Forschung Engagement jüdischer Frauen beim Aufbau der Sozialen Arbeit

Jüdische Schülerinnen und Dozentinnen der Sozialen Frauenschule in Berlin und der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit

Frauen vor einem Haus
Schülerinnen der Sozialen Frauenschule Alice Salomon Archiv

Jüdische Frauen spielten Ende des 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle innerhalb der bürgerlichen deutschen Frauenbewegung und bei der Gründung und dem Auf- und Ausbau professioneller Sozialer Arbeit, nicht zuletzt als Frauenberuf. Zahlreiche jüdische Mädchen und Frauen gelangten über soziale Hilfstätigkeiten zur organisierten Frauenbewegung. Die jüdischen Religionsgrundsätze räumten den Mädchen und Frauen – jüdische Mädchen waren stärker noch als nicht-jüdische bürgerlichen Konventionen unterworfen – auf dem Gebiet der Armenfürsorge und Wohltätigkeit Bewegungsfreiheit ein, und sie wandten sich auf der Suche nach einem außerhäuslichen Arbeitsfeld häufig ehrenamtlichen sozialen Aufgaben und später auch Ausbildungsmöglichkeiten zu. (Abb. 1) Als Lehrerinnen waren sie gesellschaftlich unerwünscht, und die konfessionelle Krankenpflege der evangelischen Diakonissen oder der katholischen Elisabeth-Vereine war für sie nicht zugänglich.

Die Soziale Frauenschule und die Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit als Orte des Engagements jüdischer Frauen

Ein aktuelles Projekt des Alice Salomon Archivs beschäftigt sich mit dem Engagement jüdischer Frauen beim Aufbau der Sozialen Arbeit, mit ihrer Teilhabe an der bürgerlichen Frauenbewegung sowie mit ihrer Verdrängung im Zuge der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Konkrete Orte sind hier die Vorläuferinstitutionen der Alice Salomon Hochschule, die Soziale Frauenschule Berlin, gegründet 1908 (Abb. 2), und die Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit[i], die von 1925 bis 1933 bestand.

Die von Alice Salomon (1872-1948)[ii] (Abb. 3) gegründete Soziale Frauenschule war wie die von ihr und weiteren Aktiven der bürgerlichen Frauenbewegung wie Marie Baum, Gertrud Bäumer, Hildegard von Gierke, Helene Weber und Siddy Wronsky ins Leben gerufene Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit ein Zentrum der sozial und pädagogisch engagierten Frauenbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Als interkonfessionelle Schule wurde die Soziale Frauenschule von vielen Frauen aus dem jüdischen Bürgertum besucht, bis zu einem Drittel der Schülerinnen waren jüdisch. (Abb. 4) Sowohl an der Sozialen Frauenschule wie an der Deutschen Akademie waren zudem zahlreiche jüdische Dozentinnen tätig. Alice Salomon konvertierte 1914 zum Protestantismus, sie „wollte für die Umsetzung ihrer Idee einer Professionalisierung für Soziale Arbeit nicht christlich konfessionelle, darüber hinaus überhaupt keine religiösen Prinzipien als verbindlich erklären, sondern allgemein humanistisch geprägte berufsethische Wertvorstellungen verwirklicht sehen“[iii]. Viele jüdische Sozialreformerinnen legten in ihrer Arbeit mit einer meist nicht-jüdischen Klientel Wert auf konfessionelle Unabhängigkeit.

Verfolgung, Vertreibung, Flucht und Emigration jüdischer Sozialarbeiterinnen

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde die Akademie 1933 auf Veranlassung Alice Salomons aufgelöst, um einer Hausdurchsuchung und Liquidierung durch die Gestapo zuvorzukommen. Die Soziale Frauenschule blieb zwar erhalten, bis 1934 wurden aber mehr als die Hälfte aller Lehrkräfte entlassen, darunter alle jüdischen Dozentinnen, und im Frühjahr 1934 war keine jüdische Schülerin mehr auf der Schule. Alice Salomon durfte die Schule nicht mehr betreten. Sie wurde 1937 von der Gestapo zur Emigration gezwungen, ihr Vermögen wurde beschlagnahmt und sie wurde 1939 ausgebürgert.

