Forschung Direkter Körperkontakt

Der Tastsinn als erstes Sinnessystem in der menschlichen Ontogenese

Ein kleines Mädchen küsst den Bauch seiner schwangeren Mutter
Svenja Behnisch, pixabay.com

Das Institut für Angewandte Forschung (IFAF) Berlin förderte im Jahr 2020 die Ausstattung eines mobilen Haptiklabors. Unter Leitung von Prof. Dr. Claudia Winkelmann, ASH Berlin, wird damit zum Tastsinnessystem geforscht. Gemeinsam mit dem Forschungsteam des Haptik Forschungslabors an der Universität Leipzig entsteht aktuell das erste Lehrbuch zur Haptik in den Bereichen Physiotherapie, Ergotherapie, Gesundheits- und Krankenpflege, Hebammenwesen und Geburtshilfe, Logopädie, Altenpflege, Podologie und Humanmedizin. Forschung und Lehre sollen so stärker verzahnt werden. Dies ist insofern bedeutsam, als die präventiven, heilenden, rehabilitativen, palliativen und pflegerischen Tätigkeiten im Rahmen der Versorgung der anvertrauten Klient_innen durch den direkten körperlichen Kontakt zum und mit Menschen gekennzeichnet sind. Trotz des medizinisch-technischen Fortschritts und des teilweisen Einsatzes von roboterassistierten Technologien sind körperliche Kontakte zum Menschen elementare Bestandteile der verschiedenen Heil- und Pflegetätigkeiten. Der Kontakt kann unterschiedlich intensiv und häufig sein. Er reicht von Frühgeborenen bis hin zu Hochbetagten und jeweils darüber hinaus. Je nach Setting verfolgt der direkte Körperkontakt keine gesundheitsversorgende Intention, sondern ist Ausdruck eines tiefen Bedürfnisses von Anteilnahme und Zeichen von Mitmenschlichkeit.

Das größte System des Menschen

Das Tastsinnessystem ist für die biologische Verwertung von Berührungen verantwortlich und im Vergleich zu anderen Sinnessystemen, z. B. visuelles oder akustisches, extrem komplex und das größte des Menschen. In den letzten 30 Jahren wächst die fachwissenschaftliche Bedeutung und Aufmerksamkeit für dieses Sinnessystem. Erkennbar ist dies an der Zunahme grundlagenwissenschaftlicher Erkenntnisse sowie konkreter und klinisch relevanter Anwendungsbefunde.

Überall im Körper und in unterschiedlicher Konzentrationsdichte befinden sich Rezeptoren des haptischen Systems, um den Organismus zu informieren über:

  • Eigenschaften der physikalisch-chemischen Außenwelt (Exterozeption),
  • des eigenen Organismus (Interozeption) sowie
  • zu Lage, Haltung und Bewegungen des Körpers im Raum (Propriozeption).

Die Forschung setzt bereits vorgeburtlich an, um sensorische Fähigkeiten von menschlichen Embryos und Föten zu untersuchen. Vom Fötus spricht man je nach Klassifikationssystem ab der 8. bis 10. Schwangerschaftswoche (SSW) bis zur Geburt. Einige diesbezügliche Erkenntnisse der Haptikforschung stellt dieser Beitrag vor.

Bereits 6 Wochen nach der Befruchtung sind erste spontane Bewegungen beobachtbar (van Dongen & Goudie, 1980). Ab der 7. SSW erreichen feine Nervenfasern die Haut des Gesichts, der Schultern, Achseln und Oberschenkel (Bradley & Mistretta, 1975). Auf die taktile Stimulation der Lippen folgen unspezifische Bewegungen (Hepper, 2008; Hooker, 1942). Davon lässt sich ableiten, dass der Tastsinn das erste Sinnessystem in der menschlichen Ontogenese ist. Bis zur 14. SSW wird der Körper fast vollständig berührungssensibel. Es ist die Zeit, in der sich spezifische Rezeptoren entwickeln. Dabei handelt es sich um Mechanorezeptoren, die nach ihren Entdecker_innen Pacini-, Merkel- und Meissner-Körperchen heißen und bis zum 5. Schwangerschaftsmonat vollständig ausgebildet sind (Bradley & Mistretta, 1975). Im Innenohr entsteht das Gleichgewichtsorgan, das Lageveränderungen des Körpers ab der 24. SSW registriert (Hepper, 2008).

Am häufigsten berührt sich der Fötus am Kopf

Zunächst sind die zu beobachtenden Bewegungen noch unkoordiniert, zuckend und den gesamten Körper betreffend. Allerdings gibt es ab der 9. SSW isolierte Arm- und ab der 10. SSW isolierte Beinbewegungen (de Vries et al., 1985). Jetzt beginnt der Fötus aktiv, sich selbst und seine Umgebung zu berühren sowie mit Saugbewegungen am Daumen (Reissland et al., 2014, 2015; Zoia et al., 2007), das heißt, es finden sensorische Integrationsprozesse von haptischen und propriozeptiven Reizen statt. Am häufigsten berührt sich der Fötus am Kopf, insbesondere im Gesicht. Die Forschungsteams gehen davon aus, dass diese wiederholte und gleichzeitige Reizung von Hand und Gesicht wahrscheinlich die Ursache für die enge neuronale Verknüpfung dieser beiden Körperregionen ist. In jedem Fall werden durch das Ertasten des eigenen Körpers Tastsinneseindrücke an dem Körperteil, der die Berührung ausführt, und an dem Körperteil, der berührt wird, gesammelt und so die Unterscheidung von eigenem Körper und Umgebung gefördert. Dies wiederum ist schließlich die Grundlage für die Entwicklung eines Selbstkonzeptes.

