Türkische Gastwissenschaftlerin „Ein neues Zuhause kann man sich überall schaffen"

Hilal Alkan ist Georg-Forster-Fellow der Alexander von Humboldt-Stiftung an der ASH Berlin und am Leibniz-Zentrum Moderner Orient und sie lehrt im Masterstudiengang „Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession". Im Interview spricht sie über die Situation ihrer Kolleg_innen in Istanbul, ihr aktuelles Forschungsprojekt und ihr Leben im Exil.

Proträt von Hilal Alkan, im Hintergrund Stühle
Hilal Alkan during the Voltaire Award ceremony Karla Fritze

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Könnten Sie Ihr Engagement für die Bewegung Academics for Peace und Ihre darauf folgende Entlassung aus dem Dienst an der Universität in Istanbul beschreiben?

Hilal Alkan: 2015 war das Jahr, in dem der Friedensprozess von der türkischen Regierung für null und nichtig erklärt wurde. Dann hielt der Krieg zwischen der PKK (Kurdische Arbeiterpartei) und den türkischen Streitkräften auch in die Städte Einzug und so wurden sogar in dicht besiedelten Stadtgebieten ausgedehnte Ausgangssperren verhängt. Als Reaktion auf die Verletzung der Menschenrechte, auf die Zerstörung von Gebäuden und auf die Tötung von Menschen im Zuge dieser Ausgangssperren unterzeichneten mehr als 2000 Akademiker_innen an Universitäten in der Türkei und im Ausland eine Petition, in der die türkische Regierung aufgefordert wurde, die Friedensverhandlungen wieder aufzunehmen. Die Petition wurde am 11. Januar 2016 im Rahmen einer Pressekonferenz der Öffentlichkeit vorgestellt. Die darauf folgenden Tage waren durch unglaublich scharfe Angriffe der staatlich gelenkten Medien auf die Unterzeichner geprägt. Nachdem uns der Präsident selbst in einer öffentlichen Rede beschuldigt hatte, den Terrorismus zu unterstützen, kündigte die Privatuniversität, an der ich tätig war, meinen Vertrag und die Verträge von zwei weiteren Fakultätsmitgliedern, die die Petition ebenfalls unterzeichnet hatten.

Wie ist die momentane Lage Ihrer Kollegen in der Türkei?

Hilal Alkan: Bisher haben 450 meiner Kollegen, die die Friedenspetition unterzeichnet haben, ihre Arbeit verloren. Den meisten von ihnen wurden auch die Reisepässe entzogen oder storniert. Diese neuerliche Entlassungswelle erfolgte mit Hilfe der umfangreichen Befugnisse, welche sich die Regierung mit der Erklärung des Notstands im letzten Sommer verschafft hatte. Es ist jetzt möglich, Tausende Mitarbeiter im öffentlichen Dienst per Dekret über Nacht zu feuern, ohne ihnen rechtliches Gehör zu gewähren, d. h. es gibt keine Anklage, kein Recht auf Verteidigung und keinen fairen Prozess. Insgesamt wurden bereits mehr als 120 Tausend Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes entlassen. Von der Stornierung von Reisepässen sind ganze Familien, einschließlich Kinder, betroffen und die Entlassenen können auch in Stadtverwaltungen oder bei NGOs keine Arbeit finden, da ihnen jede Tätigkeit für öffentliche Stellen lebenslang verboten ist. Vorsichtig ausgedrückt ist die Lage meiner Kollegen also mindestens als schwierig zu bezeichnen.

Sie haben den Voltaire-Preis der Universität Potsdam erhalten. Was bedeutet dieser Preis für Sie und Ihre Arbeit?

Hilal Alkan: Es ist eine große Ehre, eine solche Auszeichnung zu erhalten, die ja der Völkerverständigung und dem Respekt gegenüber Unterschieden gewidmet ist. Man sieht, dass unser gemeinsamer Kampf im Rahmen der Aktion Academics for Peace Grenzen überwinden kann. Der Preis ist auch ein Hinweis auf die gastfreundliche Grundhaltung, von der die deutsche Wissenschaftsszene im Moment geprägt ist.