Von den insgesamt 31 Lehrenden jüdischer Herkunft an der Sozialen Frauenschule aus dem Zeitraum von 1908 bis 1933 sind 16 emigriert, fünf wurden in Konzentrationslager deportiert. Unter den Emigrantinnen sind bekannte Persönlichkeiten wie die Soziologin und Direktorin der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit Hilde Lion (1893–1970)[iv], die Geschäftsführerin des Bundes Deutscher Frauenvereine Emmy Wolff (1890–1969) (Abb. 5), die Sozialpolitikerin und Leiterin des Archivs für Wohlfahrtspflege Siddy Wronsky (1883–1947) (Abb. 6) und die Juristin und Vorstandsmitglied im Jüdischen Frauenbund Margarete Berent (1887–1967). Sie erreichten eine bedeutende professionelle Wirksamkeit in ihren Exilländern. Aus dem Kreis der Schülerinnen stammten die Mitbegründerin der Arbeiterwohlfahrt und Leiterin der Wohlfahrtsschule Hedwig Wachenheim (1891–1969), die Wohlfahrtspflegerin, persönliche Assistentin und Biografin Alice Salomons, Dora Peyser (1904–1970) und die Sozialarbeiterin und Wohlfahrtsdezernentin Käte Rosenheim (1892–1979).

Projektziele und -bausteine

Im Kern des Projekts zu den jüdischen Schülerinnen und Dozentinnen an der Sozialen Frauenschule in Berlin und der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit stehen die Dokumentation und Erschließung einzigartiger Dokumente zur Geschichte jüdischer Frauen und Mädchen in der Entwicklung Sozialer Arbeit als Frauenberuf, die einen bisher marginalisierten Teil der bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland sichtbar machen. Digitalisiert und, unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte, zugänglich gemacht werden Personal- und andere Akten zu jüdischen Schülerinnen und Dozentinnen der Sozialen Frauenschule in Berlin, die inhaltlich kombiniert werden mit bereits digitalisierten Aktenbeständen der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit.[v] Zu den digitalisierten Materialien werden inhaltlich rahmende The­men- und Personenessays erstellt zur „Rolle jüdischer Frauen in der Entwicklung Sozialer Arbeit als (Frauen-)Beruf“, zu „Verfolgung, Vertreibung, Flucht und Emigration jüdischer Sozialarbeiterinnen im Nationalsozialismus“ (Abb. 7) und zu den Dozentinnen der Sozialen Frauenschule und der Frauenakademie Frieda Wunderlich (1884–1965), Margarete Berent und Emmy Wolff und den Schülerinnen und Studentinnen Charlotte Friedenthal (1892–1973), Käthe Rosenheim und Dora Peyser.

Ein weiterer Baustein im Projekt ist neben den Digitalisaten und Essays die Erstellung und Abbildung von Frauennetzwerken im Rahmen der bürgerlichen Frauenbewegung. Es gibt zahlreiche Hinweise auf die Bedeutsamkeit institutioneller wie privater Frauennetzwerke in den Zusammenhängen jüdischer Frauen(bewegungs-)geschichte und in der Geschichte der Sozialen Arbeit, die im Rahmen der Betrachtung von Familiengeschichten, Geschichte der Frauen(aus-)bildung und -erwerbstätigkeit und auch der Verfolgung und des Widerstands im Nationalsozialismus noch nicht weiter verfolgt wurden. Diese Netzwerke jüdischer Akteurinnen im Spannungsfeld von Frauenbewegung und Sozialer Arbeit im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts sollen anhand der Akten im Alice Salomon Archiv rekonstruiert und sichtbar gemacht werden. So sind z. B. Personalakten der jüdischen Dozentinnen 1944 vernichtet worden, die Entlassungen sind jedoch in den Jahresberichten der Sozialen Frauenschule 1933 und 1933/34 festgehalten. Das Netzwerk jüdischer Frauen im Kontext von Frauenbewegung und Sozialer Arbeit im Raum Berlin im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts soll so möglichst weitgehend rekonstruiert werden.

Sabine Toppe ist Professorin für Geschichte der Sozialen Arbeit und Wissenschaftliche Leiterin des Alice Salomon Archivs der ASH Berlin.

 

Projektdaten:
Projektlaufzeit: 01.01.2020 bis 31.12.2020
Projektleitung: Prof.'in Dr. Sabine Toppe
Projektmitarbeiter_innen: Lena Kühn, Friederike Mehl, Aleksandra Stojanoska
Mittelgeber : Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Deutsches Digitales Frauenarchiv (DDF)
Kontakt: www.alice-salomon-archiv.de/projekte/
Email: toppe@ avoid-unrequested-mailsash-berlin.eu

 

 


[i] www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/deutsche-akademie-fuer-soziale-und-paedagogische-frauenarbeit

[ii] www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/alice-salomon

[iii] Zeller, Susanne: Jüdische Ethik und ihr (unbeachteter) Zusammenhang mit dem Prozess der Professionalisierung der Sozialen Arbeit in Deutschland, in: Feustel, Adriane et al. (Hg.): Die Vertreibung des Sozialen, München 2009, S. 54–70, hier S. 57.

[iv] www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/hilde-lion

[v] DDF-Projekt des Alice Salomon Archivs „Ein geschenktes Fotoalbum und die Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit im Digitalen Deutschen Frauenarchiv“ (2018/19), siehe alice/ Sommersemester 2019, S. 100–102