Wir treffen uns wie verabredet vor einem Elfgeschosser in Marzahn. Es ist heiß. Aber meine Kollegin, Carlotta Stockmayer-Behr, und ich freuen uns trotz der Julihitze darauf, ein weiteres Interview mit einem Bürger aus Marzahn-Hellersdorf zu führen.
Im November 2017 hatte unser Forschungsteam einen Fragebogen mit dem Titel „Marzahn-Hellersdorf. Ihre Meinung ist gefragt“ an 2.000 zufällig ausgewählte Anschriften im Bezirk versandt, mit einer guten Rücklaufquote von über 18 Prozent. Wir fragten die Teilnehmenden u. a. nach ihrem Wohlbefinden im Bezirk, dem Medienverhalten, politischen Meinungen, politischem und sozialem Engagement, Konfliktverhalten im Alltag, geografischer wie sozialer Herkunft – und auch: nach Einstellungen im Bereich der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (Wilhelm Heitmeyer) und des Autoritarismus (Theodor W. Adorno u. a.). Außerdem fragten wir die Umfrageteilnehmer_innen, ob sie zu einem Interview bereit wären. Erstaunlich viele Freiwillige stellten sich zur Verfügung. Von April bis August 2018 führten wir 30 Einzelinterviews.
Erneut hatte uns also ein Bürger zu sich nach Hause eingeladen, um uns in einem biografisch-narrativen Interview Rede und Antwort zu stehen. Ich suche den Namen am Klingelschild, betätige den Taster und mich überkommt wie immer eine Mischung aus Lampenfieber und neugieriger Spannung. Gott sei Dank ist Carlotta dabei, die das Interviewprotokoll anfertigen wird. Mit ihr kann ich auf dem Weg durch das angenehm kühle Treppenhaus und im Fahrstuhl über diese seltsame Spannung sprechen. Nervös fülle ich die Zeit mit der Bemerkung, dass es in ostdeutschen Stockwerknummerierungen meist kein „Erdgeschoss“ gibt.
Der Fahrstuhl öffnet sich und an der Wohnungstür erwartet uns lächelnd eine Frau. Sie bittet uns in eine Welt, die mit der „da draußen“ nichts gemein hat: Es ist gemütlich, überall stehen Gegenstände, aufgeladen mit Erinnerungen. Sie führt uns auf den Balkon. Vor der herrlichen Panoramakulisse halb Marzahns stehen ein Tisch, ein paar Stühle und zwei liebevoll vorbereitete Teller mit italienischen Schnittchen und Kuchenstücken.
Nun kommt ihr Ehemann hinzu. Mit ihm hatte ich das Interview vereinbart. Wir setzen uns, das Paar bietet uns wohltuend kühles Wasser an und bestärkt uns, ohne Scheu von den Tellern zu naschen. Ich erkläre ausführlich unser Forschungsprojekt und die Formalien: Datenschutz, Anonymisierung, Ablauf des Interviews. Schon viele Male – bei Gesprächsterminen in Einfamilienhäusern in Kaulsdorf, Mahlsdorf und Biesdorf ebenso wie in der „Platte“ in Hellersdorf und Marzahn, manchmal auch an der ASH Berlin – bin ich mit unseren Interviewpartner_innen durch diese Prozedur gegangen. Wie immer erläutere ich, dass wir mit dem Projekt mehr über die Menschen im Bezirk erfahren wollen, als Wahlergebnisse, Nichtwähler_innenstatistiken oder Umfragen aussagen können. Wir wollen verstehen, wie Lebensgeschichten von politischen und gesellschaftlichen Prozessen beeinflusst werden, welche Erwartungen, Wünsche und Bedürfnisse hinsichtlich der politischen Mitbestimmung bestehen. Ich erkläre, dass es uns um das bessere Verständnis der gesamten Bevölkerung geht und nicht nur um die sogenannten „Demokratiefernen“ – ein Begriff für den ich mich in den Vorgesprächen immer auch ein bisschen schäme.