Sie arbeiten gerade an einem Projekt, das mit dem Georg-Forster-Stipendium finanziert wird. Worum geht es bei diesem Projekt?

Hilal Alkan: Es handelt sich um ein Forschungsprojekt, das sich auf informelle Nachbarschaftsnetze konzentriert, in denen syrische Migranten in den Städten Hilfe finden, in die sie umgesiedelt wurden. Ich habe die Feldforschung in Istanbul fertiggestellt und jetzt sammle ich Hintergrundinformationen über die Situation in Deutschland. Im nächsten Semester werde ich hier in Berlin eine ähnliche ethnographische Studie durchführen.

Was ist Ihre Beziehung zu Sozialer Arbeit und zur ASH Berlin?

Hilal Alkan: Ich habe noch nie Soziale Arbeit studiert, was ich jetzt bedauere. Als die Universität, an der ich in Istanbul arbeitete, beschlossen hatte, eine Abteilung für Soziale Arbeit zu eröffnen, bat man mich als Soziologin der Fakultät beizutreten, da ich Erfahrung mit Hilfsorganisationen sowie Freiwilligenarbeit und Interessenvertretung hatte. Ich veranstaltete Soziologieseminare für Studenten im Bereich der Sozialen Arbeit, welche sich mit sozialen Strukturen und den daraus resultierenden Ungleichheiten beschäftigten. Um die Bedürfnisse der Studenten im Rahmen ihrer Berufsausbildung besser zu verstehen und dieses eher theoretische Wissen praxistauglich zu machen, habe auch ich mich intensiv mit dem Thema Soziale Arbeit beschäftigt. Die Unmittelbarkeit und die Intimität, die mit der Praxis der Sozialen Arbeit verbunden ist, und die tatsächlich beobachtbaren Auswirkungen von Interventionen, haben mich stets stark beeindruckt. Bei meinem ersten Kontakt mit der ASH Berlin war ich auf der Suche nach möglichen Erasmus-Partnern für meine Abteilung. Der Titel des Masterstudiengangs „Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession“ faszinierte mich sehr. Das war so eine kompakte und schöne Art zu sagen, was ich in meinen Lehrveranstaltungen vermitteln wollte und was ganz und gar meinen Vorstellungen von praktischer Sozialer Arbeit entsprach. In den Anfangsstadien dieses Projekts war Prof. Dr. Esra Erdem von der ASH Berlin die erste Person, die ich kontaktierte. Ich bin wirklich froh, dass alles geklappt hat und dass ich jetzt hier bin. Ich weiß, dass die Fakultätsmitglieder und Studenten in verschiedenen Flüchtlingsinitiativen mitarbeiten, und ich freue mich darauf, sie alle kennenzulernen.

Was sind Ihre Forschungsschwerpunkte, vor allem im Bereich der feministischen Forschung?

Hilal Alkan: Wenn einem einmal bewusst geworden ist, dass unsere soziale Umwelt in geschlechtsspezifischer Weise organisiert ist und dass geschlechtsspezifische Ungleichheit allen unseren Institutionen, Strukturen, Normen und sogar Gesetzen immanent ist, lässt sich dies nicht mehr rückgängig machen. Deshalb betrachte ich meine Forschungsarbeiten aber auch meinen Alltag immer auch unter geschlechtsspezifischen Aspekten. Außerdem betrachte ich mich als aktive Feministin. Ich habe mit der Fraueninitiative für den Frieden in Istanbul zusammengearbeitet und ich habe lange Zeit Freiwilligenarbeit in Frauenberatungszentren in London und Istanbul geleistet. Im Rahmen dieser Tätigkeiten habe ich viel über Verständigung, Problemlösung, über das Zuhören und die Abschaffung von Hierarchien gelernt. Deshalb ging es in meiner Entwicklung zur Feministin nie nur um Gewalt, Ungleichheit oder um gläserne Decken, sondern immer auch um Ethik und Achtsamkeit. Die feministische Care-Ethik ist nunmehr eines der Grundprinzipien, auf denen der theoretische Rahmen meiner Forschungen aufsetzt.

