Forschung Gender 3.0 in der Schule

Pädagogisches Handeln im Kontext vielfältiger geschlechtlicher Lebensweisen

Verschiedene Aufklber mit verschiedenen Genderflaggen
Mart Busche

Seit 2019 existiert in Deutschland der Personenstand ‚divers‘ als neue Option neben den Geschlechtseinträgen ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ und der Möglichkeit, den Eintrag streichen zu lassen. Wie kann Schule als zentrale Bildungsinstitution angemessen reagieren? Welche Erfahrungen machen trans*, inter*, nicht-binäre, ageschlechtliche und andere Schüler_innen jenseits der Zweigeschlechternorm in der Schule und welche Bedarfe haben sie? Wie kann ein professionelles pädagogisches Handeln konkret aussehen, das von einer Vielfalt an geschlechtlichen Lebensweisen ausgeht und intersektionale Bildungsbarrieren berücksichtigt? Und wie können zukünftige pädagogische Fachkräfte angemessen für ein geschlechterreflektiertes Denken und Handeln qualifiziert werden?

Seit dem Wintersemester 2021/22 kooperiert die ASH Berlin mit der BMBF-Nachwuchsforschungsgruppe „Gender 3.0 in der Schule: Herausforderungen und Handlungsbedarfe im Bereich Lehrkräfteausbildung zur Anerkennung von Gendervielfalt unter besonderer Berücksichtigung des Personenstands divers“. Das unter der Leitung von Tamás Jules Fütty an der Europa Universität Flensburg angesiedelte Forschungsprojekt (2021–2026) untersucht u.a. die aufgeworfenen Fragen. Besondere Berücksichtigung erfährt, dass professionelles Handeln durch zahlreiche Spannungsverhältnisse gekennzeichnet ist. Diese gilt es theoretisch sensibilisiert wahrzunehmen und mit Blick auf das empirische Forschungsdesign wie auf die Konzipierung der (Hoch-)Schulpraxis zu reflektieren. In der Kooperation wird hierzu das von Jutta Hartmann begründete und im IFAF-Forschungsprojekt VieL*Bar u.a. zusammen mit Mart Busche weiterentwickelte Konzept einer Pädagogik vielfältiger geschlechtlicher und sexueller Lebensweisen (vgl. alice Nr. 36 u. Nr. 43) fruchtbar gemacht. Gemeinsam werden Herausforderungen, die durch ein entnaturalisiertes Verständnis geschlechtlicher Vielfalt in pädagogischen Kontexten entstehen – einem Verständnis also, das Geschlecht nicht ahistorisch als naturgegeben, vielmehr als gesellschaftlich-kulturell hervorgebracht begreift –, sowie damit zusammenhängende Spannungsfelder für Forschung und Praxis herausgearbeitet und mit Blick auf eine Vielfalt ermöglichende Bildung für alle hin erörtert.

So ist z.B. die deutsche Sprache binär vergeschlechtlicht und transportiert Ein- und Ausschlüsse. Um Geschlechtervielfalt sprachlich sichtbar zu machen nutzt Gender 3.0 das Akronym TINA+. Dieses benennt Schüler_innen, die sich als trans*, inter*, nichtbinär oder ageschlechtlich begreifen. Mit dem Pluszeichen ist auf weitere mögliche Selbstpositionierungen verwiesen, die nicht konform zur dominanten Zweigeschlechtlichkeit liegen. Es ist wichtig in der Pädagogik, dass geschlechtliche Selbstbezeichnungen in ihrer Vielheit besprechbar und entsprechende Subjektpositionen damit auch lebbarer gemacht werden, sowie gleichzeitig auf deren Unabgeschlossenheit wie dynamischen Wandel zu verweisen. Die Herausforderung liegt darin, einen konstruktiven Umgang mit Überbegriffen wie ‚Geschlechtervielfalt‘ bei gleichzeitiger Anerkennung von Selbstbezeichnungen zu finden und die verschiedenen Konzepte ziel-, kontext- und situationsbezogen durchdacht einzusetzen.
 

„Für die Schule ist es wichtig, alle Kinder und Jugendlichen, die sich jenseits binärer Vorstellungen von Geschlecht positionieren, anzusprechen..."