Nun geht es los. Ich kann nicht abschätzen, was mich erwartet. Ich starte die Aufnahme und beschwöre das Gerät – es ist zum Ritual geworden – es möge keine Fehlfunktion haben. Ich stelle die sogenannte Erzählaufforderung, bitte den Interviewpartner, seine Lebensgeschichte zu erzählen und zu berichten, wie die Veränderungen der letzten Jahrzehnte sein Leben (mit-)geformt haben. Er beginnt:
Geboren in der frühen DDR und groß geworden in einem kirchlich-dörflichen Elternhaus sowie zugleich im DDR-Schulsystem, entwickelte er als Jugendlicher schnell seinen „eigenen Kopp“; mit der Religion kann er bald nichts mehr anfangen und auch nichts mit der SED. Sein Interesse gilt eher der Beat- und Rockmusik. Während seines Pflichtdienstes bei der Nationalen Volksarmee gerät er immer wieder in Konflikt mit den streng-autoritären Regeln; allein seine damals modisch langen Haare sorgen für Unmut bei den Offizieren: „Als junger Mensch hat man damals halt gerne provoziert.“ Ihn stört „diese ständige Gängelei“: Wenn er am Wochenende seine Eltern besucht, deren Heimatort in Grenznähe liegt, sind die Polizeikontrollen im Zug ein regelmäßiges Austesten der Grenzen des Verhaltens.
Doch trotz oder gerade wegen seiner renitenten Art beginnt er sich nach dem Militärdienst politisch zu engagieren. Er wird Mitglied in einer der sogenannten Blockparteien, denn die SED ist angesichts des strengen Parteiklimas und wegen seines Elternhauses keine Option. Lange ist er ehrenamtlich tätig, nach seiner Lehre im Bergbau gehört er inzwischen zu den „Kumpels“. Bald nimmt seine politische Arbeit aber ein solches Ausmaß an, dass er nach Berlin berufen wird, um in der Hauptstadt der DDR hauptamtlich für seine Partei zu arbeiten. Der Politik der SED steht er weiterhin kritisch gegenüber und wünscht sich Ende der 1980er-Jahre eine demokratische Wende in der DDR.
Dann kommt die Wende. 1989/90 wird für ihn eine „aufregende Zeit“: Alles bewegt sich, jeder Tag kann neue Entscheidungen bringen. Doch schnell ahnt er, dass man die Kontrolle über die eigenen Geschicke längst abgegeben hat. Seine Partei wird, so berichtet er, ohne demokratischen Diskussionsprozess von ihrem westdeutschen Pendant übernommen, was ihn 1990 seine Mitgliedschaft und seinen Arbeitsplatz kostet. Mit dieser Partei, die ihm nie sozial genug gewesen ist, verbindet ihn heute „überhaupt nichts mehr“. Dieser Bruch, der den Politfunktionär in einen „Privatier“ verwandelte, wirkt bis zum heutigen Tage. Einer Partei ist er nie mehr beigetreten. Die Wendezeit und die späteren politischen Entwicklungen haben ihn aber, so macht er deutlich, immer mehr nach „links“ getrieben; heute versteht er sich als „Materialist“. Er schmunzelt.
Politisch aktiv waren er und seine Frau aber weiterhin. In der Nachwendezeit gingen sie häufig auf Demonstrationen in Mitte und Prenzlauer Berg, um nach den Pogromen in Hoyerswerda und Rostock ein klares Zeichen gegen rechts zu setzen – viele Hausnachbarn ihrer Generation waren auch dabei. In den 2000er-Jahren, so fährt er fort, nahmen er und seine Frau regelmäßig an Demos gegen die Agenda 2010 teil, weil die Hartz-IV-Gesetzgebung sie persönlich bedrohte, aber auch aus Gründen der Solidarität nach dem Motto: „Es muss Masse entstehen, dass man die nicht mehr einfach so ignorieren kann.“ „Doch“, so sagt er, „gebracht hat’s nix“.
Nach dem abrupten Ende seiner Laufbahn als Politfunktionär entwickelte er sich beruflich in eine ganz andere Richtung. Seine seit seiner Jugend bestehende Liebe zur Musik führte ihn in den Musik-Vertrieb in West-Berlin; doch die Entwicklung der Branche kostete ihn bald seinen Job und war das Ende seiner, wie er sagt, „besten Zeit“.
Jahrelang blieb er arbeitslos. In dieser Zeit litt er unter starken Herzbeschwerden – und unter dem Jobcenter. Durch Zufall bekam er vor einigen Jahren wieder eine Arbeitsstelle bei einem, wie er sagt, „türkeistämmigen Unternehmer“; die Herzprobleme sind seitdem verschwunden. Noch immer arbeitet er gerne für das Unternehmen, obwohl er schon Rentner ist.
