. In dem vom IFAF geförderten zweijährigen Forschungsprojekt arbeiteten wir forschungsseitig eng mit Vincenz Leuschner (Professur für Kriminologie und Soziologie) von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und seiner Wissenschaftlichen Mitarbeiterin Frau Friedericke Sommer zusammen.

Das Umfeld des Forschungsprojekts am Breitscheidplatz

In der Öffentlichkeit hat der terroristische Anschlag am Breitscheidplatz eine herausragende Aufmerksamkeit und infolge Betroffenheit und Anteilnahme erzeugt. Neben den polizeilichen Bemühungen Terroranschläge im Vorfeld zu verhindern, ist es von ebenso großer Bedeutung die Resilienz der Bevölkerung im Falle eines Anschlags zu stärken und funktionierende Unterstützungssysteme für Betroffene vorzuhalten. Hierzu zählt neben den Systemen der polizeilichen und nicht-polizeilichen Gefahrenabwehr, des Rettungswesens und der Notfallmedizin auch das System der PSNV. PSNV umfasst dabei „die Gesamtstruktur und die Maßnahmen der Prävention sowie der kurz-, mittel- und langfristigen Versorgung im Kontext von belastenden Notfällen bzw. Einsatzsituationen.“ (BBK, 2012, 20) In Deutschland wird die PSNV weitestgehend ehrenamtlich organisiert. In den Hilfsorganisationen des Katstrophenschutzes (DRK, Johanniter, ASB etc.) werden dazu Helfer_innen für den PSNV-Einsatz regelmäßig geschult und vorbereitet. In Berlin werden diese Helfer_innen von der Notfallseelsorge/Krisenintervention Berlin (NFS/KI Berlin) als Dachorganisation gebündelt und strukturiert. Die NFS/KI Berlin war der Praxispartner unseres Forschungsprojekts. Diese Netzwerkorganisation ist ein Zusammenschluss von acht Kooperationspartnern, was im Bereich der PSNV in dieser Form einzigartig in Deutschland ist. Die NFS/KI Berlin hatte den Mut uns in ihre Strukturen, ihre Abläufe schauen zu lassen. Wir durften also hinter die Fassade der Organisation blicken.

Das Design des Forschungsprojektes aus wissenschaftlicher Perspektive

Im wissenschaftlichen Diskurs um Anwendungsorientierung in der Forschung befinden sich Forschende auf einem Kontinuum mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Schwerpunktsetzungen (WR, 2020, 11). Im Zuge der Anwendungsorientierung sollten Forschende in der Lage sein, andere Fragen an die Praxis zu stellen und andere Impulse zu geben, um anderes Handeln und andere Strukturen zu ermöglichen. Das verläuft nicht immer konfliktfrei und das Voranschreiten im Projektverlauf muss deshalb kontinuierlich ausgehandelt werden. In unserem Forschungsdesign haben wir Analyse mit Organisationsentwicklung eng verwoben und durchgängig auf ein offenes Forschungsformat gesetzt. Ein solches Verweben von forschender Analyse und Organisationsentwicklung ist jedoch auch risikobehaftet, denn beide Prozesse haben unterschiedliche Tempi und sind schon deshalb nicht einfach aufeinander abzustimmen. Dieses offene Forschungsformat macht auch andere Probleme sichtbar, an die vorher in der Regel niemand gedacht hat.

Forschende begeben sich mit dieser konsequenten Anwendungsorientierung in ein Spannungsfeld, denn über die Erwartungen des Praxispartners hinaus, gibt es diese auch von vorgesetzten Behörden und dem weiteren Umfeld. Manchmal ist es für die Forschenden eine Gratwanderung sich nicht vereinnahmen zu lassen, „die eigene Souveränität und Unabhängigkeit in der Forschung zu wahren.“ (WR, 2020, 22) Zum Ende des Forschungsprojektes stehen wir als Forschende durchaus auch in der Auseinandersetzung zur Frage: Wem gehören eigentlich die Forschungsergebnisse? Manches Wissen, dass man in zwei Jahren forschungsseitig angesammelt hat, ist so sensibel, dass es nicht einfach unkommentiert an Dritte weitergegeben werden kann, sondern dass über geeignete Publikationen und Vortragsformate nachgedacht werden muss.

„Es geht darum, Chancen und Lösungen zu entdecken, Dinge weiterzuentwickeln"


Das Design des Forschungsprojektes aus Praxisperspektive

Die NFS/KI Berlin ist mit ihrer Beteiligung das Wagnis eingegangen, dass sichtbar wird, was vielleicht nicht geklappt hat, was infrage zu stellen ist und in der Organisation eines großen Netzwerks nicht nur rund läuft. Das war eine mutige, selbstbewusste und zukunftsorientierte Entscheidung, die nur auf der Basis von Vertrauen zu treffen ist. Die Organisationsberatung hatte in diesem Sinne auch eine Brückenfunktion zwischen den einzelnen Teilen und Phasen des Forschungsprojekts.

Systemischer Beratung immanent ist, dass kein Bereich der Organisation unberührt bleibt und Veränderung nie ein wirkliches Ende hat, wenn wir ernst nehmen, dass Organisationen lebendige Organismen sind, die ständig in Bewegung sind. Parallel zu dem Forschungsprojekt hatte auch die NFS/KI Berlin selbst kurz nach dem Anschlag eigene Maßnahmen zur Weiterentwicklung und Qualitätssicherung der Organisation gestartet. Diese sind in den Prozess einbezogen worden und werden an manchen Stellen in der Reflexion der Ergebnisse des Forschungsprojekts nochmals eine Veränderung erfahren. Die wertschätzende, nicht wertende Haltung der Forscher_innen und der Organisationsentwicklerin, die Erkenntnis, dass niemand Schuldige und Probleme sucht, sondern es darum geht Chancen und Lösungen zu entdecken, Dinge weiterzuentwickeln, hat die gemeinsame Arbeit sehr entspannt und ausgesprochen produktiv gemacht.

Hinter unsere eigenen Kulissen geschaut oder Warum Kooperation so wichtig ist …

Ein solches Forschungsprojekt stampft man nicht einfach so aus dem Boden. Es bedurfte langjähriger Kooperationserfahrungen zwischen dem Praxispartner und den Forschenden, den forschungsseitig Hauptverantwortlichen untereinander und nicht zuletzt auch zwischen den beiden Autor_innen dieses Beitrags. Gemeinsam haben wir schon einige sensible Qualitäts- und Organisationsentwicklungsprozesse initiiert und begleitet.

Manchmal werden wir gefragt, was denn nun konkret herausgekommen sei?

Dieser Artikel gibt vielleicht eine Idee davon, dass ein gelungener und auf der Basis wissenschaftlicher Untersuchungsergebnisse initiierter Organisationsentwicklungsprozess ein wichtiges und praxisrelevantes Ergebnis ist. Darüber hinaus konnten wir aufzeigen, dass sich ein Einsatz in einer Großschadenslage von einem Alltagseinsatz der PSNV unterscheidet und neue Führungs- und Handlungsstrategien der Psychosozialen Notfallversorgung erfordert, die über die bisher vorgegebenen Strukturen hinausgehen. Die zukünftige Entwicklung einer eigenen psychosozialen Handlungslogik scheint als nächster Entwicklungsschritt erforderlich, die sich von der Logik der Feuerwehr und Polizei unterscheidet und die Potenziale der Zivilgesellschaft stärker einbezieht. Diese hier nur grob skizzierten Ergebnisse werden Gegenstand weiterer und größerer Publikationen sein.

Weitere Informationen zum Forschungsprojekt finden sich auf der Projektwebseite.