Was sind Ihre bisherigen Eindrücke von Berlin?

Hilal Alkan: Ich habe vor zehn Jahren einmal vier Monate lang in Berlin gelebt. Es war damals ein sehr langer und sehr kalter Winter. Aber trotz eisiger Temperaturen, die selbst das Atmen schwer machten, wuchs mir die Stadt so sehr ans Herz, dass ich immer wieder zurückkehren wollte. Und jetzt weiß ich, dass mein erster Eindruck richtig war. Vor zehn Jahren war ich fasziniert von den Museen und Galerien der Stadt und von ihrer schmerzhaften und widersprüchlichen Geschichte. Jetzt habe ich zwei kleine Kinder und wir gehen Eis essen, fahren Fahrrad und genießen die Parks und die Natur. Die Schönheit der Bäume, das Vogelgezwitscher auch am Alexanderplatz, und die Kinderfreundlichkeit der Stadt üben in diesen krisenhaften Zeiten eine beruhigende Wirkung auf mich aus. Ich fühle mich fast wie zu Hause hier, weil das Stadtbild von Migranten geprägt wird. Diese Stadt gehört mir genauso wie allen anderen Einwohnern (auch wenn manche meiner deutschen Nachbarn dies nicht wahrhaben wollen), und das ist ein sehr beruhigendes Gefühl, welches einem hilft das Dasein im Exil besser zu bewältigen.

Bitte erzählen Sie uns von Ihren Zukunftsplänen.

 

Hilal Alkan: Ich muss zugeben, dass ich mich nicht gefestigt genug fühle, um Pläne für die Zukunft zu schmieden. Ich habe erlebt, wie Pläne von einem auf den anderen Tag hinfällig wurden und wie sämtliche Sicherheiten sich in Sekundenschnelle in nichts auflösten. Auf jeden Fall werde ich aber meine Arbeit fortsetzen. Ich möchte eigentlich Berlin zu meiner neuen Heimat machen und hier bleiben, aber unser Planet ist ziemlich groß und trotz unseres unverantwortlichen Umgangs mit ihm immer noch sehr schön und voller Überraschungen. Man kann sich also überall ein neues Zuhause schaffen. Ist es nicht das, was wir aus dem Mut der vielen Flüchtlinge lernen können, die in den vergangenen zwei Jahren buchstäblich auf ihren eigenen Füßen hierhergekommen sind und ihr ehemaliges Zuhause Tausende von Kilometern hinter sich gelassen haben?

 

“A new home can always be built anywhere”

Hilal Alkan is an Alexander von Humboldt Stiftung Georg Forster fellow at ASH Berlin and Leibniz-Zentrum Moderner Orient, giving lectures in the Master Social Work as a Human Rights Profession. In this interview she talks about the situation of her colleagues in Istanbul, her recent research project at ASH Berlin and life in exile.  

alice online: Could you describe your work commitment for Academics for Peace and the following dismissal from your work at the university in Istanbul?

Hilal Alkan: 2015 was the year when the peace process was declared null by the government in Turkey. Then the war between PKK (Kurdish Workers Party) and Turkish armed forces moved into cities and there were lengthy curfews that were imposed on densely populated urban areas. In response to the human rights violations, demolitions and killings during these curfews, more than 2000 academics from universities in Turkey and abroad signed a petition asking the Turkish government to re-start the peace negotiations. The petition was made public with a press conference on 11 January 2016. In the next few days we have experienced an immense attack from government-friendly media outlets. After the President’s own public speech – in which he accused us of supporting terrorism – Istanbul 29 Mayıs University terminated the contracts of its three signatory faculty members, including me.

alice online: How is the situation right now for your colleagues in Turkey? 

Hilal Alkan: So far 450 of my colleagues who have signed the peace petition have lost their jobs. Most of them also have their passports confiscated or canceled. In this new wave of dismissals, the government uses the extraordinary powers it has gained with the declaration of state of emergency last summer. It is now possible to fire thousands of public employees overnight with decree laws, without any judiciary process; therefore without any accusations, right to defense and to fair trial. Overall more than 120 thousand public employees are now dismissed. Passport cancellations affect whole families, including children, and those who are dismissed cannot even work at municipalities or NGOs, because they are banned from any public service for life. So the situation is at best dire for my colleagues.

alice online: You have been granted the Voltaire Award of Potsdam University. What does it mean for you and your work? 