Im Bezirk leben er und seine Frau gerne, berichtet er zum Interviewende, auch wenn sich seit der Wende vieles nachteilig entwickelt hat. Viele Gebäude und Institutionen, die die Nachbarschaft zu DDR-Zeiten zusammenhielten, verschwanden: die Gemeinschaftsgaststätten, Kulturorte und Jugendklubs. In den 1990er-Jahren verbrachten die Jugendlichen ihre Freizeit vor allem auf Spielplätzen und in Hauseingängen, während deren Eltern mit der Wende und ihren Folgen beschäftigt waren. Die Frau unseres Interviewpartners berichtet, dass einer ihrer Söhne – sie leben in einer Patchwork-Familie – in der Nachwendezeit in neonazistische Freundeskreise geriet. Die Familie versuchte, ihren Sohn „zur Vernunft zu bringen“, doch es misslang. Der Kontakt ist bis zum heutigen Tage abgebrochen.
Und nicht zum ersten Mal, werden wir kritisch auf die Gedichtsdebatte angesprochen. Wir bekommen den Eindruck, dass es für unseren Interviewpartner hierbei nicht um die Themen Anti-Sexismus und Freiheit der Kunst geht – sie dünken ihm Selbstverständlichkeiten. Die Debatte selbst erscheint ihm fremd und verursacht, so meine Interpretation, beispielhaft ein tiefes Fremdheitsempfinden gegenüber Formen, die als typisch ‚westdeutsche‘ öffentliche Positionierung verstanden werden. Diese affizieren (Hartmut Rosa) unseren hochpolitisch interessierten Interviewpartner angesichts seiner Welterfahrungen nur bedingt.
Fasziniert höre ich zu und vergesse trotz der Hitze, vom inzwischen nicht mehr so kühlen Mineralwasser zu trinken. Während des Interviews arbeitet und rumort es in mir. Mir wird deutlich, dass die gleichsam „klassischen“ politologischen Begriffe vom Politischen, Privaten, von Familie, Öffentlichkeit, Vielfalt, Pluralismus, Engagement, Rückzug, Demokratienähe/-distanz usw. die sich hartnäckig widersetzende Wirklichkeit im Bezirk nicht zu greifen vermögen. Muster sind dennoch erkennbar, stichhaltige Ergebnisse muss nun – bei aller Ungeduld – die anstehende systematische Auswertung bringen.
Erschöpft und glücklich über die zahllosen Fragezeichen in meinem Kopf bedanke ich mich bei meinem Interviewpartner und stoppe die Aufnahme. Wie so oft, wird es im Nachgespräch noch einmal mindestens genauso interessant. Ich nehme mir ein Stück Kuchen und spitze weiter die Ohren. Meine Kollegin kann nun endlich das nicht immer leichte „Schweigen der Protokollierenden“ brechen und selbst am Gespräch teilnehmen. Irgendwann gebe ich noch zu, dass auch ich in der DDR zur Welt kam und die Nachwendezeit als Jugendlicher erlebt habe.
Nach dem Abschied müssen Carlotta und ich uns gleich im Fahrstuhl austauschen, es drängt uns, das Gehörte einzuordnen und in Begriffe zu fassen. Auf dem Weg zur S-Bahn mischt sich in unser Gespräch indes ein bisschen Verzweiflung darüber, dass diese Biografien, Welterfahrungen und Bedürfnisse im äußerst vielfältigen Bezirk in vielen Konzepten aus Wissenschaft und Gemeinwesenarbeit sowie in Demokratieentwicklungsprogrammen der Politik und öffentlichen Verwaltung zu wenig Berücksichtigung finden. Später klingt in mir noch der Satz nach, mit dem der Interviewpartner begründete, warum er sich gegen die Sozialreformen der Schröder-Regierung engagierte: „Verständnis für andere haben, das sollte eigentlich im Vordergrund stehen.“
(Dieser Beitrag erschien erstmals in der alice 36 im Wintersemester 2018/19.)
Nachtrag: Mittlerweile ist der Abschlussbericht des Forschungsprojekts veröffentlicht.