Demenz und Migration Familie ist eine wichtige, aber endliche Ressource

Abschluss und Ergebnisse des Forschungsprojektes Lebenswelten von demenziell erkrankten Migrantinnen und Migranten türkischer Herkunft und ihre Familien. Eine Untersuchung zu Ressourcen und Belastungen

Konferenz-Situation: Fünf Frauen sitzen der Reihe nach an einem langen Tisch und diskutieren.
Das Abschlusspodium "Konsequenzen für Forschung, Praxis und EntscheidungsträgerInnen" moderierte Olivia Dibelius (Mitte). Diskutiert haben Meggi Kahn Zvornicanin (Camino-Werkstatt Berlin), Melina von Kutzleben und Medlin Kurt (Universität Bielefeld und Witten), Belgi Habel (IDEM Berlin), (v.l.n.r.)

Mit dem Fachtag „Herausforderungen in Familien mit Migrations- und Demenzerfahrungen“ am 17. März 2016 in der Evangelischen Hochschule Berlin (EHB) hat das vierjährig geförderte Forschungsprojekt seinen Abschluss gefunden. Zuvor sind die Ergebnisse der Untersuchung in einem Buch veröffentlicht worden. Die Buchpublikation ist den Interview- und Praxispartnerinnen und -partnern am Fachtag überreicht worden.

Fünf Mitarbeiterinnen von EHB und ASH Berlin, Prof. Dr. Olivia Dibelius (Leitung), Prof. Dr. Erika Feldhaus-Plumin, Prof. Dr. Gudrun Piechotta-Henze sowie Yve Weidlich und Dilek Yalniz, haben zunächst eine nationale und internationale Literaturrecherche durchgeführt, der eine themenspezifische deutsche und türkische Dokumentenanalyse folgte. Schließlich wurden bundesweit 20 leitfadengestützte Interviews mit Expertinnen in stationären, teilstationären und ambulanten Settings geführt. Alle Interviewteilnehmerinnen sind beruflich für demenziell erkrankte Menschen türkischer Herkunft und deren Angehörige tätig. Gleichzeitig konnten zwölf Leitfaden-Interviews mit Angehörigen in Berlin durchgeführt werden sowie drei teilnehmende Beobachtungen in Beratungssituationen mit Angehörigen türkischer Migrantinnen/Migranten mit Demenz. Nach der Interviewphase erfolgte schließlich eine Einzelfallanalyse von einem Expertinnengespräch und zwei Angehörigeninterviews.

"Die Versorgungslage der emigrierten Menschen ist vielfach unzureichend"

Die sehr unterschiedlichen methodischen Zugänge ermöglichten eine Annäherung an die subjektive Lebenswelt aus verschiedenen Perspektiven. Sie führten größtenteils zu ähnlichen bis übereinstimmenden Ergebnissen.

Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko, an einer Demenz zu erkranken. Was passiert dann? Die Versorgungslage der emigrierten Menschen ist vielfach unzureichend, da migrationsbedingte Auswirkungen und fehlende transkulturell ausgerichtete Angebote den Zugang und die Inanspruchnahme zu Regelleistungen im Gesundheits- und Versorgungsbereich erschweren. Familienmitglieder, sofern vorhanden und bereit dazu, übernehmen die Begleitung der demenziell erkrankten Menschen. Doch die stigmatisierende Erkrankung und die Symptomatik – etwa Orientierungseinschränkungen, herausforderndes Verhalten oder ein gestörter Tag-Nacht-Rhythmus –, sind für die Betroffenen selbst und für die Angehörigen hochbelastend. Zwei Beschreibungen sollen dies verdeutlichen:

