alice online: Von 2013 bis 2017 waren Sie Wissenschaftlicher Mitarbeiter der ASH Berlin zu den Themen gleichgeschlechtliche Lebensweisen und Altern. Zurzeit forschen sie mit einem Marie-Skłodowska-Curie Fellowship in Surrey. Natürlich stellt sich uns, angesichts der nach wie vor ungeklärten politischen Situation, gleich als Erstes die Frage, wie Sie die Brexit-Debatte in Großbritannien erleben. Wie sehr fühlen Sie sich als internationaler Forscher davon betroffen?
Lottmann: Seufz. Einerseits kann ich dem eher chaotischen Treiben in Westminster aus der Distanz zusehen, da ich ja eh wieder gehe. Andererseits mache ich mir Sorgen. Schon als ich kam, war das Land in der Brexit-Frage gespalten, es gibt immer wieder hässliche Diskussionen zwischen Brexiteers und Remainern. Die eigentlichen Gründe des Brexit sind kaum mehr ein Thema. Ich hätte nicht gedacht, dass Tage vor dem Austrittsdatum[1] für Menschen und Unternehmen noch immer so starke Unsicherheit herrscht. Mir kann keiner derzeit genauer sagen, ob ich etwas wegen der Arbeitserlaubnis machen soll oder was mit britischen Rentenbeiträgen passiert. Vor diesem Hintergrund bin ich nicht sehr motiviert, berufliche Pläne in Großbritannien zu verfolgen. Die Kolleg_innen hier sind wegen des Brexit meist ratlos oder frustriert.
alice online: Das Marie-Curie-Fellowship gewährt Ihnen einen zweijährigen Forschungsaufenthalt in Großbritannien. Mit welchen Zielen und Erwartungen sind Sie im September 2017 angekommen?
Lottmann: Um frei zu forschen. Um mit den Kolleg_innen am Department of Sociology konstruktiv und anregend an meinen Themen zu arbeiten. Um mein Englisch zu verbessern und die englische Kultur und natürlich die Universitäten von innen kennenzulernen.
alice online: Was für Möglichkeiten bietet das Fellowship?
Lottmann: Es ist ja ein Postdoc-Fellowship, das die Mobilität von europäischen Forscher_innen fördern soll. Es soll den Fellows gezielt dabei helfen, unabhängig zu forschen, berufliche Perspektiven zu verfolgen, neue Methoden kennenzulernen und an internationalen Konferenzen teilzunehmen.
alice online: Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse konnten Sie bisher gewinnen? Und wie hat das Ihre Perspektive beeinflusst?
Lottmann: Ich kann konkret mit aktuellen quantitativen Daten einer britischen Studie zu LGBT*-Senior_innen rechnen und unsere qualitativen Daten, die wir an der ASH Berlin erhoben haben, damit ergänzen. Wir haben neue Erkenntnisse darüber gewinnen können, in welchem Maße Wahlfamilien, also Nicht-Verwandte, Unterstützung im Alter und bei Pflege leisten. Die Ergebnisse sind uneinheitlich, auch desillusionierend, und erfordern differenzierte Antworten bei den Altenhilfestrukturen. In einer Zeit mit immer mehr kinderlosen Älteren und neuen Familienstrukturen werden pluralere Altenhilfestrukturen und ein Antizipieren der Lebensphase Altern wichtiger. Auch theoretisch ist es für mich ein spannendes Thema. Und dann habe ich noch das Agent-Based Modelling kennenlernen dürfen, ein computerbasiertes Modellieren sozialer Phänomene. Das hat einen neuen Blick auf die Altenhilfe erfordert. Die Unabhängigkeit bzw. Abhängigkeit von Pflegeheimen wurde für mich in England zu einer Frage von sozialer Ungleichheit – auch unabhängig von sexuellen Identitäten.
alice online: Wie nehmen Sie die britische Art zu forschen und zu lehren wahr? Gibt es Unterschiede zu Ihrer gewohnten Herangehensweise oder allgemein im wissenschaftlichen Betrieb?
Lottmann: Einiges hat auf mich zunächst einen sehr guten Eindruck gemacht, stellte sich aber in der Praxis als ambivalent heraus. So gibt es diverse Veranstaltungen für neue Mitarbeitende, die ein Wir-Gefühl produzieren sollen, aber kaum nachhaltig sind. Neue Rankings und Zielvorstellungen werden von der Unileitung – gefühlt – monatlich verschickt. Denn die Studierenden werden als Kunden verstanden, auf deren extrem hohe Gebührenzahlungen die Universitäten angewiesen sind. Auf der anderen Seite gibt es mit dem Lecturer, Senior Lecturer und Reader permanente Positionen, die einen Mittelbau darstellen. In Deutschland gibt es leider eher einen Befristungsfetisch: zu wenige dauerhafte Stellen und deshalb nur bedingt attraktive Arbeitsplätze in der Wissenschaft. Toll finde ich hier auch die in meiner Wahrnehmung systematische Teamarbeit bei der Lehre. Wenn ich ein Modul neu unterrichte, habe ich Zugriff auf Unterlagen meiner Vorgänger_innen und kann mich mit ihnen austauschen. Da habe ich deutsche Hochschulen bislang intransparenter erlebt.
alice online: Wie sieht Ihr Alltag aus? Was empfinden Sie als bereichernd, was vermissen Sie?
Lottmann: Mein Alltag hier ist nicht so wahnsinnig anders als in Berlin. Ich bin ein Großstadtfan, daher genieße ich London, die Angebote und das Treiben hier. Ich liebe Cream Tea, also Tee, Scones und Clotted Cream. Leider. Und das dann – auch leider – contactless zu bezahlen. Ich vermisse Vollkornbrot, das seinen Namen verdient, liebe Freund_innen in Berlin, und dann das kurze Gespräch mit einem Menschen an der Kasse. Die britische Höflichkeit führt aus meiner Perspektive manchmal zu Unklarheiten und ich vermisse dann die direktere Sprache. Mit meinen nicht-britischen Kolleginnen kann ich mich aber wunderbar über die britischen Eigenheiten austauschen.
alice online: Was erhoffen Sie sich von Ihrem Aufenthalt in Großbritannien für Ihre wissenschaftliche Karriere?
Lottmann: Dass ich die kollegialen und freundschaftlichen Netzwerke nach Deutschland mitnehmen kann. Es freut mich, dass das Thema Altern und Diversity mich nicht langweilt, sondern eher noch mehr begeistert. Ich hoffe, dass das Fellowship mir dabei helfen wird, an diesen spannenden Themen international weiterarbeiten zu können. Und dass ich weiter alte und pflegebedürftige Menschen interviewen darf, diese mich in ihre Welt lassen – für Perspektiven, die in der Alterns- und Pflegeforschung und in der Sozialen Arbeit bislang nur selten eine Rolle spielen, aber manchmal für die Allgemeinheit den Finger in die Wunde legen können.
[1] Das Interview wurde am 19.3.2019 geführt, als das Austrittsdatum noch für den 29.3.2019 vorgesehen war.