TINA+-Jugendliche werden in der Schule häufig diskriminiert und durch die zweigeschlechtliche Schulstruktur unsichtbar gemacht. Eine schulische Beschäftigung mit Geschlechtervielfalt wird häufig an ein Outing geknüpft. Dies schreibt die Verantwortung zur Thematisierung den Jugendlichen zu und verkehrt das pädagogische Verhältnis. Gleichzeitig bringt ein einseitiger Forschungsfokus auf Diskriminierungserfahrungen TINA+ lediglich als eine vulnerable Gruppe hervor. Gender 3.0 nimmt die diskriminierenden Erfahrungen von TINA+-Schüler*innen ernst und will zugleich deren Handlungsfähigkeit aufzeigen. Im Projekt werden Zugänge erprobt, die pädagogischen Fachkräften ermöglichen, ihr machtvolles Verstricktsein zu erkennen – z.B. TINA+ als erklärungsbedürftig zu konstruieren. Zudem geht es darum, Handlungspraktiken jenseits heteronormativer Otheringpraxis zu entwickeln – z.B. im Schulalltag selbstverständlich die Vielfalt geschlechtlicher Selbstverständnisse zu adressieren. Um der Strukturierung von Bildung durch Klassismus, Rassismus, Ableismus und weiteren Dominanzstrukturen zu begegnen, werden Mehrfachzugehörigkeiten und verschränkte Bildungsungleichheiten berücksichtigt.

Für die Anerkennung von Geschlechtervielfalt in der Schule ist der Personenstand divers relevant. Dieser ermöglicht zwar eine partielle rechtliche Anerkennung und fordert Pädagogik als Disziplin und Profession heraus. Gleichzeitig stellt ‚divers‘ in der Regel jedoch keine Selbstbezeichnung dar und die Gesetzesergänzung wird u.a. von inter*-Interessensverbänden aufgrund der Attestpflicht kritisiert. Auch wurde versäumt, allen Menschen eine selbstbestimmte Angabe ihres Geschlechts zu ermöglichen und explizit auch trans* und nicht-binäre Selbstpositionierungen zu berücksichtigen. Für die Schule ist es wichtig, alle Kinder und Jugendlichen, die sich jenseits binärer Vorstellungen von Geschlecht positionieren, anzusprechen wie auch all jene, deren geschlechtliches Selbstverständnis mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zwar übereinstimmt, die gleichwohl heteronormativen Zuschreibungen nicht durchgängig entsprechen.

Geschlechterkonzepte und die darin enthaltenen Subjektvorstellungen gilt es – auch im Kontext von TINA+ – konstant kritisch zu hinterfragen z.B. hinsichtlich ihrer impliziten Essenzialismen, Naturalismen, Vorstellung von Kohärenz und Reproduktion von Zweigeschlechtlichkeit. Dafür werden u.a. in regelmäßigen Treffen mit Praxispartner_innen, weiteren Wissenschaftler_innen und Community-Akteur_innen Forschungserkenntnisse und Vorgehen kontrovers diskutiert.

Gender 3.0 will eine differenzierte Auseinandersetzung mit Geschlechtervielfalt in der Schule voranbringen, die zugleich Handlungsspielräume von TINA+-Schüler_innen und Lehrkräften erweitert und auch einen Beitrag zur geschlechtlichen Selbstbestimmung aller Schüler_innen wie zum Abbau intersektionaler Bildungsbarrieren leistet.

 

 

Literatur         
Busche, M./ Fütty, T. (2023): Prekäre Subjektivierungs- und Handlungsbedingungen – Trans*, Inter*, Nichtbinarität und Agender in der Schule. In: Kampshoff, M./Kleiner, B./Langer, A.: Jahrbuch erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung Bd. 19: Trans* und Inter*Geschlechtlichkeit in Erziehung und Bildung. Opladen

 

Kurzinformationen
Projektname
  
Gender 3.0 in der Schule: Herausforderungen und Handlungsbedarfe im Bereich Lehrkräfteausbildung zur Anerkennung von Gendervielfalt unter besonderer Berücksichtigung des Personenstands divers
Projektlaufzeit
2021–2026
Projektleitung
Jun.-Prof. Dr. Tamas Fütty
Kooperation Alice Salomon Hochschule Berlin
Prof. Dr. Jutta Hartmann
Mittelgeber_in
Bundesministerium für Bildung und Forschung
Kontakt                                   
Jutta.Hartmann@ avoid-unrequested-mailsash-berlin.eu