Frau Y. ist die Tochter einer „Gastarbeiterin“, die in den 70er-Jahren nach West-Berlin gekommen ist. Der Ehemann folgt kurze Zeit später, zwei Kinder werden geboren. Die Verwandten leben in den Niederlanden und in der Türkei. Für den Vater von Frau Y. ist die Lebenssituation äußerst problematisch, da er keinen Arbeitsplatz findet und sich im wahrsten Sinne des Wortes „unverstanden“ fühlt. Schließlich kehrt er in die Türkei zurück. Es folgt die Scheidung, die Mutter bleibt mit den beiden Kindern in Deutschland. Im Rentenalter erkrankt die Mutter an einer Demenz. Die Tochter, unverheiratet und kinderlos, kümmert sich um sie, zieht mit ihr in eine Wohnung. Doch ihre tägliche lange Arbeitszeit und die Versorgung der Mutter, die viele Stunden am Tag alleine ist, werden zur Überforderung und zur Gefahr für sie selber. Frau Y. sucht für die Mutter einen Heimplatz. Allerdings muss sie in dieser Situation nicht nur mit den eigenen Gefühlen von Schuld, Verzweiflung und Trauer zurechtkommen, sondern auch mit wenig hilfreichen bis diskriminierenden Äußerungen und Maßnahmen seitens der Mitarbeiter/-innen in den Behörden.
Frau G. ist die Jüngste von fünf Geschwistern. Sie lebt mit den Eltern in einer Wohnung. Ihr Vater ist als sogenannter Gastarbeiter vor Jahrzehnten eingereist, später hat er seine Ehefrau und die Kinder „nachgeholt“. Als der Vater sich im Alter zunehmend verändert, beginnt eine Odyssee durch ärztliche Praxen, bis schließlich eine Alzheimer-Diagnose gestellt wird. Die Familie ist sehr gläubig, Tochter und Ehefrau sehen es deshalb als ihre Aufgabe an, den Vater bzw. den Partner bis zum Lebensende in der Wohnung zu begleiten und zu pflegen. Der Glaube gebe ihnen die Kraft, dieses Schicksal anzunehmen. Doch sie kommen auch immer wieder an die eigene psychosoziale Grenze, besonders wenn es zu Misstrauen und Gewaltausbrüchen seitens des demenziell betroffenen Ehemannes bzw. Vaters kommt.

Um Betroffene und ihre (pflegenden) Familien mit Migrationserfahrungen zu entlasten, bedarf es vielfältiger, zielgruppenorientierter Angebote. Hierzu zählen insbesondere alle Maßnahmen, die auf sehr frühzeitige, zugehende und transkulturelle Gesundheits- und Sozialraumstrukturen setzen. Denkbar wären unter anderem präventive Gesundheitsberatungen seitens der behandelnden Hausärztinnen und -ärzte sowie der Pflegestützpunkte. Ambulante Pflegeeinrichtungen und soziale Dienste könnten als niedrigschwellige Anlaufstellen fungieren. Muttersprachlichkeit und transkulturelle Kompetenz seitens der Mitarbeitenden sind dabei zentrale Schlüsselqualifikationen.

Pflegekurse, Rückenschule und Entspannungsmethoden sind wichtig

Ein bundesweiter Standard zur Durchführung des Case-Managements ist für Pflegestützpunkte und Beratungsstellen anzuraten. Für Menschen, die besonderen Belastungen ausgesetzt sind, sollte die Möglichkeit, auf einen festen Ansprechpartner bzw. eine feste Ansprechpartnerin zugreifen zu können, gegeben sein. So ist eher eine vertraute und vertrauensvolle Beziehung möglich, die auch den sozialpsychologischen Bedürfnissen entspricht. Präventions- und Gesundheitsförderungsprogramme, die sich an die genannte Zielgruppe wenden (zum Beispiel Pflegekurse, Rückenschule oder Entspannungsmethoden), sind wichtige Bausteine zur Selbstpflege der pflegenden Angehörigen.

Der Dialog zwischen Professionellen und bürgerschaftlich engagierten Personen könnte durch ein Quartiersmanagement früh etabliert werden. Dadurch wird in den Bezirken eine bessere Vernetzung entstehen und die Menschen mit Migrationshintergrund erfahren eine bessere Integration und Orientierung im Sozial- und Gesundheitssystem.

Transkulturelle Kompetenz und Biografiearbeit mit älteren demenziell erkrankten Menschen sollten zum festen Standard der Therapie- und Pflegeberufe in der Aus-, Fort- und Weiterbildung gehören. Die gezielte Ausbildung von Fachpersonal mit Migrationserfahrung trägt zum Abbau des Fachkräftemangels und zur Erhöhung der transkulturellen Kompetenz im (Alten-)Pflegebereich bei.

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