Hilal Alkan: It is an honor to receive such an award which is given to improve respect for differences and international understanding. It shows that our commonly achieved work of Academics for Peace resonates across borders. It is also indicative of Germany academia’s welcoming attitude at the moment.

alice online: You are working right now on a project, funded by the Georg-Foster grant. What is this project about? 

Hilal Alkan: It is a research project focusing on informal neighborhood networks aiding Syrian migrants in cities in which they resettle. I have completed the fieldwork in Istanbul and now I am gathering the background information about the situation in Germany. Next semester I will start doing a similar ethnographic study here in Berlin.

alice online: What is your relation to Social Work and the ASH Berlin? 

Hilal Alkan: I have never studied Social Work, which is something I now regret. When the university I was working at in Istanbul decided to open a Social Work department, I was invited to join the faculty as a sociologist, who worked on charitable giving and had substantive experience in volunteering and advocacy. I started teaching Social Work students about social structures and resulting inequalities in Sociology courses. In order to understand their vocational needs and to translate this rather theoretical knowledge into something applicable in their practice I have also read a lot in Social Work. The immediacy and the intimacy Social Work practice entails and the real-life effects that can easily be observed after interventions made me appreciate it a great deal. The first time I came across to ASH Berlin was while I was searching for possible Erasmus partners for my department. The name of the Master’s program ‘Social Work as a Human Rights Profession’ really struck me. This was such a compact and beautiful way of saying what I was trying to teach for a whole semester and what I had come to understand as good Social Work practice. So when I started developing this project, Prof. Dr. Esra Erdem from ASH Berlin was the first person I contacted. I am really happy that it worked through and now I am here. I know how active the faculty members and students are in various initiatives working with refugees, and I am very excited to meet them.

alice online: What are your main research subjects, especially in the field of feminist research? 

Hilal Alkan: Once you start recognizing how our social world is organized in gendered ways and how gender inequality is immanent to all of our institutions, structures, norms and even laws, it becomes impossible to undo this knowledge. Therefore I use a gendered lens at everything I look at, in research settings and in daily life. I also consider myself a feminist activist. I was working with Women’s Initiative for Peace in Istanbul and I have spent long time volunteering in women’s advice centers in London and Istanbul. These were the settings where I have learned quite a lot about understanding, problem solving, hearing and abolishing hierarchies. Therefore my feminist training was not only about violence, inequality or glass ceilings; it was also about ethics and how to care for each other. Feminist ethics of care is now one of the primary tenets I build the theoretical framework of my research on.

alice online: What are your impressions of Berlin so far? 

Hilal Alkan: I lived in Berlin for four months ten years ago. It was a very long and very cold winter. And despite freezing temperatures and how hard it was even to breath, I loved the city so much that I have always wanted to come back. And now I know that it was not a false impression. Ten years ago I was fascinated by the painful and conflicting histories of the city and its museums and galleries. Now I have two young children and we are indulging ourselves with ice cream, bicycles, parks and nature. The beauty of the trees, hearing birds chirping even at Alexanderplatz, and the child friendliness sooth me at this time of crisis, and because Berlin is a city of migrants, I always feel at home. This city belongs to me as much as it belongs to anyone (to disappointment of my certain German neighbors though), and this is a very comforting feeling especially to fight off sentiments of exile.

alice online: Please tell us about your future plans.

Hilal Alkan: I have to admit that I do not feel secure enough to make future plans. I have seen how plans can be overturned in a day and any kind of security can be lost at seconds. In any case I will keep up with my work. I want to make Berlin my home and stay here, but our planet is quite large and despite all our irresponsible behavior against it, it is still very beautiful and full of surprises. So a new home can always be built anywhere. Isn’t it what we have learned from the courage of those who literally walked here during the past two years leaving their former homes a few thousand kilometers away?