Rezension Eine äußerst vielseitige Visionärin

Adriane Feustel, Initiatorin und langjährige Leiterin des Alice Salomon Archivs, hat ein neues Buch über Alice Salomon veröffentlicht

Nachdem Alice Salomon (1872-1948) im Jahr 1937 auf Weisung der GeStaPo Deutschland für immer verlassen musste, ist ihr Werk in Deutschland lange Zeit verdrängt worden. Erst ab den späten 1970er Jahren entstanden erste Studien zu ihrem Leben im Exil in New York und den Geschicken ihres Werkes, des sozialen Berufs und seiner Ausbildung, im nationalsozialistischen Deutschland. Nach und nach vertiefte sich die Forschung in die Wurzeln der sozialen Profession in den bürgerlichen Frauenbewegungen in der Zeit des deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik und beförderte das theoretische und praktische Schaffen der Pionierin Salomon ans Tageslicht zurück. Dieses Portrait versteht sich jedoch nicht als eine umfassende (werk)biographische Darstellung. Der Verfasserin Adriane Feustel gelingt es vielmehr, Salomons zukunftsweisende Gestaltung einer im normativen Sinne sozialen Gesellschaft – zusammengefasst in „to make the world a better place to live in“ (S. 35) – in ihren Verknüpfungen mit den zeitgenössischen Strömungen nachzuzeichnen. So entsteht das eindringliche Bild einer äußerst vielseitigen Visionärin, die Generationen von Sozialarbeiter_innen, Reformer_innen, Wissenschaftler_innen und Politiker_innen genauso wie das System der Wohlfahrtspflege nachhaltig inspiriert und gestaltet hat.

Die Autorin gehört zu den profundesten Kenner_innen Alice Salomons und hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Erinnerung an ihr Leben und Werk wieder neu entstehen konnte. Ende der 1980er Jahre begann die Historikerin ihre Arbeit mit den historischen Aktenbeständen der ASH Berlin. Sie hat die Schriften Salomons gesammelt und herausgegeben, Kontakte zu ihren in aller Welt verstreuten Nachfahr_innen aufgenommen, Gespräche mit Zeitzeug_innen geführt und vielfältige Forschungsbeiträge publiziert. Das von ihr gegründete Alice Salomon Archiv der ASH Berlin ist heute das einzige Archiv in Deutschland, das sich ausschließlich der Geschichte der Sozialen Arbeit widmet.

Eine komplexe Persönlichkeit, die als Brückenbauerin und Dolmetscherin agiert und zwischen Klassen, Geschlechtern, Religionen und politischen Haltungen vermittelt.

Das Portrait nähert sich Alice Salomon in Form einer mehrdimensional angelegten Skizze. Sie zeichnet sie als komplexe Persönlichkeit, die als Brückenbauerin und Dolmetscherin agiert und zwischen Klassen, Geschlechtern, Religionen und politischen Haltungen vermittelt; die international anerkannt und führend auf ihrem Gebiet ist und dennoch – nicht erst ab 1933 – antisemitische Angriffe erlebt; die sich von den philosophischen und sozialwissenschaftlichen Strömungen ihrer Zeit inspirieren lässt und diese mitgestaltet; die aber auch ihre eigenen Widersprüchlichkeiten und blinden Flecken hat.

Feustel entwickelt das Werk Salomons aus seinen Anfängen in den Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit heraus. Die ‚Gruppen‘ – entstanden aus der bürgerlichen Bewegung für ethische Kultur – legten den Grundstein für die Praxis und Ausbildung der Profession und für die vielfältigen Aktivitäten Salomons in Frauenbewegung, Wissenschaft und Politik. Nach einigen biographischen und zeitgeschichtlichen Rahmungen bespricht die Autorin Salomons Grundlegung einer praktischen Ethik, in der sie die Verbindungen zwischen religiösen, politischen, sozialen und ökonomischen Standpunkten hervorhebt. Anschließend zeigt sie, wie Salomons ‚Theorie des Helfens‘ wiederum das Konkrete zum Ausgangspunkt nimmt und ermöglichen will, „den Schritt vom Denken zum Tun zu finden“ (S. 51), womit sie bereits zu Beginn die Soziale Arbeit als angewandte Wissenschaft konzipiert hat.

Das Buch bietet eine dichte Beschreibung der Persönlichkeit Alice Salomon, die heutzutage zu Recht wieder weltweit für ihren Einsatz für Frieden und soziale Gerechtigkeit gewürdigt wird. Es eignet sich für Expert_innen genauso wie für Interessierte. Ich möchte die Lektüre insbesondere den Angehörigen der Alice Salomon Hochschule Berlin ans Herz legen, die sich eine zum Weiterdenken und anregende Einführung in das Schaffen ihrer Gründerin wünschen.

Dr. Dayana Lau ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Alice Salomon Archiv.

 

Alice Salomon
(1872-1948): Sozialreformerin und Frauenrechtlerin.
(Humanistische Portraits, Band 4)
Adriane Feustel
Königshausen & Neumann, 2020
80 Seiten, 9,80 EUR
ISBN: 978-3826068867