„An der Geburtsurkunde hängt ja alles mit dran. Ob das Kind eine Krankenkassenkarte bekommt, ob man Kindergeld beantragen kann und alle Sachen, dafür braucht man die Geburtsurkunde.“ (Int. 420 Babylotsin aus Berliner Geburtsklinik).
Der zermürbende Weg zur Geburtsurkunde für geflüchtete Familien
Die Ausstellung einer Geburtsurkunde klingt zunächst nach einer selbstverständlichen Formalie, die allen Eltern und Familien – ob geflüchtet oder nicht – nach der Geburt ihres Kindes zusteht. Jedoch ist sie im Falle von geflüchteten Familien aufgrund hoher Anforderungen an vorzuweisende Dokumente durch einen langen oftmals zermürbenden Weg wegen bürokratischer Belastung gekennzeichnet.
Gateway-Funktion der Geburtsurkunde
Die Bedeutung der Geburtsurkunde liegt in ihrer Gateway-Funktion – ist sie doch Voraussetzung für zahlreiche existenziell notwendige Leistungen. Sie beweist, dass ein Mensch existiert und damit Zugang zu bürgerlichen Rechten, Privilegien und Pflichten hat. Sie ist notwendiges Dokument für die Krankenversicherung und damit abrechnungsbare U-Untersuchungen des Neugeborenen oder die Zahlung des Kindergeldes. In Deutschland gilt die UN-Kinderrechtskonvention als geltendes Recht, wonach jedes Kind „unverzüglich nach der Geburt in ein Register einzutragen“ ist (Gerbig 2018:1). So gilt es, das Recht auf Nicht-Diskriminierung von Kindern vor einer Schlechterstellung aufgrund einer unklaren Identität ihrer Eltern zu schützen (Gerbig 2018). Sollten Papiere fehlen, ist ein beglaubigter Auszug aus dem Geburtenregister auszuhändigen, der als gleichwertig mit der Geburtsurkunde anzusehen und ausreichend für medizinische oder staatliche Leistungen ist. Allerdings handelt es sich dabei um eine Minimalverpflichtung und Übergangslösung, da das personenstandsrechtliche Verfahren damit nicht abgeschlossen ist. Für einen diskriminierungsfreien Zugang zu Geburtsurkunden sind die zeitnahe Ausstellung der Urkunde sowie die Kostenübernahme der beglaubigten amtlichen Übersetzungen notwendig
Ergebnisse aus der PROREF Studie
Es wurden 33 in Deutschland lebende geflüchtete Mütter aus 19 Herkunftsländern 1–9 Monate nach der Geburt des Kindes sowie 80 Fachkräfte (Sozialarbeiter_innen, Hebammen, Ärzt_innen) anhand qualitativer Interviews zur medizinischen und sozialen Versorgung befragt. Eine diskriminierungsfreie Ausstellung des Geburtsnachweises war nur in wenigen Fällen gegeben, wodurch gesellschaftliche Teilhabe geflüchteter Familien an Gesundheitsversorgung, Bildung und Sozialversorgung verhindert wurde. In der vorliegenden Studie traf die Nicht-Ausstellung von Geburtsurkunden vor allem Eltern ohne Pass und eigene Geburtsurkunde oder religiös verheiratete Eltern (z.B. muslimisch oder ezidisch). Analphabetinnen hatten zusätzliche Schwierigkeiten, den hohen Anforderungen des Standesamtes gerecht zu werden.
Folgende Konsequenzen zeigten sich für die Familien aufgrund der fehlenden Geburtsurkunden:
- Warten und Unsicherheit, psychischer Stress für Mütter im Wochenbett
- Fehlende Krankenversicherung und medizinische Versorgung des Neugeborenen
- Finanzielle Nachteile (Kindergeld, Jobcenter, Stiftungsanträge, Übersetzungskosten, medizinische Versorgung)
- Fehlende Teilhabe (Kita-Gutscheine, Schulbesuch)
- Resignation (Kinder, die langfristig ohne Papiere bleiben)
- Informations- und Rechtsanspruch der geflüchteten Familien verwehrt
Schlussfolgerung
Die Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, dass das deutsche Personenstandsrecht im Widerspruch zum Kindeswohl steht. Laut UN-Kinderrechten sollte kein Kind Nachteile durch fehlende Anforderungen der Eltern erleben. Jedoch werden durch Nicht-Ausstellung von Geburtsurkunden und Auszügen aus dem Geburtenregister gesellschaftliche Zugehörigkeiten hergestellt, legitimiert und reproduziert. Es werden Menschen von Beginn ihres Lebens an kategorisiert und hierarchisch strukturiert. Langfristig zementieren sich hierdurch Exklusionsprozesse und Hilflosigkeitserfahrungen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und finanzieller Gerechtigkeit. Die Ausgrenzung der Kinder von Bildung und gesundheitlicher Versorgung kann aus Sicht der vorliegenden Studie als Kindeswohlgefährdung eingestuft werden. Prekarisierung und Armutsgefährdung der Familien sollte durch die Mitwirkung von Standesämtern und weiteren Behörden verhindert werden.
Verantwortung der Sozialen Arbeit
Will sich die Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession verstehen, so sind Wissen um die Komplexität und Bedeutung des Themas Geburtsurkunden im Kontext von Migration/Flucht von großer praktischer Relevanz. Häufig sind es Sozialarbeiter_innen, die in der Praxis an der Schnittstelle zwischen den Interessen von geflüchteten Familien sowie Standesämtern und anderen Behörden stehen und dazu beitragen können, eine Ausstellung der Geburtsurkunden zu erleichtern. Für Sozialarbeiter_innen ist es daher wichtig, die strukturelle Abhängigkeit der gesundheitlichen Versorgung und sozialen Betreuung von Regelungen des Asylsystems zu verstehen. Wissenslücken bezüglich der rechtlichen Lage und Ansprüche sollten durch gezielte Information geschlossen werden, um gesellschaftliche Teilhabe für geflüchtete Familien und ihre Kinder in der Praxis zu ermöglichen.
Weiterführende Literatur:
Engelhardt, M, Gaudion, M, Kamhiye, J, Al-Munjid, R, Borde, T. (in press) Legalisiertes Othering bei der (Nicht-)Ausstellung von Geburtsurkunden geflüchteter Kinder. Migration und Soziale Arbeit. Ausgabe 4/2022.
Martha Engelhardt (Psychologin M.Sc.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt Pregnancy and Obstetric Care for Refugees (PROREF), engelhardt@ ash-berlin.eu