Dr. Khatuna Mstoiani, Sie haben an der Alice Salomon Hochschule Soziale Arbeit studiert und mit einem Master abgeschlossen. Was waren für Sie die Gründe, danach eine Doktorarbeit zu schreiben?
Ich beantworte diese Frage mit einem schönen Spruch von Albert Einstein, der ebenfalls meinen Wunsch zu promovieren zum Ausdruck bringt: „Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig.“
Wie lange haben Sie dafür ungefähr gebraucht?
Angefangen habe ich die Promotion im Juni 2018 und die Disputation hatte ich am 11. Oktober 2022.
Es geht bei Ihrer Arbeit um den Bildungsweg russischsprachiger Jüdinnen und Juden, deren Eltern in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts nach Deutschland eingewandert sind. Was sind für Sie persönlich die wichtigsten Erkenntnisse dieser Studie?
Der Bildungserfolg der jungen russischsprachigen Jüdinnen und Juden ist als ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren zu sehen. Einer davon sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die den jungen Menschen Möglichkeiten geschaffen haben, innerhalb derer sie sich bewegen konnten. Die günstigen familialen Ressourcen der Eltern und das Umfeld, in dem sie sozialisiert wurden, trugen ebenfalls zum Erfolg auf dem Bildungsweg bei.
Ein weiteres Ergebnis der Forschung hat gezeigt, dass die Biografinnen und Biografen in die säkulare Gesellschaft gehen müssen, um ihren Bildungsweg erfolgreich zu gestalten. Dort erfahren sie einen überaus starken Antisemitismus und sind diesem schutzlos ausgeliefert.
Ferner konnte durch die Fallrekonstruktion der empirischen Daten gezeigt werden, dass heterogene Bildungswege für junge russischsprachige Jüdinnen und Juden existieren, um an ihr Bildungsziel zu kommen.
Dabei spielen ihre Eltern eine signifikante Rolle, da sie eine bestimmte Vorstellung für den Bildungsweg ihrer Kinder haben. Mit diesen Vorstellungen ist die Empfehlung für gewisse Berufe verbunden, die den Bildungsweg der Biograf_innen bestimmen soll. Darüber hinaus stellen die Eltern ihren Kindern alle ihre Ressourcen, sei es ökonomischer, sozialer oder kultureller Art, zur Verfügung.
Sie geben ihren Kindern einen Bildungsauftrag, um in der deutschen Gesellschaft einen Aufstieg zu finden. Die Kinder ihrerseits nehmen diesen Auftrag, allerdings mit minimalen Modifikationen, an. Sie wirken in ihrem Bildungsverlauf als aktive Gestalter_innen ihrer Biografie.
„Diese Worte sollst du deinen Kindern einschärfen“ ist ein Zitat aus dem 5. Buch Mose. Wie kamen Sie genau auf diesen Titel für Ihr Buch?
Das Thema Bildung blickt auf eine lange jüdische Tradition zurück.
Die Eltern sind verpflichtet, ihren Kindern die Worte der Thora weiterzugeben und sie zu lehren. Das Wort ‚einschärfen‘ kann auch als ‚wiederholt sagen‘ und ‚einprägen‘ übersetzt werden. Insbesondere Väter nahmen in der Erziehung ihrer Kinder eine signifikante Rolle ein. Anders als bei den Völkern ihrer Zeit war die Bildung nicht nur einer höheren Klasse vorbehalten. Der Zugang zur Bildung stand allen Gesellschaftsschichten und auch Frauen offen, was eine große Errungenschaft der damaligen Zeit bedeutete.
Die Eltern sollen in religiöser Hinsicht eine Vorbildfunktion für ihre Kinder spielen. Sie sollen diese Worte zunächst selbst verinnerlichen und dann an ihre Kinder weitergeben. Diese Aussage der Thora betrifft zwar die religiöse Bildung, doch sie lässt sich ebenfalls in andere Lebensbereiche der Kinder übertragen. Die Eltern sind Teil des Bildungswegs ihrer Kinder, indem sie ihnen einerseits als Vorbild dienen und sie andererseits auf dem Bildungsweg begleiten.
Ihr geistiges Potenzial schöpften sie seit über 3000 Jahren aus dem Buch der Thora. Genau da, wo diese Aussage steht: „Diese Worte sollst du deinen Kindern einschärfen“.
Sie kommen in ihrem Buch immer wieder auf Antisemitismus zu sprechen, dem die von Ihnen befragten Personen ausgesetzt waren. Wie haben diese Personen dies erlebt und wie sind sie damit umgegangen?
In der säkularen Gesellschaft erfahren sie einen sehr starken Antisemitismus und sind diesem schutzlos ausgeliefert. Bei allen Interviewten wurde diese Erfahrung in der Schule gemacht, an einem Ort, an dem sie Schutz erfahren sollten. Diesen Anfeindungen begegneten sie auf unterschiedliche Weise und sie entwickelten verschiedene Handlungsstrategien. Einige Biograf_innen setzen sich auf der intellektuellen Ebene bewusst damit auseinander, andere wiederum versuchen, nicht hinzuschauen und es zu ignorieren.
Sie sind in einer yezidischen Familie in Georgien geboren und aufgewachsen und christlich getauft. Sie haben mit hoher Wahrscheinlichkeit im Laufe ihrer eigenen Migration mit etlichen Stereotypisierungen zu tun gehabt. Welche haben Sie auf ihrem Bildungsweg in Deutschland erlebt?
Ich kann mich an meine allererste Schule in Deutschland zurückerinnern. Wir haben eine Klassenarbeit geschrieben, und ich konnte leider eine Aufgabe nicht wirklich lösen, weil ich die Bedeutung eines Wortes nicht verstanden hatte. Auf meine Nachfragen, um mir das Wort zu erklären, äußerte sich die Lehrerin, wenn ich kein Deutsch kann, soll ich doch zu Hause bleiben. Diesen Satz habe ich nach 20 Jahren immer noch nicht vergessen.
Wenn ich alle meine Begegnungen, die ich in fast 21 Jahren meines Aufenthalts in Deutschland gemacht habe, erzähle, werden die Seiten des Magazins nicht ausreichen …
Was würden Sie rückblickend sagen, war für Sie die größte Unterstützung bei der Doktorarbeit?
Eine sehr wichtige Unterstützung für diese Arbeit war die Finanzierung, die mir durch ein Saxony5-Transferstipendium ermöglicht wurde. Die geistige Unterstützung und Motivation schöpfte ich ebenfalls aus der Thora.
Wir danken Ihnen für Ihre Zeit und Ihre Antworten.
Das Interview führte Holger Braun.
Das Buch „Diese Worte sollst du deinen Kindern einschärfen“: Biographische Perspektiven und Erfahrungen auf dem Bildungsweg junger russischsprachiger Jüdinnen und Juden in Deutschland von Khatuna Mstoiani ist online unter https://www.epubli.com/shop/diese-worte-sollst-du-deinen-kindern-einschaerfen-9783757511241 käuflich zu erwerben.
Die Alice Salomon Hochschule unterstützt Promovierende und Promotionsinteressierte auf ihrem Weg zum/zur Forscher_in, immer in enger Kooperation mit den zuständigen Stellen der Antidiskriminierung und Gender-Gleichstellung sowie der familiengerechten, gesundheitsfördernden und weltoffenen Hochschule.
Sollten Sie an der Alice Salomon Hochschule von Diskriminierungen betroffen sein, wenden Sie bitte an die Antidiskriminierungsberater_innen: https://www.ash-berlin.eu/studium/beratung-unterstuetzung/hilfe-bei-diskriminierung