Die Lanugohaare wirken wie Antennen und Verstärker

Zwischen der 13. und 17. SSW entsteht am ganzen Körper außer an Handinnenflächen und Fußsohlen die Lanugobehaarung. Dabei handelt es sich um 5–7mm lange Härchen, was im Verhältnis zur Körpergröße des Fötus von etwa 10 cm beachtlich ist. Jedes Lanugohaar ist von Haarfollikel- und Hautsensoren umgeben, sodass kleinste Bewegungen eines Haares registriert werden. Alle Bewegungen der Mutter (m, w, d) oder des Fötus (dazu zählen auch der Herzschlag oder die Vibration der Stimme) setzen das Fruchtwasser und damit die Lanugohaare in Bewegung. Permanente Reize an der Körperoberfläche des Fötus werden über die Hautsensoren zum Gehirn geleitet. Die Lanugohaare wirken wie Antennen und Verstärker, ohne die der Fötus nur wenige sensorische Reize erfahren könnte (Grunwald, 2017). Einige Wissenschaftler_innen diskutieren, dass die vorgeburtliche Entwicklung direkt von der permanenten körperlichen Stimulation des Tastsinnessystems und der Lanugohärchen abhängig ist (Bystrova, 2009; Irmak et al., 2004). Sie vermuten, dass bereits in der Gebärmutter Berührungsreize und die Ausschüttung des Hormons Oxytocin aneinandergekoppelt sind. Impulssalven aus den Hautsensoren aktivieren die Hirnregionen (Hypothalamus, Insula), die auch nachgeburtlich und beim erwachsenen Menschen mit sozialen und emotionalen Bewertungsprozessen verbunden sind. Nachgewiesen ist, dass angenehme Körperberührungen beim erwachsenen Menschen zur Produktion von Oxytocin und zu einer emotionalen Bewertung dieser Berührungsreize durch die Aktivierung der Insula führen.

Speziell in den letzten SSW ist der Fötus permanent mit der weichen Wand der Gebärmutter in Berührung, die Umgebungstemperatur ist ideal an die Körpertemperatur des Fötus angepasst und durch die Bewegungen (auch Vibration durch Stimme) der Mutter (m, w, d) erfährt der Fötus, dass er nicht allein auf der Welt ist. Diese Erfahrung der körperlichen Nähe wird auch dann erlebt, wenn weitere Sinnessysteme fehlen (Grunwald, 2017). So entwickelt auch ein gehörloser oder blinder Fötus ein internes Konzept von Nähe. Die neuronale Spur der körperlichen Nähe zu etwas Anderem ist demnach eines der ersten Resultate der gegenständlichen Auseinandersetzung des fötalen Körpers mit seiner Umwelt (Grunwald, 2017). Diese körperlichen Erfahrungen werden wahrscheinlich über das Ausschütten von Oxytocin und das Aktivieren der Insula mit positiven Emotionen verknüpft. Ähnliche Verbindungen sind für die Reizung des Gleichgewichtsorgans bei ganzkörperlichen Bewegungen denkbar. Möglicherweise wirkt daher das Halten, Tragen und Schaukeln auf Säuglinge beruhigend (Cascio et al., 2019; Grunwald, 2017).

Das interne Nähekonzept umfasst elementare Umgebungsbedingungen, die als angenehm und positiv bewertet werden. Säuglinge können daher sofort nach der Geburt positiv auf großflächigen körperlichen Kontakt zu einem anderen Menschen reagieren.

 

Claudia Winkelmann ist Professorin für Betriebswirtschaft und Management im Gesundheits- und Sozialwesen.

 

Literatur (vollständige Liste bei der Verfasserin)

Bradley, R. M., & Mistretta, C. M. (1975). Fetal sensory receptors. Physiological Reviews, 55(3), 352–382. https://doi.org/10.1152/physrev.1975.55.3.352.

Bystrova, K. (2009). Novel mechanism of human fetal growth regulation: A potential role of lanugo, vernix caseosa and a second tactile system of unmyelinated low-threshold C-afferents. Medical Hypotheses, 72(2), 143–146. https://doi.org/10.1016/j.mehy.2008.09.033.

Cascio, C. J., Moore, D., & McGlone, F. (2019). Social touch and human development. Developmental Cognitive Neuroscience, 35, 5–11.

doi.org/10.1016/j.dcn.2018.04.009.

de Vries, J. I. P., Visser, G. H. A., & Prechtl, H. F. R. (1985). The emergence of fetal behaviour. II. Quantitative aspects. Early Human Development, 12(2), 99–120. https://doi.org/10.1016/0378-3782(85)90174-4.

 

alice
Dieser Artikel stammt aus dem Hochschulmagazin alice (Ausgabe 43/2022). Die pdf-Version des gesamten Heftes sowie das Archiv der vergangenen Ausgaben finden Sie auf dem Online-Auftritt des Magazins.